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Was ist der Mensch? Die Anthropologie als Basis einer neuen Ethik

4. Die Autonomie der Vernunft in der praktischen Welt

4.1 Was ist der Mensch? Die Anthropologie als Basis einer neuen Ethik

Laut Cassirer begnügt sich die Aufklärung nicht damit, die theoretische Welt zu revolutionieren, da ihr zufolge "Newtons Methode […] keineswegs allein für die Physik

59.- Die Bedeutung Leibniz’ für Cassirer beschränkte sich nicht nur auf die theoretische Ebene, sondern und insbesondere auf die praktische. Christoph Sebastian Widdau erforscht diese Dimension von Cassirers Beziehung zu Leibniz im Buch Cassirers Leibniz und die Begründung der Menschenrechte (2016).

Wie Dr. Heinz Kleger im Geleitwort zum Buch schreibt: „Er wirft ein ideengeschichtlich und philosophisch neues Licht auf die »Natur« im Naturrecht, die kulturelle Bedeutung des Individuums und den Pluralismus politischer Ordnungen. Mit »Cassirers Leibniz« zeigt Widdau auf, dass Menschenrechte kein beliebiger Zusatz zur Kultur, sondern vielmehr kulturkonstitutiv sind.“ (S. V-VI) In diesem Sinne ist es gut, die Worte Cassirers in Bezug auf Leibniz in seiner Die Idee der republikanischen Verfassung (1929) zu erinnern. Er behauptete: „Leibniz ist […] der erste unter den großen europäischen Denkern gewesen, der in der Grundlegung seiner Ethik und seiner Staats- und Rechtsphilosophie mit vollem Nachdruck un mit aller Entschiedenheit das Prinzip der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums vertreten hat.“

60.- Ernst Cassirer. 2017. Philosophie der Aufklärung. V. Felix Meiner. S. 166.

[gilt], sondern sie gilt für alles Wissen überhaupt." (Cassirer, 2007, S. 54). Die aufgeklärte Philosophie zielt darauf ab, diese praktischen Bereiche auf der Basis einer natürlichen Vernunft zu regeln. In diesem Sinne glaubt die Aufklärung, dass die Natur eine Einheit ist, d.h., dass die moralischen, politischen, usw. Probleme zu einer natürlichen Ordnung gehören, welche dank der Vernunft erläutert werden können, ebenso wie die physikalischen Probleme: Natura semper sibi consona.

So wie im Jahrhundert von Fermat und Gassendi (siebzehntes Jahrhundert) die Geometrie und die Mathematik der Höhepunkt der Wissenschaften waren, so waren es im Jahrhundert Diderots und Buffons die Biologie, die Psychologie, die Wirtschaft und die Politik, welche alle Aufmerksamkeit auf sich zogen. Für die Aufklärung ist es wichtig, den Menschen in seiner Beziehung sowohl zur natürlichen als auch sozialen Welt zu verstehen. Weder eine richtige Ethik noch Politik können aufgebaut werden, wenn man nicht seine tiefe Natur umfasst. Deshalb wird die Frage "Was ist der Mensch?" zum wichtigsten Gegenstand der Aufklärungsepoche und es entsteht eine Anthropologie, die das "empirische" Substrat des Menschen aufzudecken versucht. Was sie anstrebt, ist, um es noch einmal zu betonen: das Verständnis des Seins des Menschen von der Vormundschaft der Theologie zu befreien.

Tatsächlich ist die Aufklärung der Ansicht, wenn das Sein des Menschen klar erkannt und verstanden werden kann - nicht als ein metaphysisches Prinzip, sondern als sinnliche und wahrnehmbare Realität -, dann lässt sich von dort her ein moralisches und politisches System erzeugen, welches der Natur besser angepasst ist.61

Idee der Aufklärung ist, dass wir zunächst das "Sein" freilegen und erkennen sollen, um auf ihm ein sicheres und effektives "Sollen" zu bauen. Kurz gesagt, muss eine anthropologische Forschung einem ethischen System vorangehen. Der wichtigste Einwand gegen die metaphysischen, moralischen, politischen und ästhetischen Systeme der Religion bestand darin, die Bedeutung einer "empirischen" Referenz zu verweigern, und diese Systeme hätten deshalb die natürlichen Tugenden der Menschen auf künstliche Weise unterdrückt.

In Cassirers Bild ist die Natur für die Aufklärung eine harmonische und rationale Ordnung, und es wäre ein Paradox, wenn sich aus ihr nicht die gleichen klaren, objektiven

61.- Jede transzendente Moral und jede transzendente Religion bleibt, sobald sie diesen Halt verläßt, sobald sie die natürlichsinnlichen Impulse des Handels verwirft und preisgibt, ein bloßes Luftgebäude. Denn kein bloßes Sollen darf sich vermessen, das empirische Sein des Menschen aufzuheben oder es grundlegend zu verändern. Dieses Sein wird sich immer wiederherstellen; und es wird stärker als alles Sollen bleiben"

(Cassirer, 2007, S. 258).

und zeitlos moralischen Gesetze herleiten ließen, welche die physische Welt regieren. In diesem Sinne versichert die Aufklärungsphilosophie: Genauso wie es "rationale Beziehungen" zwischen den Entitäten der natürlichen Welt gibt, so herrschen auch

"rationale Beziehungen" zwischen den Entitäten der geistigen Welt. Die newtonsche Methode ist laut Cassirer das, was die aufgeklärte Suche nach einer neuen Ethik verbindet:

Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts knüpft überall an diesem Einzelbeispiel, an das methodische Paradigma der Newtonschen Physik an;

aber sie wendet es sogleich ins Allgemeine. Sie begnügt sich nicht damit, die Analyse als das große intellektuelle Werkzeug der mathematisch-physikalischen Erkenntnis zu verstehen, sondern sie sieht in ihr das notwendige und unentbehrliche Rüstzeug für alles Denken überhaupt. Um die Mitte des Jahrhunderts ist der Sieg dieser Auffassung entschieden. Sosehr die einzelnen Denker und die einzelnen Schulen in ihren Resultaten auseinandergehen, in dieser erkenntnistheoretischen Prämisse stimmen sie miteinander überein. […] Sie [Voltaire, d’Alembert, Kant, usw.] alle sprechen es aus, dass die echte Methode der Metaphysik mit derjenigen im Grunde übereinstimme, die Newton in die Naturerkenntnis eingeführt habe und die dort von so fruchtbaren Folgen war. (Cassirer, 2007, S. 11)

Dies ist dann eine der Hauptthesen von Cassirers‘ Interpretation der Aufklärung, welche, wie wir in der Abschließenden Überlegungen sehen werden, in den letzten Jahren problematisch geworden ist. Die Erkenntnis der Natur und des Menschen würde so als die Quelle eines neuen metaphysischen Ideals gesehen, auf dem eine rationale Gesellschaft gegründet werden könnte, welche auf die Willkürlichkeiten des Glaubens, der Autorität und der Tradition verzichten würde. Auf diese Weise gelangt die Aufklärung zur Idee der natürlichen Rechte, welche sie gewiss nicht selbst geschaffen hat, die sich aber dank ihrer Philosophie, in den Worten Cassirers, in ein "echtes moralisches Evangelium" verwandelten, das in die Realität eintreten musste und schließlich die amerikanische und französische Revolution hervorbringen würde62, womit die Vorherrschaft der praktischen Vernunft gefestigt wurde (Cassirer, 2007, S. 262).

62.- In diesem Sinne könnte man sagen, dass Cassirer die sogenannte These der "Kontinuität" unterschreibt.

Diese These behauptet, dass es eine enge Beziehung zwischen dem philosophischen Denken und den Revolutionen zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts gibt. Gegen Georg Jellineks Argument, welcher die Verbindung zwischen der Philosophie der Aufklärung und der Erklärung der Menschenrechte 1789 während der Französischen Revolution ablehnte, schreibt Cassirer: „Der Ideenkreis, dem die Erklärung der französischen Konstituante angehört und aus dem sie sich organisch entwickelt, aus dem sie sich als reife Frucht losgelost hat, liegt völlig fertig vor - lange bevor an eine Einwirkung der nordamerikanischen

"Declaration of Right" zu denken ist. Er geht auf die Anfänge des modernen Naturrechts bei Grotius zurück – und er hat weiterhin insbesondere in der Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus bei Leibniz und Wolff seine systematische Begründung und Durchbildung erfahren.“ (Cassirer, 2007, S. 261) Wie in anderen Kapiteln des Buches nutzt Cassirer auch die Gelegenheit, die Bedeutung der deutschen aufgeklärten Philosophie62 in der Entwicklung der Idee der Menschenrechte hervorzuheben, ein Aspekt, welcher ganz neuartig für die Epoche ist, da im allgemeinen die deutsche Aufklärung beträchtlich weniger erforscht wurde als diejenigen Frankreichs und Englands. Was die Verbindung zwischen der aufgeklärten

4.2 Die Ablehnung von der Lehre der Erbsünde