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6. Textanalysen

6.3 Zur Künstlerproblematik in Das Wunderkind

6.3.1 Der ‚übergeniale’ Zustand des Künstlers in Das Wunderkind

6.3.2.4 Der Künstler und sein Mäzen

So, mit seiner gut trainierten Gabe und Könnerschaft, in seinem künstlerischen Überlegenheitsgefühl, verachtet Bibi sogar das von einer Hofdame angespielte Angebot der Prinzessin, in Zukunft an ihrem Hof zu wirken. Das Motiv weist sicher in die Geschichte der großen Künstler mit ihren Mäzenen zurück. Bibis Popularität schafft eine neue Art von Unterschied zwischen ihm selbst und der Prinzessin.

Anstatt sich um sie zu gruppieren, kreist das Publikum um Bibi, als sei er der eigentliche Machthaber. Das wird in der Erzählung zwar nicht explizit gesagt, aber gezeigt: Bibis Spiel, und damit diese kleine Künstlerfigur selbst, zieht die Menschen exklusiv an, und gerade das wird in Thomas Manns Frühwerk bei aller Ironie gänzlich positiv dargestellt:

Die Leute […] applaudieren und drängen vorwärts, um Bibi aus der Nähe zu sehen. Einige wollen auch die Prinzessin sehen; es bilden sich vor dem Podium zwei dichte Kreise um das Wunderkind und um die Prinzessin, und man weiß nicht recht, wer von beiden eigentlich Cercle hält.265

Dies eben deutet Bibis künstlerische gegenüber der Macht der Prinzessin an. Ist er nicht – wie in Thomas Manns ebenfalls in dieser Zeit entworfenen zweitem Roman – einer Königlichen Hoheit gleich, die es nicht mehr mit einem ‚wahren Wesen’ zu tun hat, sondern ausschließlich mit dem spielerischen Schein des Lebendigen, mit reiner Repräsentation? Genau dieses Letztere würde das Erstere erst „hoffähig“

machen.266

Und wenn Bibi das angedeutete Angebot annähme, was dann der alternde Kritiker vielleicht wiederum durchschauen könnte, dann müsste er seine besondere Würde hüten, die Würde seiner künstlerischen Scharlatanerie. Zugleich müsste er seine Verachtung der Prinzessin gegenüber zurückhalten. Verhielte er sich zu ihrer Gönnerschaft, wie Goethe und Schiller sich zu ihren Mäzenen verhalten haben, dann wäre er kein moderner Artist an der Spitze des verfeinerten Geistes der Moderne mehr.

265 Mann 2004, S. 405.

266 Ebd.

Das musikalische Ergebnis von Bibis Kunst ist seine Popularität. Das Geheimnis seiner Wirkung beruht direkt auf seiner Berechnung des Erfolgs beim Publikum, weshalb ja auch die Klavierlehrerin ihn für „wenig unmittelbar“ hält.267 Die Wirkung seiner nur scheinbar naiven Art des Spiels entspringt seinen sentimentalischen Hintergedanken.

Wenn in einem Nebenmotiv auf das „Pythia“-Wesen des Künstlers angespielt wird, das auf diese Weise unauffällig mit mythologischer und religiöser Bedeutung assoziiert wird,268 dann zeigt sich Bibi Saccellaphylaccas eben nicht mehr als „eine Hüterin“ der Kunst im Sinne des Mythos.269 Er spielt mit seinem Publikum unter Ausnutzung seines rein artistischen Talents, er unterhält es, indem er scheinbar ganz unschuldig bei der Sache ist; und er wirkt doch nur in der übergenialen Sphäre der modernen Artistik, die jeden modernen Künstler ausmacht, auch den Autor von Künstlernovellen.

Die ironische Charakterisierung des „Wunderkindes“ als eines neuen

„Jesuskindes“ der Kunst bringt damit Thomas Manns ironische Kritik auch an sich selbst, an seinem eigenen Künstlertum zum Ausdruck. Diese Kritik schließt aber auch den kommerziellen Kauf eines Künstlers ein, der in der Gestalt des geschäftstüchtigen Impresario zur Erscheinung kommt. Schon der seinen Erfolg berechende Bibi selbst ist so zu verstehen. In diesem Konzertsaal wird nicht mehr die Musik als reine Kunst gehört, sondern hier vollzieht sich vielmehr die Show eines künstlerisch eigentlich ‚kleinen’ Musikers.

Während die „Leutehirne“ in der Erzählung betört sind durch Bibis artistische Spielerei mit Musikstücken Chopins, bewundert der Autor selbst Bibis Gefasstheit im Umgang mit seinem musikalischen Können, seine gespielte Naivität dem Publikum gegenüber. Gerade das Artistische erscheint ihm als das Vitale in Bibi, als ein in den wieder kindlich gewordenen, übergenialen Geisteszustand umgekippten höchst verfeinerten Geist, als verkehrte Wiederkehr jener leidenden und verzweifelnden Genies – und insofern doch eines wahren Jesuskindes der künstlerischen Moderne mit einer besonderen musikalischen Gabe.

So erscheint Bibis artistische Sphäre als der anzustrebende Zustand eines künstlerischen Produktionsprozesses, der die anderen Künstlerfiguren, eine ironisch gezeichnete Bohème-Künstlerin und einen ebenso karikaturhaft dargestellten

267 Ebd., S. 403.

268 Vgl. Mann 2004, S. 406.

269 Reed 2004, S. 277.

künstlerischen Jüngling begeistert; deshalb denken sie, dass Bibi „liebenswürdig“

und „verehrungswürdig“ ist,270 so dass er ihnen als Maßstab, als vitale Synthese vorkommt.

Als Konsequenz kann diese Künstlerin schließlich nur gestehen, was sie aus dem

‚Wesen’ Bibis heraus gelernt hat – und was meinen Begriff einer ‚übergenialen’

Sphäre bestätigt:

„Ein Kind!“ denkt das unfrisierte Mädchen […]. Und mit lauter, eintöniger Stimme sagt sie: „Wir sind alle Wunderkinder, wir Schaffenden.“

„Nun!“ denkt der alte Herr […], „was ist denn das! Eine Art Pythia, wie mir scheint.

Aber der düstere Jüngling, der sie aufs Wort versteht, nickt langsam.271

Dieses künstlerische Spiel ist eine mögliche Lösung des auf die Spitze getriebenen Genialen in einer komplexen modernen Kultur. Diese ‚übergeniale’ Geistessphäre artikuliert Thomas Manns ambivalente, immer mit Gewissensbissen verbundene Verehrung für Richard Wagners „abgefeimte“ Artistik und seine Größe, die Nietzsche als ein die Popularität berechnendes, maskiertes und vom psychologisch versierten Kritiker entlarvtes, aber eben auf seine neue Weise wieder ganz vitales Spiel eines sentimentalischen Musikers beschrieben hat, einer Künstlernatur mit einer – wenn man es pointiert sagen will – neuen Naivität.

Dies alles ist eingeschlossen in die Antwort des Wunderkindes, in sein „Oui, Madame“. Dabei stellt er selbst nicht mehr das eigentliche, künstlerische Genie dar, sondern vielmehr ein modernes Scheingenie, das als das ‚Übergeniale’ in einer plastischen Gestalt erscheint. Von diesem modernen Künstler wird jener alternde Kritiker unterschieden, der das Vitale dieses Spiels nicht erkennt und somit ausweglos gefangen bleibt in der sentimentalischen Sphäre eines Ideals, dessen Zeit doch längst vergangen ist.

270 Mann 2004, 406.

271 Ebd., S. 406.

Literaturverzeichnis