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Rezeptiver Umgang mit Texten: Lesen

3.3 Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik

3.3.4 Rezeptiver Umgang mit Texten: Lesen

Lesen ist, ebenso wie das Schreiben, eine jahrtausendealte Kulturtechnik. Sie in ihrer Komplexität zu erfassen, ist wohl auch deshalb herausfordernd. Schon die Funktionen des Lesens sind zahlreich und vielseitig. Lesen dient dem Wissens-und Erkenntnisgewinn, der Unterhaltung in Form von Genuss, Freude, Trauer Wissens-und es fördert das sinnliche Erleben und ästhetisches Bewusstsein, nicht zuletzt durch Phantasieentwicklung (vgl. Budde et al. 2012, S. 85). Lesen wird in Deutsch-land spätestens mit Beginn der ersten Klasse als basales Handwerk erlernt, das

bleibt. Dennoch ist Lesen können nicht gleich Lesen können. Was Lesekompe-tenz meint und wie sie verbessert werden kann, schlüsseln diverse LesekompeLesekompe-tenz und -fördermodelle auf (vgl. BMBF 2005). Ein simples Modell zeigt die ver-schiedenen Prozesse, die beim Lesen ablaufen (können), sowie eine Zuordnung innerhalb einer zweirangigen Hierarchie, wobei niedrige und hohe Hierarchien nicht streng voneinander zu trennen sind, sondern immer wieder ineinander über-gehen (vgl. Tab.3.3). Während beispielsweise Erstklässler*innen noch stark auf Buchstaben- und Wortebene fokussieren, erfassen kompetente Leser*innen diese nur noch innerhalb einer globalen Kohärenz, also auf Text- oder Kontextebene.

Ein Hin- und Herspringen zwischen den verschiedenen Prozessen ist durchaus auch bei kompetenten Leser*innen denkbar, zum Beispiel dann, wenn komplexe, den Lesenden unbekannte Strukturen verwendet und/oder anspruchsvolle Inhalte dargeboten werden.

Tab. 3.3 Hierarchien der Lesekompetenz

Hierarchieniedrige Prozesse – Identifikation von Buchstaben und Wörtern – Syntaktisch-semantische Repräsentation von

Wortfolgen/Sätzen > Aufbau von Propositionen – Lokale Kohärenzbildung > Herstellung von

Verknüpfungen zwischen Propositionen Hierarchiehohe

Prozesse

– Globale Kohärenzherstellung > Bildung einer Makrostruktur

– Bildung von Superstrukturen – Erkennen rhetorischer Strategien Quelle: Neuland/Peschel 2013, S. 161, angelehnt an: Dijek/Kintsch 1983

Dieses Modell fokussiert auf textimmanente Eigenschaften. Ganz zentral aller-dings für ein Textverständnis, das über Wort- und Satzebene hinausreicht, sind Vor- und Kontextwissen. In einem Modell von Rosebrock/Nix (2017) werden daher neben den Prozessebenen auch die Subjektebene sowie das soziale Umfeld des*r Leser*in berücksichtigt.

Lesekompetenz in der Geographie ist vor allem deswegen wichtig, da das Gros relevanter Informationen Fachtexten oder Sachtexten zu entnehmen ist. Was bildungssprachliche Texte schwierig macht, zeigt sich in den unter Abschn.1.1 dargestellten Kriterien. Auch Hiller (2017, S. 140–141) nimmt einige Kriterien davon nochmals auf, um für eine Studie niveaudifferenzierte Sachtexte zu erstel-len, die die fachlichen und bildungssprachlichen Fähigkeiten von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache verbessern sollen. Verwiesen sei außerdem noch dar-auf, dass Textarbeit im Sinne rezipierenden Umgangs im Fachunterricht auch

3.3 Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik 87 nicht-lineare Texte einschließt. Diagramme, Tabellen oder Grafiken stellen eine wichtige Informationsquelle dar, auch wenn sie nicht-sprachliche Zeichensys-teme verwenden. Texte bilden im Geographieunterricht häufig die Grundlage für Hausaufgaben, Aufgaben oder Nachbereitung. Ohne eine profunde Lesekompe-tenz können Fachtexte allerdings nicht adäquat bearbeitet und verstanden werden und somit auch nicht als Wissensquelle dienen. Ein Unterricht, der Schüler*innen dazu befähigt, auf der höchsten Lesekompetenzstufe zu rangieren, kann das Ler-nen im eigeLer-nen Fach verbessern (vgl. Leisen 2013, S. 111). Es stellt sich also die Frage, wie die Leser*innen ein hohes Kompetenzniveau erreichen können, sodass Fachinhalte in Textform gut verstanden werden können. Einige Lehrkräfte neigen dazu, die Fachtexte in Schulbüchern selbst zu vereinfachen, sie dem aktuellen Kompetenzniveau der Schüler*innen anzupassen; sie senken die Anforderungen.

Dies ist allerdings nicht im Sinne des Scaffoldings, das ein höheres Kompetenzni-veau anstrebt und Herausforderungen offensiv entgegentritt (vgl. Abschn.3.3.1).

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Anforderungen an Schulbuchtexte und wiederum damit, welche Anforderungen aus den Schulbuchtexten resultieren, ist dennoch dringend nötig, wie die Studienergebnisse von Berendes et al. (2018) und Härtig et al. (2019) nahelegen (vgl. Abschn. 2.2). Bei der Leseförderung ist grundsätzlich zu beachten, dass sich die Leser*innen eingehend, eigenstän-dig und wiederholt mit dem Text befassen müssen, um ein tiefes Verständnis zu erreichen. Hierfür sind beispielsweise begleitende Aufgaben zum Sachtext sinnvoll. Ganz im Sinne des Scaffoldings sollten die Aufgaben (gestufte) Hil-fen erhalten. Die individuellen Voraussetzungen des*r Leser*in wie zum Beispiel Vorwissen, Wortschatz, Lesestrategiewissen oder das Selbstkonzept sollten dabei immer beachtet werden. Auch die variierende Beschaffenheit eines Textes, die Aktivitäten des Lesens und die unterschiedlichen Leseanforderungen machen es erforderlich, jede Situation neu zu bewerten und individuelle Hilfen zu erstellen (vgl. Leisen 2013, S. 132). Die Grundlage jeder Aufgabe oder Diskussion sollten sogenannte „Verstehensinseln“ (Leisen 2013, S. 132) sein. Denn Gesprächsanlass bietet nicht das, was nicht verstanden wird, sondern das, was von den Lernenden bereits verstanden wird. Den Leseprozess begleitende Aufgaben bieten sich dar-über hinaus an. Pre-reading-Aufgaben aktivieren Vorwissen und sensibilisieren für das Thema, while-reading-Aufgaben schärfen den Blick auf das Wesent-liche und post-reading-Aufgaben helfen, das Verständnis zu überprüfen (vgl.

Dijek/Kintsch 1983, S. 81–82). Schroeter-Bauss et al. (2018, S. 143–152) geben eine detaillierte Anleitung, wie die Schulbuchtexte im Unterricht mit dem Dop-pelseitenprinzip sinnvoll eingesetzt werden können. Das schrittweise Vorgehen sorgt für Entlastung und besseres Verständnis.

1. Schritt: Überlegungen zur sprachlichen Vorentlastung des Textes

2. Schritt: Einschätzung des fachlichen und sprachlichen Anspruchsniveaus und Planung von Hilfen für das Textverständnis

3. Schritt: Analyse der typografischen Gestaltung des Fließtextes

4. Schritt: Begutachtung der weiteren Darstellungsformen (Fotos, Grafiken etc.) 5. Schritt: Aufbereitung des Text- und Bildmaterials für die jeweilige Lerngruppe 6. Schritt: Das Lesen des Fließtextes

7. Schritt: Analyse der Aufgaben und sprachbewusste Formulierung der Aufga-benstellung

Auf ähnliche Aspekte der Leseförderung im Fachunterricht weisen ebenfalls Schmellentin et al. (2012). Darüber hinaus legen sie ihr Augenmerk auf die Wich-tigkeit von Redundanzen in Fachtexten. Nur, wenn wichtiger Inhalt mehrfach in unterschiedlicher Form dargeboten wird, wird er gemerkt (vgl. Schmellentin et al.

2012, S. 4–6). Damit verbunden ist auch die Forderung nach expliziter Verknüp-fung von Text und Bildmaterial, was der Forderung nach Darstellungsvernetzung gleichkommt.

3.3.5 Sprachreflexion

Unter Sprachreflexion wird nachfolgend insbesondere Wortschatz- und Gram-matikarbeit verstanden, die Ausgangspunkt für Reflexionsprozesse über Sprache bilden. Indem Sprachstrukturen grammatisch und morphologisch untersucht wer-den – so die Idee – findet ein Nachwer-denken über Sprache statt. Die gewünschte Reflexion tritt allerdings über isolierten Grammatikunterricht ohne kontextuelle Einbettung nicht ein – im Gegenteil kann er sich sogar negativ auswirken, wenn dadurch Zeit fehlt, prioritäre Inhalte zu thematisieren, einzuüben und zu ler-nen. Grammatikarbeit also sollte, ebenso wie Wortschatzarbeit, immer nur dann Anwendung finden, wenn es dem fachlichen und fachsprachlichen Verstehen dienlich ist, und niemals isoliert erfolgen, wie dies vorzugsweise im Deutsch-unterricht geschieht. Die Aufmerksamkeit gegenüber grammatischen Strukturen kann den Schüler*innen helfen, den Unterrichtsstoff besser zu verstehen und sprachliche Aufgaben besser umzusetzen (vgl. Beese et al. 2014, S. 72). Sollen Schüler*innen zum Beispiel kausale Zusammenhänge von Sachverhalten erklä-ren, kann es Sinn machen, kausale Konnektoren zu wiederholen. Generell ist mit Grammatikunterricht im Fach sensibel umzugehen, da nur Deutschlehrkräfte in diesem Bereich ausgebildet sind. Eine Kooperation mit dem Fach Deutsch

3.3 Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik 89 oder dem Förderunterricht kann durchaus – und zwar nicht nur in diesem Kontext – sinnvoll sein (vgl. Leisen 2013, S. 184).

Eine besondere Art der Sprachreflexion stellt insbesondere in Klassen mit DaZ-Lernenden der Sprachenvergleich dar. Die eigene Erstsprache und die Zweit-sprache werden miteinander kontrastiert und im Sinne der language awareness (vgl. Oomen-Welke/Rösch 2015) zum Lerngegenstand. Dem Sprachenvergleich wird, obwohl dies bisher noch nicht empirisch gestärkt ist, eine zentrale Bedeutung für DaZ-Lernende beigemessen.

Analysen sprachenvergleichender Aufgaben von Deutschlehrwerken für vier werksreihen der Primar- und Sekundarstufe (Marx 2014) ebenso wie für fünf Lehr-werksreihen der Primarstufe (Geist 2017) zeigen, dass das Potential im Sinne einer Didaktik der Sprachenvielfalt (Oomen-Welke 2008, S. 479) in quantitativer und quali-tativer Hinsicht bei Weitem noch nicht ausgeschöpft wird. (Geist/Krafft 2017, S. 124)

Auch Topalovic/Michalak (2015) plädieren dafür, insbesondere für Lerngrup-pen mit Kindern deutscher Erst- und Zweitsprache fruchtbare Ansätze wie das Entdecken von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Sprachen zu filtern und einander gegenüberzustellen. DaZ-Lernende können so Hilfe im Spracher-werbsprozess erfahren und DaE-Lernende bekommen Anlass zur Reflexion (vgl.

Topalovic/Michalak 2015, S. 254–255). Auch abgesehen von Deutsch als Erst-und Zweitsprache kann der Vergleich mit Fremdsprachen, die die Schüler*innen in der Schule lernen sinnvoll sein. Für Fachbegriffe ist oft der Rückgriff auf den Lateinunterricht oder romanische Sprachen sinnstiftend (vgl. Kipf 2017, 171).

Sprachreflexion betrifft nicht nur den Bereich Grammatik und Wortschatz, sondern es handelt sich um eine übergreifende Aufgabe, die auch die*der Ler-nende kontrollieren kann – zum Beispiel metakognitive Aufgaben im Sinne der Steuerung des Sprachprozesses. So geschehen beispielsweise auch Lesestrate-gien auf Metaebene (vgl. Budde 2015, S. 70). Schließlich stehen die Lehrkräfte in der Verantwortung, sprachliche Reflexionsanlässe zu erkennen und solche zu schaffen.

Die Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik machen einerseits die Notwendig-keit von Sprachsensibilität im Fachunterricht erneut deutlich. Andererseits zeigen sie Möglichkeiten der Umsetzung sprachsensiblen Fachunterrichts auf. Insofern bilden die Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik eine zentrale Grundlage für die Design-Kriterien, die im folgenden Kapitel dargestellt werden. Besondere Bedeutung kommt dem Scaffolding auf Makro-Ebene

zu, da die Erhebungen in der Studie vorwiegend auf der Ebene der schriftli-chen Sprachproduktion stattfinden und die mündliche Kommunikation nicht unmittelbar Untersuchungsgegenstand ist. Die dargestellten Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik leiten sich nicht (nur) aus der Forschungsliteratur ab, sondern nehmen auch Bezug auf Praxishandbücher. So fassen beispiels-weise die häufig referierten Arbeiten von Beese (2014) und Leisen (2013, 2015) Erkenntnisse aus der Sprachdidaktik (für Lehrkräfte ungeachtet ihrer Fächerkombination) zusammen und veranschaulichen die Ausführungen mit Unterrichtsbeispielen. Es sei dennoch herausgestellt, dass wissenschaft-liche Erkenntnisse in den Praxishandbücher mit dem Wunsch besserer interdisziplinärer Verständlichkeit teilweise verkürzt dargestellt werden.

Im Rahmen einer Arbeit im Design-Based Research erscheint dieser praxisnahe Zugriff dennoch angemessen.

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