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4. Die Autonomie der Vernunft in der praktischen Welt

4.3 Rousseau und die Autonomie der praktischen Vernunft

65.- Auf diese Weise "[wird] die menschliche Natur erst begreiflich durch die Unbegreiflichkeit, die wir auf ihrem Grund entdecken. So kehren sich hier gegenüber der logischen, gegenüber der "rationalen" Form des Wissens alle Maßstäbe um." (Cassirer, 2007, S. 150).

Allerdings glaubt Cassirer, was das Problem des Ursprungs des Übels und seine originelle Lösung betrifft, sei Rousseau der entscheidende Denker der Aufklärung gewesen, denn mit ihm habe jenes Problem eine neue Richtung genommen. In der Tat hängt für Rousseau alles, so behauptet er in Émile (1762), von der "Art der Politik" ab:

die Völker sind, was ihre Staatsform aus ihnen gemacht hat.

Rousseau teilt mit Pascal der Diagnose, dass der Mensch sich in die Gesellschaft, in unterschiedliche Beschäftigungen und Vergnügungen flüchtet, weil er es nicht erträgt, mit sich selbst allein zu sein. Jede soziale Verbindung wird dadurch auf einer Illusion basiert. Die Erklärung hierfür wird aber nicht vom Mysterium des Sündenfalls gegeben, sondern sie liegt vielmehr darin, auf welche Weise die politische Gesellschaft organisiert ist. Die echten Ursachen der mitleiderregenden Situation des Menschen müssen im Übergang vom Zustand der Natur zur politischen Gesellschaft gesucht werden. Rousseau zufolge stammen die moralischen Perversionen eigentlich aus der historischen empirischen Entwicklung, welche die Menschen dazu gebracht hat, die Zwangsmacht der Gesellschaft zu schaffen.

Um die tiefe Natur des Übels, die mit der Geburt der Gesellschaft geboren wurden, wirklich zu verstehen, soll man in seiner Philosophie zusammenfassend zwischen zwei Arten von Menschen unterscheiden: nämlich, 1) dem "Menschen der Natur" (l‘homme naturel) und 2) dem "Menschen der Gesellschaft" (l‘homme artificiel). Laut Rousseau ist im Zustand der Natur l‘homme naturel von l’amour de soi geführt, d.h., einem natürlichen Instinkt, welcher uns nötigt, unsere eigene Selbsterhaltung zu suchen und außerdem Mitgefühl für die anderen lebenden Wesen zu haben. L‘amour de soi ist dementsprechend laut Rousseau eine notwendige, natürliche und harmonische Leidenschaft, welche die Menschen eng und in einer harmonischen Weise zusammenführt.

Allerdings ist diese Leidenschaft in der politischen Gesellschaft, welche aus dem Gesellschaftsvertrag stammt, durch l‘amour propre ersetzt worden, nämlich einer artifiziellen Art vor Selbstachtung, welche uns von der Meinung anderer ganz abhängig macht. Die kontinuierliche Suche nach Prestige und Bewunderung, welche uns versklavt, hat als ihre Basis diese soziale Leidenschaft, l’amour propre, die tatsächlich das Fundament selbst der modernen Zivilisation ist. Diese Leidenschaft führt Willkürlichkeit und Privilegien in der Gesellschaft ein, indem sie falsche und egoistische Interessen schafft, welche am Ende die Grundlage der Gemeinschaft schädigen und verschleißen.

So werden die Ungleichheit und Unfreiheit (darunter vor allem die "Sklaverei" des Aussehens) geboren. Einfacher gesagt: gemäß Rousseau ist der amour propre der

wirkliche Ursprung des Übels, welches in der Neuzeit die natürliche Ordnung der Gesellschaft tief verdorben hat.

Bisher teilen Pascal und Rousseau dieselbe Diagnose gegenüber der modernen Gesellschaft. Jedoch unterscheiden sie sich Cassirer erklärt in einem entscheidenden Punkt grundsätzlich: nämlich in der Rolle der Transzendenz, welche diese sowohl in der Erklärung des Ursprungs des Übels als auch in der vorgeschlagenen Überwindung dieses Übels spielt. In der Tat findet Rousseau die moralische und politische "Erlösung" nicht in dem Einzelmenschen, sondern in der menschlichen Gesellschaft selbst, weil "der Einzelmensch als solcher, wie er aus den Händen der Natur hervorgeht, noch außerhalb des Gegensatzes von Gut und Böse [steht]." (Cassirer, 2007, S. 164). Wie Cassirer bemerkt, schafft Rousseau ein neues Subjekt der Zurechnung, der "Imputabilität": die menschliche Gesellschaft. Wenn die zwingende Form der Gesellschaft verschwindet, wären wir fähig, eine neue Form von politischer und ethischer Gemeinschaft zu erzeugen, in der jeder nur dem allgemeinen Willen (la volonté générale) gehorcht, welcher er tatsächlich als seinen eigenen erkennen würde. Dann wird die Zeit der "Rettung" des Menschen von seiner Verdorbenheit und Dekadenz gekommen sein. Darin genau würde der neue Gesellschaftsvertrag bestehen, welcher Rousseau uns vorschlägt und dessen Ziel nichts anderes ist, als uns von unserer eigenen amour propre zu befreien, so dass eine neue harmonische Gesellschaft etabliert werden kann.

Wichtig ist hier zu betonen, dass Rousseau, indem er den Ursprung des Übels in den Anfängen der Gesellschaft selbst lokalisiert und die Lösung dafür der Gesellschaft selbst zuschreibt, den Anspruch einer Transzendenz in der Erklärung und in der Organisation der Ethik und Politik dieser Welt verweigert. Er entwirft sozusagen eine

"irdische Theodizee". Daher bekräftigt er seinen Gedanken im Kontext der reinen Immanenz, eine Ansicht, welche ihm große Probleme mit der Kirche verursachte. In demselben Sinne muss man die Erlösung auf dieser Ebene und im Diesseits finden. Keine Hilfe von einer übernatürlichen Macht könnte uns retten und befreien: die Schuld gehört ausschließlich zu dieser Welt und zu dem Menschen allein. "Kein Gott kann sie [Erlösung] uns bringen; sondern der Mensch muss zu seinem eigenen Retter und im ethischen Sinne zu seinem Schöpfer werden." (Cassirer, 2007, S. 165).

Darin liegt Cassirer zufolge die entscheidende Bedeutung von Rousseaus moralischer und politischer Philosophie und mehr noch sein Beitrag zur Ausbreitung der Autonomie der Vernunft. Mit seinem Beharren auf dem Gesellschaftsvertrag als Ursprung des Übels aber auch als einer Lösung dafür, behauptet Rousseau, dass die

politische Welt ihr eigenes immanentes Fundament hat. Auf diese Weise konkretisiert sich die Wendung der Autonomisierung der Vernunft von der theoretischen Ebene zur praktischen.66

4.4 Die Unabhängigkeit des Rechtes. Grotius, die Vernunft und das Naturrecht