• Keine Ergebnisse gefunden

6. Textanalysen

6.2 Zur Künstlerproblematik in Schwere Stunde

6.2.2 Schiller und Thomas Mann im Licht der Antike

Die Hemmung ist des Willens bester Freund. – Den Helden grüß’ ich, der Friedrich Schiller heißt.

Thomas Mann.140

In Thomas Manns Künstlererzählung wird das Bild Schillers als menschliches Ge-nie, als Genie in seiner Menschlichkeit (plastisch) und anschaulich geschildert, so-dass seine Ausstrahlung bis in die moderne literarische Praxis Thomas Manns hin-ein sichtbar wird. Davon ausgehend möchte ich hier die Beziehung zwischen Schil-ler und Thomas Mann erläutern, vor allem die bis zur Ich-Verschmelzung gehende Identifikation im Blick auf die ihre dichterische und schriftstellerische Existenz be-gründende ideale Sphäre. Entweder wird das Existenzielle des Ich in der Spannung aufs Spiel gesetzt, woraus die Autonomie des Künstlerischen in der Moderne folgt, oder das Geniale übertrifft diese, und zwar auf Kosten der Akzeptanz und Liebe.

Die Heldentat, diese „kleine Wohltat“,141 die sich der namentlich nie genannte Dichter wünscht, ist vollzogen nicht nur durch Herausstellung des Ästhetischen als eines Ideals, sondern zeigt sich eher in der anschaulich-exemplarischen Umkehrung des „Helden“ namens Schiller in die leidende und genial begeisterte Gestalt, wie die vom Verfasser sorgfältig erarbeiteten Studien und Recherchen sie zeigen.142 Wenn Zeller schreibt, Schiller sei für Thomas Manns der Inbegriff des heroischen (oder heroisch-erhabenen) Menschen gewesen,143 dann belegt diese Erzählung, dass sich der moderne Schriftsteller im zeitlich und räumlich großen Abstand zu jenem genia-len Klassizisten der Weimarer Epoche bewegt. Und wenn Thomas Mann schreibt, er sei dessen Student gewesen,144 dann können daraus mehrere Schlüsse gezogen wer-den: einmal dass er sich nicht an das Kunstverständnis seiner Zeitgenossen hielt, sondern an den menschlich-genialen Maßstab, der über den Horizont des Genies hinaus bis in die antike Kunst zurückreicht.145

140 Mann 2002, S. 83

141 Mann 1975, S. 364.

142 Vgl. Reed 2004, S. 289 f.

143 Zeller 1975, S. 36.

144 Vgl. ebd.

145 Marbacher Schillerbuch, S. 6.

Der „Held“, als der Schiller im eingangs zitierten Zweizeiler für die Zeitung Die Zeit gerühmt wird,146 fordert konsequenterweise die assoziativ-imaginäre Umwand-lung des im griechisch-antiken Erbe und in der Helden-Gestalt des Herkules verkör-perten Bildes ins Menschlich-Erhabene; Schiller erscheint in einer Art Doppelbe-trachtung als Genie, dessen Größe im Geiste der Poesie in den Göttergestalten des in Griechenland offenbarten Heldentums wurzelt,147 und als leidender Mensch.

Wenn der moderne Dichter, so kommentiert Reed, sich ins künstlerische Bewusst-sein und in die Persönlichkeit Schillers hineinversetzen könnte, hieße das, dass er darin einen lehrreichen Standpunkt als Schriftsteller finden könnte und dass seine Schiller-Rezeption seit der Jugend künstlerisch nicht umsonst gewesen wäre. Sein schriftstellerisches Vermögen, das er sich mehr oder weniger mit jener Rezeption angeeignet hatte, vergleichbar den (allerdings unerfüllt bleibenden) Wunschträumen des kleinen Herrn Friedemann, ermöglicht ihm, diesen Text zu gestalten, nachdem er womöglich bereits in Tonio Kröger 1903 eine stilistische Schiller-Rezeption praktiziert hatte.

Gemeint sind damit seine aus Schillers ästhetischen Schriften erworbenen und fortgeführten Begriffe ‚naiv’ und ‚sentimentalisch’, die wiederum in Der Tod in Ve-nedig von großer Bedeutung sind.148 Wenn sich der Verfasser der Erzählung hier eine eigene literarische Sphäre erschafft, wie er sie in Der kleine Herr Friedemann geschildert hat,149 also einen unberührten und literaturfrommen Schutzort, dann zei-gen sich beide Erzählunzei-gen als zweierlei Maskierunzei-gen Thomas Manns selbst.150 Die erste richtet ihren biographisch-psychologischen Blick auf die literarische und private Lebenssphäre Thomas Manns, der unter seiner Außenseiterposition leidet, sowie auf die praktische Wirkung literarischer Kontemplation. Dieses literarische Phänomen, in dem der Autor sein „abenteuerliches“ Leben imaginär auslebt oder kompensiert, und das wohl den Scheideweg des beschriebenen Lebens legitimiert, bringt ihn im Anschluss an diese Schiller-Erzählung über die bürgerliche Existenz hinaus auf die literarische Laufbahn. Diesen Vorgang kommentiert Reed als den ei-gentlichen „schöpferischen Durchbruch“.151

146 Vgl. Zeller 1975, S. 36.

147 Vgl. Marbacher Schillerbuch 1975, S. 9.

148 Nach Reed 2004, S. 291 f.

149 Vgl. hier das Kapitel dazu.

150 Vgl. Reed 2004, S. 292.

151 Reed 2004, S. 45.

Wenn mit dem Tonio Kröger das problematische Außenseitertum und das Verhält-nis von „Kunst und Leben“ vollends ins Zentrum des Frühwerks rücken, dann er-scheint Tonio Kröger wie eine Variante, eine fortgesetzte Figur Friedemanns, in des-sen Darstellung die Entfaltung dieses Gegensatzpaares wurzelt. Gemindert wird die Spannung nur, wenn sich Thomas Mann durch den Mund Tonios voller Pathos über das zweideutige „Glück“ äußert, dass es ein „Dienst“ ist,152 den er mit der Erarbei-tung von Schwere Stunde leistete.153

Die Erzählung lässt sich demnach lesen als eine zweite Maskierung von Thomas Manns „abenteuerlichem“ (vielleicht homosexuellen) Leben, das er in den pubertie-renden literarischen Figuren erzählt und psychologisiert hat – so wenn Tonio Krö-ger sich sowohl in Hansen und Inge verliebt, dennoch mit keinem zusammen kommt und stattdessen seinen literarischen „Irrweg“ einschlägt (so Tonio).

Das bereits im Friedemann-Kapitel erwähnte, dort psychologisch-implizit ge-handhabte Paradox von der „Frau“ als begehrtem Objekt und Feindin scheint in der Schiller-Erzählung endgültig hinsichtlich eines „Eheglücks“ gelöst worden zu sein, das deutlich an Thomas Manns eigene Eheschließung erinnert.154 Mit diesem Pro-blem hätte sich der Dichter am Weimarer Hof ebenfalls konfrontieren müssen, wenn Thomas Mann es in der Erzählung in Betracht gezogen hätte. Was hätte in der je-weiligen Zu- oder Abwendung des Verfassers von Schwere Stunde und des Autors von Wallenstein von dieser „Frau“ als „Feind“ ein überbegrifflich-künstlerisch asso-ziativ eingestelltes Leben ausmachen können? Ist dies alles nicht in die auf den Dichter lebenspraktisch wirkende Offenbarung jener griechischen bildenden Kunst verschmolzen, etwa der Statue des Herkules, der u. a. mit Hebe verheiratet war und zahlreiche Kinder hatte, die Schiller in Mannheim empfangen hatte? Mit Zellers Worten:

Der unausgeführte Plan einer Vermählung des Herkules und der Hebe hätte den Weg des Heros von irdischer Pein zu des Äthers leichten Lüsten ausführlicher und reicher dargestellt, in dem Schiller das Symbol seiner eigenen Lebensbahn sah.155

152 Vgl. ebd., S. 311.

153 Vgl. ebd., S. 289 ff.

154 Ebd., S. 311.

155 Zeller, Marbacher Schillerbuch, S. 9.

Ist es nicht das Menschlich-Geniale, das Schiller kraft seines genialen Vermögens aus jener griechischen Kunst praktisch-schöpferisch gewinnen konnte, das den jun-gen und vielleicht noch den alten Thomas Mann begeistert hat? Und wenn Tonio Kröger die „Wonnen des Gewöhnlichen“ begehrt, ist nicht vielleicht im Grunde dasselbe mit jenem „Nektar“ gemeint, dessen „Äther“ Friedemann unter der Gewalt des Dionysischen nicht bekommt (wie auch Aschenbach), weil er nur durch einen

„Dienst“ des versöhnlich integrierenden Lebens geerntet werden kann, das die ge-samte ethisch-ästhetische Sphäre des Ideals umschließt und das im Verhältnis zur

„Frau“ als „Feind“ konkret greifbar wird?156

Dies macht meines Erachtens die oben genannte Ich-Ideal-Sphäre in menschlicher wie in ästhetischer Hinsicht überhaupt erst aus; und wenn Schiller oder Thomas Mann vor ihrer „Schaffenskrise“ wirklich hätten bestehen sollen, dann hätte sie die-se Sphäre als groß auszeichnen müsdie-sen.

156 Vgl. ebd.