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F IGURENGRUPPEN IM BAROCKEN W ACHSFIGURENKABINETT

Im Dokument Taken from life (Seite 166-199)

III. TYPOLOGIE DER WACHSFIGURENKABINETTE VOM 17. BIS 20. JAHRHUNDERT

1. F IGURENGRUPPEN IM BAROCKEN W ACHSFIGURENKABINETT

Auf einem Felsplateau über dem Städtchen Varallo in den piemontesischen Voralpen wird Christus der Menge vorgeführt: Blutüberströmt und gesenkten Hauptes steht er auf einem Balkon, ein Scherge fährt ihn wütend an und zerrt an dem Strick, den man ihm wie einem Hund um den Hals gelegt hat (Abb. 33). Vorn am Boden ermahnt ein Soldat zwei spielende Knaben zu größerer Aufmerksamkeit. Unter dem Balkon diskutieren Männer in phantastischen Kostümen, ein Alter in Pantoffeln hebt drohend die geballte Faust, während er sich mit der anderen Hand auf seinen Krückstock stützt (Abb. 34). Zu allen Seiten stehen Zuschauer, rechts stürzen aufgeregt gestikulierende Männer heran, hinter denen andere mit stummem Entsetzen auf die Szene schauen. Ein wimmelndes Ensemble aus bunt bemalten Tonfiguren, architektonischen Kulissen und illusionistischen Hintergrundsgemälden fügt sich zu einer suggestiven Darstellung der Bibelszene, die mit über vierzig weiteren Darstellungen den ältesten und prächtigsten der norditalienischen Sacri Monti oder „Heiligen Berge“ bildet.

ABB. 33 SACRO MONTE, VARALLO, KAPELLE 33: ECCE HOMO; FIGUREN VON GIOVANNI UND

MELCHIORRE D’ENRICO, CA.1610; IN:Langé/Pensa 1991.

ABB. 34 KAPELLE 33,DETAIL.

Nachdem der Franziskanermönch Bernadino Caimi im Heiligen Land die großen Gefahren für christliche Pilger erfahren hatte, begann er im Jahr 1486 über dem neuen Franziskanerkloster Santa Maria delle Grazie bei Varallo ein Heiliges Land im Miniaturformat, ein „Neues Jerusalem“, zu errichten.508 Hier sollten die wichtigsten Heiligtümer Palästinas, die schon im Original unter der Verwaltung der Franziskaner standen, als genaue Kopien nachgebaut und zur gefahrlosen Glaubensfestigung der Ordensbrüder, lokalen Bevölkerung und anreisender Pilger eingesetzt werden. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und besonders seit 1593 unter dem novarresischen Bischof Carlo Bascapé, dem langjährigen Sekretär des Papstes Carlo Borromeo, veränderte sich das Konzept des Sacro Monte. Aus dem Nachbau der unzugänglichen Orte der Passion wurde eine chronologisch angeordnete, möglichst realistische Illustration der wichtigsten Lebensstationen und vor allem der letzten Tage und Stunden Christi, deren Vermittlung und Popularisierung erklärtes Ziel des Franziskanerordens war. Die alten Kapellen wurden umgebaut oder abgerissen sowie neue hinzugefügt, so daß am Ende fünfundvierzig Kapellen mit Darstellungen des Lebens und Todes Jesu entstanden waren. Das Interesse hatte sich von den Orten der Geschichte auf die Geschichte selbst verlegt, aus dem „Neuen Jerusalem“ wurde eine „dreidimensionale Bibel“. Mit diesem neuen narrativen Konzept setzten Caimis Nachfolger ein Beispiel, das in den piemontesisch-lombardischen Bergen reichliche Nachahmung fand.509

Obwohl der Gebrauch von Bildern im Christentum umstritten war, wurden sie von vielen Gruppierungen als Anschauungsmaterial für die Leseunkundigen benutzt. Vor allem die Franziskaner, Initiatoren der Heiligen Berge in Varallo und anderswo, waren vom Nutzen der Bilder zur Verbreitung des Christentums überzeugt. Seit der Ordensgründer, der Heilige Franz von Assisi, im Jahr 1224 die Vision des Gekreuzigten und dessen unermeßliche Leiden erfahren und als Zeichen seines tiefen Mitleids selbst die Stigmata empfangen hatte, spielte die persönliche affektive Beziehung der Gläubigen zur Passion Christi eine große Rolle im Wirken des Ordens. Zur Vermittlung und Anleitung dieser Durchdringung von eigenem, irdischen Leben mit dem Leben

508 Als erstes wurde 1491 die Grabeskapelle, eine genaue Kopie des Gebäudes in Jerusalem, fertiggestellt;

es folgten Nachbauten von Gethsemane, Tabor, Golgatha und einiger Teile Nazareths und Bethlehems mit entsprechenden Szenen aus polychromen Figuren. Bernadino Caimi starb 1499. Beschreibung und Literatur in: BUTLER 1888; GOLDHARDT 1908; ASPETTI STORICI 1980;STEFANI PERRONE 1987und 1994;

FREEDBERG 1991, S. 192-196; LANGÉ/PENSA 1991; DEBIAGGI 1996.

509 Sacri Monti mit verschiedenen Themen gibt es heute noch zum Beispiel in Orta (Leben des Franz von Assisi, begonnen 1583), Crea (Marienleben, 1589), Varese (Die Mysterien des Rosenkranzes, 1578, umgestaltet seit 1605), Ghiffa (Dreifaltigkeit, Mitte des 17. Jh.s), Domodossola (Kreuzigung, 1656),

Christi bedienten die Franziskaner sich nicht nur populärer Traktate und Predigten, sondern auch theatralischer Inszenierungen wie in den Passionsspielen sowie der bildlichen Umsetzung der Passionsthematik in Kreuzwegstationen, Kalvarienbergen und den Heiligen Bergen.510 Dabei hatten sie gute Argumente für den Bildgebrauch, wie auch ihre Rivalen, die Dominikaner, die eine ähnlich ikonodule Haltung einnahmen.

Der Dominikanermönch Michael von Carcano schrieb zum Beispiel Ende des 15.

Jahrhunderts:

Bilder der Jungfrau und der Heiligen wurden aus drei Gründen eingeführt:

Erstens, wegen der Unwissenheit der einfachen Leute, damit jene, die die Schriften nicht lesen können, dadurch, daß sie die Sakramente unserer Erlösung und den Glauben in den Bildern sehen, doch etwas lernen können.

Es steht geschrieben: „(...)es ist eine Sache, Gemälde zu verehren, aber es ist eine ganz andere, von einer gemalten Erzählung zu lernen, was zu verehren sei. Was denen ein Buch ist, die lesen können, ist ein Bild dem unwissenden Volk, das es anschaut. Denn in einem Bild können sogar die Ungebildeten sehen, welchem Beispiel sie folgen sollen(...)“ (...) Zweitens, Bilder wurden eingeführt wegen der Trägheit unserer Gefühle; so daß Menschen, die nicht zur Andacht angeregt werden, wenn sie die Geschichten der Heiligen hören, wenigstens berührt werden, wenn sie sie in den Bildern sehen, als wären sie tatsächlich anwesend. Denn unsere Gefühle werden mehr durch gesehene als durch gehörte Dinge erregt. Drittens wurden [die Bilder] wegen unseres unzuverlässigen Gedächtnisses eingeführt [... und] weil viele Leute Gehörtes nicht in Erinnerung behalten können, aber sich wohl erinnern, wenn sie Bilder sehen.511

An die illiteraten, vergeßlichen und wenig sensiblen Leute wandten sich auch die Kapellen des Sacro Monte. Ihr Inhalt konnte mit geringen Vorkenntnissen „gelesen“

werden, da ganz konkrete Orts- und Personencharakterisierungen die Bibelgeschichten anschaulich machten. Die illusionistische Ausgestaltung und der lebendige Ausdruck der Figuren machte die Kapellen zusätzlich einprägsam.

Oropa (Marienleben, 17. Jh.) und Belmonte (Rosenkranz, 1712).

510 SEEGETS 1998, S. 232-235; zu den Kalvarienbergen: ROTH 1994, hier weitere Literatur.

511 „(...)images of the Virgin and the Saints were introduced for three reasons. First, on account of the ignorance of simple people, so that those who are not able to read the scriptures can yet learn by seeing the sacraments of our salvation and faith in pictures. It is written: ‘(...)it is one thing to adore a painting, but it is quite another to learn from a painted narrative what to adore. What a book is to those who can read, a picture is to the ignorant people who look at it. Because in a picture even the unlearned may see what example they should follow; (...)’ (...) Second, images were introduced on account of our emotional sluggishness; so that men who are not aroused to devotion when they hear about the histories of the Saints may at least be moved when they see them, as if actually present, in pictures. For our feelings are aroused by things seen more than by things heard. Third, they were introduced on account of our unreliable memories [... and] because many people cannot retain in their memories what they hear, but they do remember if they see images.“ zitiert in: BAXANDALL 1988, S. 41; s. auch FREEDBERG 1991, S.

192-193.

ABB. 35 SACRO MONTE, VARALLO, AUFGANG ZU KAPELLE 27(1997).

ABB. 36 SACRO MONTE, VARALLO, HOLZGITTER DER

KAPELLE 11(1997).

Durften die Besucher der frühesten Entwicklungsstadien des Sacro Monte dazu noch in die sparsam dekorierten Kapellen eintreten und zwischen den Figuren umhergehen, konnten spätere Pilger die für sie aufgebauten, hochdramatischen Szenen nur durch grobe Holzgitter betrachten. Noch heute sieht man die bunten Figuren in den imitierten Innen- oder Außenräumen erst beim Blick durch die in den Gittern ausgesparten Sichtfenster (Abb. 35 und Abb. 36). Über den Funktionswandel der Anlage und den Schutz der Skulpturen hinaus, hing mit der Einführung der Gitter512 ein neues Bildkonzept zusammen: Seit ungefähr 1500 wurden machte ein raffiniertes Zusammenspiel von Malerei und Skulptur die Kapellen zu spektakulären Schaustücken, die nur in bestimmten Perspektiven ihre größte Wirkung entfalteten. Wie Bühnenbilder wurden die Innenwände mit Figuren, Gebäuden und Landschaften illusionistisch ausgemalt, so daß die Fresken den Darstellungsraum täuschend echt erweiterten. Die dreidimensionalen Figuren, das kann man noch heute erleben, verschmelzen sowohl optisch als auch gelegentlich physisch mit dem gemalten Hintergrund. In vielen Kapellen vergrößert eine gemalte Menschenmenge die Zahl der skulpturierten Zuschauer und Soldaten, in einigen ergänzen die Gemälde die nur noch teilweise

512 Nach STEFANI PERRONE 1994, S. 138, setzt die Einführung der Gitter in der zweiten Hälfte des 16. Jh.s mit der allgemeinen Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre in den Kirchen ein. Doch schon die neue, auf optische Täuschung angelegte Kapellenkonzeption von Gaudenzio Ferrari (ca. 1470-1546, in Varallo spätestens 1507-1528) scheint ohne einen räumlichen Ausschluß des Betrachters aus dem Bildraum nicht vorstellbar. Es muß also bereits in der ersten Hälfte des 16. Jh.s Absperrungen vor den Kapellen gegeben haben.

ausgeführten Figuren: während der Körper eines Pferdes plastisch aus der Wand herausragt, sind seine Hinterbeine nur noch illusionistisch aufgemalt (Abb. 37).513 Diese Übergänge müssen bei allzu naher Betrachtung ihre Wirkung verlieren. Die begrenzenden Gitter aber lenken den Blick in die optimale Perspektive und konzentrieren die Aufmerksamkeit des Betrachters.

ABB. 37 SACRO MONTE, VARALLO, KAPELLE 5: ANKUNFT DER WEISEN AUS DEM MORGENLAND. FIGUREN UND FRESKEN VON GAUDENZIO FERRARI UND MITARBEITERN,1525-28(1997).

Außerdem wird die emotionale Wirkung der einzelnen Szenen verstärkt, wenn sie erst im Moment des Betrachtens und nicht schon von weitem her sichtbar sind. So ist in den Kapellen alles auf eine möglichst illusionistische Wiedergabe des Geschehens angelegt, an dem die Besucher als Zuschauer emotional teilnehmen sollen. Zwar sind die Skulpturen nicht aus Wachs gefertigt, sondern aus haltbarerem Holz, Gips oder Terrakotta, doch sind sie den späteren Wachsfiguren eng verwandt: Sie sind täuschend echt modelliert und bemalt,514 haben Haare und Bärte aus Flachs oder Roßhaar und

513 Besonders raffiniert in den Entwürfen von Giovanni d’Enrico (ca. 1560-1644, in Varallo von ca. 1600-1640). Diese Technik des Übergangs von der Drei- zur Zweidimensionalität findet man im 19. Jh. wieder bei den Panoramen,OETTERMANN 1997, S. 49-50. Man muß also noch vor den barocken Deckenbildern und Bühnenbildern die Sacro-Monte-Kapellen zu den technischen Vorläufern des Panoramas und Dioramas zählen, auch GRAU 2000, bes. S. 39-44.

514 Leider sind viele Figuren heute, trotz ambitionierter Restaurierungsprojekte, schlecht erhalten und staubig (Varallo) oder mit einem speckig glänzendem Firnis überzogen (Varese), was die Wirkung der Kapellen beeinträchtigt.

hantieren mit echten Gegenständen wie Seilen oder Lanzen. Die Physiognomien sind größtenteils individualisiert und manchmal sogar Portraits.515 Einzig die phantastischen Kostüme, vor allem die Rüstungen der Soldaten, deuten an, daß es sich um räumlich und zeitlich entfernte Ereignisse handelt. Dabei ging es nicht um einen historisch genauen Realismus, sondern um die glaubhafte Darstellung der Szenen. Der hochgradige Illusionismus sollte durch maximale Identifikation des Betrachters mit dem Dargestellten eine empathische Reaktion, eine emotionale Auseinandersetzung auslösen. Das Ziel der Anschauung war für die Franziskaner die compassio, das Mitleiden, welche der imitatio, der Nachfolge Christi, den Weg bereitete. So konnten die Kapellen des Sacro Monte als Anreiz zur Ausübung religiöser Praktiken wirken und damit das fromme Leben der Besucher fördern.516 Die Vorstellung, daß ein ausgeprägter Naturalismus und Illusionismus in der Darstellung Anteilnahme, Erkenntnis und idealerweise eine Verhaltenskorrektur des Betrachters fördert, findet man – jedoch ohne jeglichen christlichen Anspruch – im 19. Jahrhundert auch bei Madame Tussaud’s wieder.

Bei der Ausgestaltung einiger Szenen auf dem Sacro Monte kann man jedoch beobachten, daß die Künstler in ihren Kompositionen über die pädagogische Zielsetzung der franziskanischen Auftraggeber hinausgingen. So findet man zum Beispiel in der Ecce-Homo-Darstellung in Kapelle 33 im Vordergrund einen kleinen Hund, dessen vor Aufregung entfahrener Kot ebenso sorgfältig modelliert ist (Abb. 33), wie das Antlitz des Erlösers. Ein solches Detail steht nur noch in loser illustrativer Verbindung zur überlieferten Geschichte, es dient vielmehr der Konkretisierung des Geschehens und der belohnenden Erheiterung der aufmerksamen Betrachter. Damit bietet der Sacro Monte seinen Besuchern neben der Vermittlung religiöser Inhalte auch Spaß an der Betrachtung. Die täuschend echte Darstellung der christlichen Szenen oszilliert zwischen der Erzeugung von konzentrations- und verständnisfördernder Identifikation und dem Bereitstellen zerstreuender Unterhaltung. Diese Ambivalenz von Fesseln und Ablenken ist generell ein wesentliches Merkmal des Illusionistischen, das

515 Der glatzköpfige Alte in Kapelle 33 scheint ein Portrait zu sein, vielleicht von Giovanni d’Enrico, der sich und seinen Sohn in zwei der Skulpturen dargestellt haben soll. In Kapelle 27, Christus vor Pilatus, fügte Antonio d’Enrico die Portraits seiner Brüder Melchiorre und Giovanni in die Fresken ein, SACRI

MONTI 1994, S. 165 und 170.

516 NORA 1995; BENNETT 2001 über den Einsatz und die Funktion affektiver Bilder bei den Franziskanern.

einerseits bestimmte Inhalte unmittelbar und effektiv mitteilen, andererseits aber auch als primitiv empfunden werden kann, weil er die rationale Denkleistung umgeht.

Über der lombardischen Stadt Varese gelegen gibt es einen weiteren Sacro Monte, der mit vierzehn Kapellen den Mysterien des Rosenkranzes gewidmet ist.517 Als der englische Schriftsteller Samuel Butler 1881 diesen und andere Heilige Berge besuchte, gefiel ihm die kunstvolle und detailgetreue Umsetzung der Bibelgeschichten einerseits so gut, daß er einige der Kapellenausstattungen in Varallo oder Varese sogar für wert hielt, im Londoner Museum für Kunst und Kunsthandwerk zu stehen.518 Andererseits war er jedoch von ihrem populären Erfolg irritiert. Er stilisiert die begeisterten Besucher der Kapellen als ungebildete Bauern, deren Entzückung proportional zur Geschmacklosigkeit der Darstellungen steige. Anders als der kultivierte Reisende sehen sie in den Bildern keine Museumsstücke, sondern sie lassen sich auf die Illusionsmacht der Skulpturen ein und sehen die Dinge, welche die Bilder repräsentieren. So fiel Butler neben dem Museum noch ein weiteres heimatliches Äquivalent ein:

Hör nur auf das unterdrückte ‘oh bel!’, das [den Leuten] entfährt während sie durch ein Gitter nach dem anderen spähen (...). Sie mögen sie genauso sehr, wie unser Volk Madame Tussaud’s.519

Der Vergleich zum Wachsfigurenkabinett ist angebracht, denn wie in den Wachsfigurenkabinetten waren in den Sacro-Monte-Anlagen lebensgroße, polychrome und mit größtmöglichem Naturalismus gestaltete Figuren zu sehen. Sie zeigten bestimmte, normalerweise nur schriftlich oder zweidimensional erfahrbare Inhalte – Bibelgeschichten im Fall der Heiligen Berge, biographische Literatur, gemalte Portraits und Historiengemälde im Wachsfigurenkabinett – detailreich in Farbe und in drei Dimensionen. Die illusionistischen Darstellungen in beiden Zusammenhängen dienten der Wissensvermittlung auf ansprechende Art, der mitfühlenden Anteilnahme am Geschilderten und dem Anreiz des Nachstrebens. Äußerlich und funktional sind sich die Kapellen in Varallo oder Varese und die Räume eines Wachsfigurenkabinetts durchaus ähnlich.

517 Die Kapellen waren Anfang des 17. Jh.s als Erneuerung eines bereits bestehenden Heiligen Berges entstanden. Beschreibung und Literatur in: BUTLER 1881; BIANCONI/COLOMBO 1981;Lotti 1991.

518 BUTLER 1881, S. 176. Er meinte das heutige Victoria & Albert Museum.

519 „Listen to the hushed „oh bel!“ which falls from them as they peep through grating after grating; (...) They like them as our own people like Madame Tussaud’s.“ BUTLER 1881, S. 251. Auf den bevormundenden Ton weist auch FREEDBERG 1991, S. 199, hin.

Allerdings bestand gerade Madame Tussaud’s Anfang der 1880er Jahre noch hauptsächlich aus aufgereihten Portraitfiguren, die nur minimal aufeinander Bezug nahmen und nicht in illusionistische Kulissen eingestellt waren. Auch das ausgefeilte theologische Programm der Heiligen Berge findet keine Entsprechung im Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud, das spontan seine Richtung ändern und neue Inhalte inkorporieren konnte. Der Vergleich bezieht sich vor allem auf den hohen Grad an Illusionismus und Popularität. Tatsächlich gab es aber früher, im 17. und 18.

Jahrhundert, Kabinette mit vielfigurigen biblischen oder mythologischen Gruppen, die zum Teil beweglich und immer möglichst illusionistisch ausgeführt waren und einen über das Dargestellte hinaus weisenden programmatischen Aufbau hatten.520 Diese Wachsfigurenkabinette, welche die Themen und Stilmerkmale der Barockkunst teilten und die hier daher als „barocke Wachsfigurenkabinette“ bezeichnet werden sollen, waren vor allem in den protestantischen Gegenden nördlich der Alpen zu finden.

b) Im Doolhof in Amsterdam

In dem Amsterdam-Reiseführer des Deutschen Filip von Zesen aus dem Jahre 1664 findet man folgenden Eintrag:

Vor [dem Antonstor] / zur rechten hand / nach der Amstel zu stehet ein Trink- und spiel-hof; darinnen die zunge mit allerhand wein und bier / ja das auge mit ungemeinen wasser-künsten ergetzet wird. Man pfleget ihn gemeiniglich den Dool-hof / das ist / Irrgarten vor dem Antohnstohre / weil sich darinnen die sinne verwirren und die augen vergaffen / zu nennen.521

In den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts, also zeitgleich mit den Phasen der größten Aktivität in Varallo und Varese, entstand im Garten von Sente Peylder der Doolhof, ein Gasthof mit Labyrinthgarten, in dem die Gäste zu Konzertmusik und kunstvollen Wasserspielen spazierengehen und dabei eine Reihe von Skulpturen betrachten konnten.522 Einen Teil der Anlage nahm, neben den Tanz-, Trink- und Speisesälen, ein separates „Spielhaus“ ein, „darinnen unterschiedliche geschichte /

520 Möglicherweise war das Wissen um derartige Kabinette, z.B. Mrs. Salmon’s, Kapitel III.1.c in dieser Arbeit, bei Butler mit der Vorstellung von Madame Tussaud’s verquickt.

521 ZESEN 1988, S. 190. Doolhof = nl.: Irrgarten.

522 MEIJER 1883; ROEVER 1888; MEIJER 1897, S. 165-167; RENEMAN 1975; EISMA 1998. In einem Amsterdamer Stadtplan von 1625 ist der Doolhof bereits eingetragen, MEIJER 1883, S. 33-34. Über Senten de Peylder s. bes. ROEVER 1888, S. 105-106; zu den Gartenskulpturen WEISSMAN 1897, S. 90 und 117. Die Beschreibung eines Besuches mit den einzelnen Attraktionen bei ZESEN 1988, S. 367-368; vgl.

dazu die Ausstattung der Boboli-Gärten in Florenz mit Automaten und Fontainen, BREDEKAMP 1996.

durch ahrtige bilder / welche meist ein uhrwerk treibet und beweget / gespielt werden“, wie sie von Zesen 1664 beschreibt:

Zuerst siehet man den König Salomon / in königlichen Schlosse / auf seinem reichs-stuhle / mit helbahrten-trägern und leibwächtern umgeben:

vor welchem die Königin / mit ihren Kammer-jungfrauen / sich ehrerbietiglich neugende / erscheinet. Der König erhebet sich hierauf aus seinem stuhle / doch lesset sich bald wiederum nieder: und die Königin nimt ihren abschied / samt dem frauenzimmer / indessen daß die Spielleute sich höhrenlassen. // Darnach wird die Tochter des Königes Herodes tanzend eingeführet: welche auch kurtzhernach das Haupt des Teuffers / als ihren tanz-lohn / getragen bringet. Hierauf folget die peinigung und ertödtung der Zwölf bohten [Apostel]: auch wie David den großen Goliat mit einer schleider zu boden fellet. Noch siehet man eine ungeheure große Riesin ihr kind an die brust legen: und wie Vulkahn den Kriegs-Gott / mit seiner ehgattin / der schönen Vene / im ehbruche ertapfet / und ein eisernes netzte über sie herwürfet; welches kurtzweilige schauspiel der Sonnen-gott allen Göttern und Göttinnen zu schauen giebet.523

Die „Erklärungen der vortrefflichen künstlerischen Werke (...) im alten Doolhof“, ein beschreibender Katalog der Anlage von ungefähr 1642524, erwähnt neben den meisten der von Zesen angeführten Figuren noch den predigenden Johannes den Täufer, einen flötenden Pan, eine Szene aus dem Schäferspiel „Granida“,525 mehrere Musikautomaten und die dudelsackspielende Automatenfigur „Jochim“.

Anders als die tönernen Figuren in den Kapellen der Heiligen Berge sahen die Figuren im Doolhof, die wohl aus Holz und Gips gemacht waren, nicht nur sehr lebendig aus, sie waren auch noch mittels Uhrwerke bewegt.526 Wie täuschend echt die mechanische Nachahmung der menschlichen Bewegung im 17. Jahrhundert gelingen konnte, mag eine Stelle in Joachim Sandrarts Kunsthistoriographie „Teutsche Akademie“ belegen, wo er von dem Wachsportrait des Habsburger Kaisers Leopold I. berichtet. Eine in

523 ZESEN 1988, S. 367-368. Die Riesin, eine Frau Walburgh oder auch Frau Albrecht, kam in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s in die Sammlung, MEIJER 1883, S. 130. Ein Stich des Hofes Salomons aus der Bibliothek des Amsterdamer Gemeentearchief, AA 722, weitere bei EISMA 1998.

524 „Verklaringe van treffelijcke konstighe Wercken (...) in den Ouden Dool-Hof (...)“, zwischen 1642 und 1648 gedruckt, abgebildet in: BREDIUS 1897a), Bd. 2, S. 99; sie befinden sich in der Bibliothek des Gemeentearchief Amsterdam, AA 722. Über die Datierung dieses ältesten bekannten Kataloges s. MEIJER

524 „Verklaringe van treffelijcke konstighe Wercken (...) in den Ouden Dool-Hof (...)“, zwischen 1642 und 1648 gedruckt, abgebildet in: BREDIUS 1897a), Bd. 2, S. 99; sie befinden sich in der Bibliothek des Gemeentearchief Amsterdam, AA 722. Über die Datierung dieses ältesten bekannten Kataloges s. MEIJER

Im Dokument Taken from life (Seite 166-199)