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Schlüsselfrage 4 – Kieferorthopädische Früh- vs. Regel-/Spätbehandlung

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7 Kieferorthopädische Therapie von Klasse-III-Anomalien

7.3 Schlüsselfrage 4 – Kieferorthopädische Früh- vs. Regel-/Spätbehandlung

Empfehlung 16: Idealer Behandlungszeitpunkt der Klasse-III-Anomalie Die Therapie einer skelettalen bzw. dentalen Klasse-III-Anomalie sollte frühzeitig, zum Beispiel in der frühen Wechselgebissphase, begonnen werden. Zudem gibt es Hinweise, dass bei einer Klasse-III-Anomalie eine frühe Behandlung die Notwendigkeit eines operativen Eingriffs zur Korrektur der Anomalie reduziert.

Abstimmung: 19/0/0 (ja, nein, Enthaltung)

starker Konsens B

Literatur: (Baccetti et al. 2000a; Baccetti und Tollaro 1998; Baccetti et al. 1998; Franchi et al. 2004, 1998; Mandall et al. 2016; Toffol et al. 2008; Tränkmann et al. 2001; Wendl et al. 2017; Yavuz et al.

2009)

Evidenzgrad: 1+

Einführung Der ideale Behandlungszeitpunkt wird bei Klasse-III-Anomalien kontrovers diskutiert, vor allem bezüglich der Effizienz, der Belastung und dem Behandlungsaufwand einer Früh-, Regel- bzw.

Spätbehandlung im Vergleich. Der Behandlungsbeginn kann prinzipiell entweder im Milch- bzw. frühen Wechselgebiss (Frühbehandlung), im späten Wechselgebiss (Regelbehandlung) oder erst mit der permanenten Dentition (Spätbehandlung) stattfinden. Der frühe Therapiebeginn im Milch-/ frühen Wechselgebiss kann dabei als alleinige Therapie oder als Teil einer zweiphasigen Therapiestrategie erfolgen, während bei einem regulären bzw. späten Therapiebeginn eine Einphasentherapie die Regel ist. Überwiegend empfehlen Autoren, eine kieferorthopädische Therapie in Form einer maxillären Protraktion bei Klasse-III-Patienten im frühen Wechselgebiss, d.h. in der Regel vor dem achten Lebensjahr, zu beginnen. Die Evidenz hierfür kommt v.a. aus zahlreichen sorgfältig geplanten Kohortenstudien, welche direkte Vergleiche eines frühen bzw. späten Behandlungsbeginns jeweils im Vergleich zu korrespondierenden Kontrollgruppen durchgeführt haben.

Studientypen Für die Fragestellung, ob ein frühzeitiger kieferorthopädischer Therapiebeginn bei einer Klasse-III-Anomalie Vorteile gegenüber einem späteren Therapiebeginn hat bzw. haben kann, wurde ein systematisches Review, basierend auf einer randomisiert-kontrollierten Studie und 18 kontrollierten Kohortenstudien (Klasse III N=695, Kontrollgruppe N=603) (Qualität ++, LoE 2+) aufgefunden (Toffol et al. 2008). Darüber hinaus konnten eine randomisiert-kontrollierte klinische Studie (RCTs) (Qualität +, LoE 1+) (Mandall et al. 2016) und 8 Kohorten- bzw. Fall-Kontroll-Studien identifiziert werden (Qualität ++/+, LoE 2++/2+), welche entsprechend ausgewertet wurden.

Population In den verschiedenen Studien wurden Patienten mit Klasse-III-Anomalie (skelettal/dental) unterschiedlichen Schweregrades - Overjet < 0mm (Baccetti et al. 2000a; Baccetti et al. 1998; Franchi et al. 2004, 1998; Mandall et al. 2016; Wendl et al. 2017; Yavuz et al. 2009), ANB ≤ 0°, Wits-Appraisal

≤ -1mm (Wendl et al. 2017; Yavuz et al. 2009) - im Milch- bzw. frühen Wechselgebiss im Vergleich zu

Patienten im späten Wechselgebiss bzw. diese im Vergleich zu Patienten im permanenten Gebiss jeweils mit einer entsprechend indizierten kieferorthopädischen Therapieform behandelt.

Intervention Zu den untersuchten Therapieformen zählten eine Therapie mit einer orthopädischen Apparatur (Gesichtsmaske, Kopf-Kinn-Kappe, Fränkel-III-Apparatur) (Toffol et al. 2008), herausnehmbaren Apparaturen (Tränkmann et al. 2001), einer Therapie mit einer maxillären Protraktion mittels Gesichtsmaske ohne (Yavuz et al. 2009) und mit gleichzeitiger maxillärer Expansion mittels forcierter Gaumennahterweiterung (Baccetti et al. 2000a; Baccetti et al. 1998; Franchi et al.

2004, 1998; Mandall et al. 2016) sowie eine Therapie mit einem herausnehmbaren mandibulären Retraktor (RMR) (Baccetti und Tollaro 1998) bzw. einer Kopf-Kinn-Kappe (Wendl et al. 2017).

Outcomes Die skelettale Lagebeziehung von Oberkiefer und Unterkiefer wurde in den meisten Studien mittels kephalometrischer Messungen im Fernröntgenseitenbild (FRS) bestimmt, wobei für den Oberkiefer meist der SNA-Winkel und die vordere Oberkiefergrenze (Co-A- und Nperp-A-Abstände) und für den Unterkiefer der SNB-Winkel bzw. die Unterkieferlänge (Co-Gn bzw. Co-Pog) als Zielparameter gewählt wurden sowie für die Kieferlagebeziehung der ANB-Winkel nach Riedel und das Wits-Appraisal. Dentoalveoläre Parameter zur Bestimmung der Zahnstellung, Zahnbogenform bzw.

der kaufunktionellen Okklusion waren u.a. eine sagittale Klasse-III-Okklusion im Seitenzahngebiet (¼-1 Prämolarenbreiten) sowie der Overjet im Frontzahnbereich. Zur Beurteilung der dentofazialen Ästhetik des Weichteilprofils wurde in den meisten Studien Fotos verwendet, die das Profil des Patienten zeigen und anhand einer Likhert-Skala als angemessen oder unzureichend bewertet wurden, oder es wurde eine metrische Analyse des Weichteilprofils durchgeführt (Lippenprofil, Gesichtskonvexität etc.).

Bewertung Eine kieferorthopädische Therapie im Milchgebiss scheint bei Patienten mit Klasse III zu größeren skelettalen Veränderungen zu führen als im Wechselgebissstadium (Toffol et al. 2008). In der Studie von Tränkmann et al. (2001) wurde ein Behandlungsbeginn im Alter von 5,3 Jahren mit dem im Alter von 8,0 Jahren verglichen. Die Behandlungsdauer im Milchgebiss (5,4 ± 2,1 Monate) war signifikant kürzer als bei Behandlungsbeginn im frühen Wechselgebiss (21,1 ± 9,7 Monate).

Fernröntgenseitenbilder zeigten bei Therapiebeginn im Milchgebiss eine signifikante Reduktion des Gonionwinkels. Außerdem wurden die Schneidezähne des Ober- und Unterkiefers signifikant protrudiert. Insgesamt ergab die Frühbehandlung im Milchgebiss bessere dentoalveoläre Behandlungsergebnisse bei besserer Mitarbeit des Patienten und kleinerem apparativen Aufwand (Tränkmann et al. 2001). Wenn die Therapie im frühen Wechselgebiss beginnt, scheint sie günstigere skelettale Veränderungen im kraniofazialen System hervorzurufen, verglichen mit der gleichen Behandlung, die im späten Wechselgebiss begonnen wurde (Toffol et al. 2008; Tränkmann et al. 2001).

Diese Ergebnisse werden von Baccetti et al. (2000a; 1998) und Franchi et al. (2004, 1998) bestätigt. Die Behandlung im frühen Wechselgebiss induzierte günstigere kraniofaziale skelettale Veränderungen im Vergleich zu einer ähnlichen Behandlung im späten Wechselgebiss. Insbesondere eine effektive Vorwärtsverlagerung des Oberkiefers wurde als Ergebnis der frühen Behandlung erreicht, während die Gruppe der späten Behandlung keine signifikante Verbesserung des Oberkieferwachstums in Bezug auf korrespondierende unbehandelte Kontrollen bewirkte (Baccetti et al. 2000a; Baccetti et al. 1998).

Obwohl sowohl frühe als auch späte Gesichtsmaskenbehandlungen die Protrusion des Unterkiefers verringerten, wurden nur in der frühen Behandlungsgruppe eine signifikant kleinere Zunahme der Unterkiefergesamtlänge registriert, die mit einer stärkeren Aufwärts- und Vorwärtsrichtung des Kondylenwachstums verbunden war (Baccetti et al. 2000a; Baccetti et al. 1998). Die Behandlung einer Anomalie der Klasse III im Milchgebiss kann aufgrund einer nach oben-vorne gerichteten Richtung des

Kondylenwachstums zu einer signifikanteren anterioren morphogenetischen Rotation des Unterkiefers führen, was zu einer verringerten Protrusion des Unterkiefers und einer verringerten Gesamtlänge führt (Baccetti und Tollaro 1998). Die Therapie ist also am effektivsten, wenn sie in einer frühen Entwicklungsphase des Gebisses beginnt und nicht in späteren Stadien in Bezug auf unbehandelte Kontrollgruppen der Klasse III (Franchi et al. 2004). Eine frühe Behandlung führt zu signifikant günstigeren postpubertären Veränderungen sowohl im Oberkiefer als auch Unterkiefer, während eine späte Behandlung nur eine signifikante Einschränkung des Unterkieferwachstums hervorruft (Franchi et al. 2004). Wie Langzeitergebnisse von Wendl et al. (2017) bei früh behandelten (jünger als 9 Jahre) und spät behandelten Patienten (älter als 9 Jahre, aber vor dem pubertären Wachstumsschub) zeigen, ist die skelettale Diskrepanz zwischen Ober- und Unterkiefer in der Spätbehandlungsgruppe auch 25 Jahre nach Therapieende stärker ausgeprägt. Insgesamt bewirkte die Frühbehandlung daher größere skelettale Veränderungen, vor allem in Bezug auf die Unterkieferlänge, Ramushöhe und die Wachstumsrichtung (Gonionwinkel), bei geringerer dentaler Kompensation.

Patienten, die im späten Wechselgebiss behandelt wurden, profitieren jedoch weiterhin von der Behandlung, allerdings in geringerem Maße (Franchi et al. 2004). Bei Patienten der Klasse III, die im späten Wechselgebiss behandelt wurden, wird eine Rückwärtsrotation des Unterkiefers beobachtet, die mit einer Zunahme der unteren vorderen Gesichtshöhe verbunden ist (Baccetti et al. 2000a). Die durch die Behandlung induzierte dento-alveoläre Protrusion des Oberkiefers ist bei Patienten, die in einem späteren Alter behandelt werden, größer, wohingegen skelettale Veränderungen bei Kindern, die im Milchgebiss behandelt wurden, signifikant ausgeprägter waren (Baccetti und Tollaro 1998). In einer Untersuchung ausschließlich an Mädchen im Alter von 11,8 bzw. 14,0 Jahren konnten in beiden Altersgruppen gute therapeutische Ergebnisse mit erfolgreicher Korrektur der Klasse-III-Anomalie erzielt werden, wobei eine Behandlung mit Gesichtsmaske bei Heranwachsenden effektiver als bei den jungen Erwachsenen sein kann (Yavuz et al. 2009).

Eine frühe Protraktions-Gesichtsmaskenbehandlung konnte den Bedarf an orthognathen Operationen erfolgreich reduzieren (Mandall et al. 2016). In der Kontrollgruppe wurde angenommen, dass 21 (66%) eine orthognathe Operation benötigen, verglichen mit nur 12 (36%) der Patienten in der Therapiegruppe (P = 0,026). Der prozentuale Unterschied zwischen den Gruppen betrug 30% (95% KI:

6% bis 53%). Dies kann als nicht-angepasstes relatives Odds-Ratio von 3,34 (95% KI: 1,21–9,24) ausgedrückt werden. Es bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Operation zu benötigen, ca. 3,34 Mal höher ist, wenn keine maxilläre Protaktion durchgeführt wird. Im Panel-Konsensusverfahren wurden Vorkehrungen getroffen, um Verzerrungen zu minimieren. Das Panel bestand aus sieben kieferorthopädischen und chirurgischen Experten. Die verwendeten Aufzeichnungen (extraorale und intraorale Fotografien, klinische Overjet-Messungen und kephalometrische Variablen) waren verblindet, sodass den Panelmitgliedern nicht bekannt war, ob der Patient zur Behandlungsgruppe oder zur Kontrollgruppe gehörte. Die Grundlage für die Einschätzung zur Wertigkeit einer maxillären Protraktion zur Reduktion des OP-Bedarfs bei Klasse-III-Patientinnen und Patienten basiert auf nur einer randomisierten klinischen Studie, wobei aufgrund der Qualität dieser Studie diese jedoch verallgemeinert werden kann, da die Daten in der "realen" klinischen Umgebung an mehreren Standorten gesammelt wurden. Das beschriebene Protokoll kann in Kliniken und Praxen durchgeführt werden. Bei den Patienten, die an der Studie teilnahmen, kann davon ausgegangen werden, dass sie ein Ansprechen auf die Behandlung zeigten, das in einer breiteren Bevölkerung (im Alter von bis zu 10 Jahren) reproduziert werden kann.

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