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S AMMLUNGEN LEBENSECHTER W ACHSFIGUREN

Im Dokument Taken from life (Seite 25-29)

I. UNBÄNDIGE FORM – WACHSFIGURENKABINETTE ALS FORSCHUNGSTHEMA

2. S AMMLUNGEN LEBENSECHTER W ACHSFIGUREN

a) Sammlungsprofile

Mit vollmundigen Ankündigungen wie „die einzige großartige Sammlung echter Wachsfiguren auf der Welt“ und „Jarleys unübertroffene Sammlung“ pries Dickens’

Schaustellerin ihre Arbeit der Bevölkerung an.36 Der Charakter ihrer „unübertroffenen Sammlung“ ist allerdings grundsätzlich von der „unübertroffenen Ausstellung“ der Madame Tussaud verschieden: Während Mrs. Jarley neben einigen historischen Charakteren vor allem die Figuren „interessanter, aber fehlgeleiteter Individuen“

präsentiert, wie zum Beispiel „den Großen Mann, den Kleinen Mann, die alte Dame, die starb, weil sie mit hundert und zweiunddreißig Jahren zu viel getanzt hatte,“ und „die Frau, die vierzehn Familien mit eingelegten Walnüssen vergiftet hat“,37 wandte sich Madame Tussaud fast ausschließlich mit Portraits von „bedeutenden“ Persönlichkeiten an ihr Publikum. Darstellungen legendarischer oder mißgebildeter Personen oder Personen mit ungewöhnlichen Begabungen gab es in ihrer Sammlung nicht.38 Daß es solche Unterschiede im Sammlungsprofil gab, ist bisher nicht beachtet worden; man unterscheidet lediglich Ausstellungen von anatomischen Wachsmodellen.39

Der Begriff „Wachsfigurenkabinett“, der in dieser Arbeit als Bezeichnung für fahrende oder stationäre Ausstellungen von lebensgroßen und täuschend echten Wachsfiguren

36 „The only stupendous collection of real wax-work in the world“, „Jarley’s unrivalled collection“, DICKENS 1998, S. 206. Auch Madame Tussaud nannte ihre Ausstellung „unrivalled exhibition“.

37 „(...) the tall man, the short man, the old lady who died of dancing at a hundred and thirty-two, (...) the woman who poisoned fourteen families with pickled walnuts, and other historical characters and interesting but misguided individuals“, DICKENS 1998, Kap. 28. Bei dem großen und dem kleinen Mann, denen im Text noch der dicke und der dünne Mann vorhergehen, waren wohl Männer gemeint, die wegen ihrer körperlichen Absonderlichkeit, auffällig großer oder kleiner Wuchs, besonders gigantisches oder geringes Körpervolumen, in der Öffentlichkeit als „freaks“ ausgestellt wurden, vgl. BOGDAN 1990, bes.

S. 147-233.

38 Die Ausnahmen, die diese Regel bestätigen, waren der Graf de Lorge, der 1789 angeblich aus der Bastille befreit wurde, dessen Existenz aber erfunden war, FOURNEL 1890, S. 131-136; BINDMAN 1989, S.

39-42 und S. 92; und der amerikanische Kleinwüchsige Charles Sherwood Stratton (1838-1883), alias Tom Thumb, der jedoch mehr respektabler Mann der Gesellschaft als Jahrmarktsattraktion war, ALTICK 1978, bes. S. 255-256; BOGDAN 1990, S. 48-61.

39 Eine der ersten Übersichten über anatomische Sammlungen GOLDSCHMID 1950. Seit der Restaurierung der Ausstellungssäle der Sammlung anatomischer Wachsmodelle im Florentiner naturkundlichen Museum „La Specola“ 1989 gerät gerade diese Sammlung immer mehr in das Blickfeld auch von kultur- und kunsthistorischen und literaturwissenschaftlichen Texten, z.B. JORDANOVA 1989b), BRONFEN 1992, bes. Kap. 6;KRÜGER-FÜRHOFF 2001. Wegen der häufigen Darstellung der weiblichen Anatomie sind viele dieser Texte unter feministischen Gesichtspunkten geschrieben. Allgemein zu Florenz:

CEROPLASTICA 1977; CERE ANATOMICHE 1979; ANATOMICAL WAXES 1995; ENCYCLOPAEDIA

ANATOMICA 1999; LA SPECOLA 2000. Über andere Sammlungen anatomischer Modelle: KLEINDIENST

1989und1990 (Bologna); LEMIRE 1990 (Paris); pathologische Modelle s. SCHNALKE 1995; MOULAGEN

steht, mußte bisher als „clearing-Stelle für Kuriositäten“ aller Art herhalten, als Metapher für Sammelsurien von Disparatem und Abseitigem.40 Selbst Beschreibungen aus historischem Interesse folgen meist der Vorstellung, die Wachsfigurenkabinette seien unorganisiert und folgten keinerlei Ordnung oder Programm. Das gerät schnell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Durch Gegenüberstellungen von möglichst unterschiedlichen Stücken werden die Sammlungen als groteske Sammelsurien charakterisiert, so daß eine mögliche Logik bei der Auswahl und Aufstellung schon durch die Art der Beschreibung verloren geht.

Tatsächlich veränderte und differenzierte sich die Ausstellungsgattung Wachsfigurenkabinett in den vierhundert Jahren ihrer Existenz erheblich. Bei dem Versuch, diese Wandlungen genauer zu beschreiben und zu charakterisieren, kamen überraschende, bisher übersehene Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Sammlungen zu Tage. Es traten drei Formen von Wachsfigurenausstellungen hervor, die mit verschiedenen Ansprüchen unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte setzten und unterschiedliche Präsentationsformen bevorzugten. Wie sich diese drei Ausprägungen voneinander unterscheiden, wird im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit beschrieben.

b) Literatur über Wachsportraits

Der Grundbaustein der Wachsfigurenkabinette, die einzelne Portraitskulptur als Büste oder ganze Figur aus Wachs, ist bereits recht gut erforscht. Eine erste Geschichte der Wachsskulptur und Zusammenschau der wichtigsten Wachsmodelleure und ihrer Werke allgemein veröffentlichte der französische Kunstschriftsteller Spire BLONDEL im Jahr 1882. Zwanzig Jahre später, 1902, beschrieb Aby WARBURG die wächsernen Votivskulpturen der Florentiner Kirche Santissima Annunziata als kulturelle Folie, vor der die erstaunlich naturalistischen Medici-Portraits Domenico Ghirlandaios gesehen werden müssen. Er fügt seinem Aufsatz einen Anhang mit Quellenmaterial zu den Votiven in der Annunziata bei. Diese Votive und andere lebensgroße naturalistische Wachsfiguren tauchen auch in dem Aufsatz über die „Geschichte der Porträtbildnerei in

UND MODELLE 1994; PY/VIDART 1986 (anatomische Kabinette auf Jahrmärkten).

40 Als allgemeines „clearing-house for curiosities“hat MariusKWINT 1994, S. 4, den Zirkus bezeichnet;

ähnliches gilt auch für den Begriff „Wachsfigurenkabinett“ und besonders für „Panoptikum“, s. auch BRÜCKNER 1966, S. 179, für Beispiele. Das oft synonym gebrauchte Wort „Panoptikum“ wird in dieser Arbeit nicht als allgemeine Bezeichnung für Wachsfigurenkabinette verwendet, da es erst Ende des 19.

Jahrhunderts auftaucht.

Wachs“ auf, den der Wiener Kunsthistoriker Julius von SCHLOSSER 1911 publizierte und der das noch heute gültige Standardwerk zur Wachsportraitplastik ist. Schlosser hat dabei vor allem den Materialaspekt im Auge, stellt aber auch die Wachsportraits mit lebensechten Portraitfiguren aus anderen Materialien in Zusammenhang. Er zeichnet den Weg der naturalistischen menschlichen Figur vom kultischen und höfischen Portrait bis zum Perückenkopf im Friseurgeschäft nach und erklärt diesen Verfall der Wertschätzung mit den veränderten Maßstäben der Ästhetik und Kunstkritik: So galten die haargenauen, täuschend echten Portraitfiguren dem Klassizismus nicht als Beweis höchster Kunstfertigkeit sondern als uninspirierte Kopien der Natur; der handwerklichen Geschicklichkeit schien die zur Kunst notwendige eigene Erfindung, die „inventio“, zu fehlen. Das eigene lebensechte Wachsportrait in Auftrag zu geben wurde demnach im Laufe des 19. Jahrhunderts immer unmoderner. Gleichzeitig tauchen aber immer mehr Wachsportraits von „Berühmtheiten“ in öffentlichen Ausstellungen auf. Da Schlosser die Wachsfigurenkabinette zum Betriebs- und Betrachtungsfeld der unteren sozialen Schichten zählt, vermutet er dort keine Werke, die „durch Technik und Ausführung völlig jenen Produkten der höfischen Kunst gleich“ seien könnten, wie er es den Wachsskulpturen aus dem „bürgerlichen Milieu“ noch zutraut. Man kann nur spekulieren, ob er je Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, das vollkommen im

„bürgerlichen Milieu“ verankert war, besucht hat. Im Auftreten der Wachsfigurenkabinette liegt für ihn vielmehr eine „entscheidende Peripetie im Leben dieses aristokratischen Kunstgebildes, von dem aus seine Demokratisierung und zugleich sein Niedergang begonnen hat“41, den er konsequenter Weise nicht behandelt.

Auch der Volkskundler Wolfgang BRÜCKNER bleibt in seiner ausführlichen Untersuchung der Funktion lebensechter menschlicher Figuren 1966 vor den ohne Auftraggeber und ohne zeremoniellen Anlaß für ein undifferenziertes Publikum produzierten Wachsfiguren stehen. Die letzte, 1990 erschienene Arbeit von Susann WALDMANN, die im wesentlichen Schlossers und Brückners Erkenntnisse zusammenfaßt, bricht ebenfalls mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ab und spart damit die Wachsfigurenkabinette aus. Räumte Brückner dem Wachsfigurenkabinett zwar Raum für einen kurzen Überblick ein, in dem er auch die Geschichte von Madame Tussaud kurz beschreibt, so interessiert ihn aber ihre eigentliche Glanzzeit in Großbritannien

41 SCHLOSSER 1993, S. 97 und S. 89.

kaum mehr in dem Maße, wie es ihre Pariser Jahre tun mußten, wo deutlich wurde, welche Rolle die Wachsplastik im öffentlichen Leben des ancien régime und der Revolution zu spielen hatte und wie sehr damals das Panoptikum eine durchaus gesellschaftliche und politische Einrichtung sein konnte.42

Die vorliegend Arbeit will dagegen zeigen, daß das Wachsfigurenkabinett mit der Revolution keineswegs aufhörte, eine gesellschaftlich und politisch bedeutende Rolle zu spielen, sondern daß sich diese Rolle nur änderte und sie weniger explizit und schwieriger zu bestimmen geworden ist. Außerdem soll der Sallon de Cire, der Pariser Vorgänger von Madame Tussaud’s, in der Zeit der Revolution genauer beschrieben werden, um seiner tatsächlichen Bedeutung näherzukommen.

c) Wachsfigurenkabinette in der Literatur

Zu kommerziellen Ausstellungen von Portraitfiguren in Wachs dagegen gibt es, außer etlichen fiktiven Kriminal- und Horrorgeschichten, die mehr oder weniger effektvoll in Wachsfigurenkabinetten spielen43, nur sehr wenig Literatur. Als erste beschreiben Hannes KÖNIG und Erich ORTENAU 1962 die Geschichte der Wachsfigur unter dem Blickwinkel der Zurschaustellung. Dies ist zwar kein wissenschaftlicher Text und die Fakten sind ungenau nachgewiesen, insgesamt ist das Bändchen jedoch zuverlässig recherchiert. Allerdings beharren König und Ortenau bei ihrer Darstellung der Panoptikumskultur auf einer Kontinuität der ursprünglichen Verwendung der Wachsfiguren im Funeralritus. Es heißt zum Beispiel: „[die Panoptikumsfigur] kann ihre Herkunft aus der Grabkammer nicht verleugnen, trifft sie sich doch immer noch in unterirdischen Grabgewölben mit Getöteten, Mördern und Henkern zu gruseligem Stelldichein.“44 Die Wachsfigurenkabinette erscheinen so als eine Art amüsierlicher Totentanz und bekommen unweigerlich ein groteskes Flair, was aber nur auf einen Teil, vor allem die Panoptiken Ende des 19. Jahrhunderts, zutrifft. Wichtige funktionelle Unterschiede zwischen den älteren Wachsfiguren in ihren unterschiedlichen Kontexten sowie zwischen den verschiedenen kommerziell betriebenen Figurenausstellungen werden nicht angesprochen.

42 BRÜCKNER 1966, S. 176.

43 S. besonders die Erzählung „Das Wachsfigurenkabinett“ von Gustav MEYRINK 1979; und die Romane von Edmond JALOUX 1936; Hans RABL 1939; Alexej KOROBIZIN 1966; dazu Filme wie WACHSFIGURENKABINETT 1923; MYSTERY 1933; HOUSE OF WAX 1953. S. auch MUNSKY 1985 und BLOOM 1995a) und b).

44 KÖNIG/ORTENAU 1962, S. 21.

Die wenigen wissenschaftlichen Texte, die kommerzielle Ausstellungen von Portraitfiguren in Wachs berühren, sind vor allem Datensammlungen. Für England sind die Kapitel „Waxwork and Clockwork“ und „The Waxen and the Fleshly“ in Richard ALTICKs Enzyklopädie der Schaustellerkunst „The Shows of London“ von 1978 am ausführlichsten. Daß sich mit Altick ein Literaturwissenschaftler mit dem Thema befaßte, ist kein Zufall, denn die Quellen für ein solches Unternehmen sind zum größten Teil Texte – Zeitungsanzeigen, Ankündigungszettel, Einträge in Tagebüchern und literarische, oft satirische Berichte –, und nicht immer sind diesen Texten Abbildungen beigegeben. Eine ähnliche, wenn auch wesentlich knappere Aufarbeitung der Situation in Deutschland findet man in Stephan OETTERMANNs Beitrag über die „Öffentlichen Lustbarkeiten im Ruhrgebiet um 1900“ von 1992. Edward GATACRE und Laura DRU

(1977) sowie Jean ADHÉMAR (1978) geben ebenfalls Überblicke über die wichtigsten Wachsportraitausstellungen, bevor sie sich ihren jeweiligen Schwerpunkten, Madame Tussaud’s und Curtius’ Pariser Sallon de Cire, zuwenden. Kürzere Arbeiten gibt es außerdem zu Ausstellungen in Berlin und Budapest.45 Aus diesen Texten geht hervor, daß es bis ins 20. Jahrhundert viele mehr oder weniger umfangreiche, reisende und stationäre Wachsfigurenausstellungen gegeben hat, von denen heute so gut wie keine Spuren mehr zu finden sind. Vor allem wird immer wieder deutlich, daß die Kunst des lebensechten Wachsportraits ursprünglich nicht etwa nur als posthume Abbildung im Funeralritus, sondern auch als Lebendportrait vor allem unter höfischer Protektion gedieh, woraus sich die meisten Wachsfigurenkabinette ableiten.

Im Dokument Taken from life (Seite 25-29)