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DIE REZEPTION NIETZSCHES. DIE ANTIKE

Es gab in Polen eine lebhafte Rezeption der Gedanken Nietz- sches, die begünstigt wurde durch die politische und geistige Unterdrückung. Im Bann nutzloser Träume und falscher Utopien schmachtete die avantgardistische Jugend nach der befreienden Tat. Der Realismus und die moderne Psychologie betonten nur die Schwäche und Kleinheit des Menschen. Deshalb konnte die Idee vom

"Übermenschen" solche Anziehungskraft gewinnen. Inwieweit Wys- piański die Werke Nietzsches gelesen hat, ist nicht geklärt105;

mit den Grundgedanken war er auf jeden Fall vertraut. Die philo- sophischen Probleme seiner Dramen spiegeln die Auseinanderset- zung mit Nietzsche; wesentliche Elemente wurden von Wyspiański auf genommen und verarbeitet. So ist die Idee der "ewigen Wieder- kehr" ein Motiv in vielen seiner Dramen und prägte auch sein

per-104 Ebd. S. 609.

105 Siehe; A. £empicka; W. Pisarz dramatyczny. S. 101 ff. (Fragen des Nietzscheanismus).

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sönliches Weltverständnis. Die Relativierung des Wertsystems im Kampf um das überleben der Völker wurzelt ebenso in der Phi-losophie Nietzsches wie die Verherrlichung des sich stets er-neuernden Lebens.

Wyspiański, der inmitten eines Volkes lebte, das sich im Zustand politischer Ohnmacht befand, wurde durch seinen Auf-trag als "wieszcz" selbst in die Rolle eines "Übermenschen" ge-drängt. Dazu kam seine eigene körperliche Schwäche, der er wahr-haft übernatürliche Kräfte entgegensetzte. So läßt es sich er-klären, daß er inmitten von Lethargie und Resignation zum Ver-künder der Tat wurde, und so entstand gerade in einem kleinen Volk der Gedanke eines monumentalen Theaters.

Innerhalb des philosophischen Weltbildes, das Nietzsche ent-warf, übte seine aus dem Geist des Künstlers, nicht des Philoso-phen geborene Neuinterpretation der Antike auf Wyspiański beson-dere Faszination aus. Wyspiański hatte nicht nur eine gründliche humanistische Bildung erhalten, sondern die Antike war ihm zeit seines Lebens eine Quelle künstlerischer Anregung und zugleich Element des eigenen Denkens und Lebens. Griechenland blieb für ihn immer "die Herrin seiner Träume"10^. Nietzsches Auffassung vom Griechentum, die dem Winckelmannschen Ideal der "edlen

Ein-falt und stillen Größe" die Dialektik von Rausch und Traum, von Einheit und Vielfalt, von dionysischem Entsetzen und seiner

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digung durch die "heilkundige Zauberin, die Kunst" entgegen-setzte, ermöglichte dem modernen Künstler eine erneute Rezeption der Antike und des mythischen Stoffes. Das "immer von neuem wie-der spielende Aufbauen und Zertrümmern wie-der Individualwelt"109

106 In der Idee der "Palingenese" Überlagern sich bei Wyspiańs- ki wohl Vorstellungen der griechischen Philosophie und des christlichen Auferstehungsgedankens mit Nietzsches Glauben an die Unzerstörbarkeit des Lebens. Auch der Einfluß von Słowackis "Król Duch" ist hier spürbar.

107 Okońska: St. Wyspiański. S. 215. Okońska zitiert aus einem Brief Wyspiańskis an Karol Maszkowski.

108 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Gei- ste der Musik. Werke. Berlin 1972. Bd. III. 1, S. 53.

109 Ebd. S. 150.

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konnte auch für das neue Jahrhundert zu einem Thema für die künstlerische Gestaltung werden. Das Erlebnis der Zerrissenheit und das Verlangen nach Einheit kennzeichnen den modernen Helden und so wird er in den alten Mythos als neues Bild integriert.

Im Antagonismus von Selbsterfahrung und Welterfahrung wird der Mythos neu gedeutet. Die Bilder der Götter verblassen, die Le- bensphilosophie stellt das menschliche Individuum in den Mittel- punkt ihrer Betrachtung. Die Psychologie findet in der Mythologie alle Urformen menschlichen Verhaltens vorgebildet und sieht in den Göttern Projektionen der menschlichen Seele. Die Helden von Wyspiańskis antiken Dramen sind tragisch als Erkennende. Nicht

ihr Scheitern ist tragisch, nicht ihre Konfrontation mit ewigen Gesetzen des Seins, sondern ihre Einsicht in diese Gesetze. Es

ist die Einsicht in die Notwendigkeit der eigenen Vernichtung, und die Versöhnung liegt auch eben in der Einsicht des Helden, daß, wie Nietzsche sagt, "das ewige Leben des Willens durch

seine Vernichtung nicht berührt wird*1110. So endet die "Achil- leis" bei Wyspiański nicht mit dem Tod des Achill, sondern mit der Apotheose der Helena-Aphrodite als Sinnbild der ewigen Wie- dergeburt von Schönheit (Kunst) und Liebe (Leben).

Jan Nowakowski spricht in seinen Studien über die Dramen Wys-piańskis von der Auflösung komplexer Mythen durch den Dramatiker und von der Neuerschaffung mythischer Komplexe durch eine eigen-willige Psychoanalyse.111 Wyspiański konzipiert in der geistigen Nachfolge Nietzsches den Helden, der über die Menge hinaus- wächst 112; aber er läßt Nietzsche weit hinter sich in der

Kon-zeption des Mythos der Masse, des Kollektivs. Dem individuellen Schicksal gesellt sich untrennbar das Schicksal des Volkes, dem 110 Ebd. S. 104.

111 Jan Nowakowski; Studia o dramatach. S. 7 ff.

112 Hektor ist der Mensch, "der über die anderen hinauswuchs":

S.W. VII, S. 11. Achill ist, nach den Worten von Priamos,

"über die ändern hinausgewachsen mit göttlicher Seele":

S.W., VII, S. 150.

der Held zugehört, und der Dramatiker gestaltet eben dieses komplexe Verhältnis. "Die antiken Motive" ־ schrieb Lesław Eu־

stachiewicz ־

waren für Wyspiański ein Instrument künstlerischer

Erkenntnis, mit Hilfe dessen er ebenso zum Unterbewußt־

sein des individuellen Lebens vorstieß wie zum überbe- wußtsein des kollektiven Lebens. Seinem Interesse fern lag der mittlere Bereich ־ der alltäglichen Psychologie und der naturalistischen Aesthetik. Eben den Weg aber, den er einschlug, beschritt in den folgenden Jahrzenten das europäische D r a m a J ^

Für Wyspiański lag der Begriff des Kollektiven im Volk, in der Nation beschlossen. Zum Begriff der Gesellschaft drang er noch nicht vor. Dies blieb dem Theater des zwanzigsten Jahrhunderts Vorbehalten. Was der Theaterwissenschaftler Christoph Trilse

in Bezug auf Brecht schrieb, nämlich, daß das Aufgreifen anti־

ker Stoffe durch Bertolt Brecht "das Provozieren seiner Zeit und das Vermitteln von Einsichten zum Ziel gehabt hat, primär die Aktualität"114, läßt sich allgemein auf die Dramatiker un־

seres Jahrhunderts übertragen, die antike Stoffe gestaltet ha-ben. Ebenso aber auch auf Wyspiański, und dies macht seine то-derne Auffassung augenfällig. Gerhart Hauptmanns "Bogen des Odysseus" und Emile Verhaerens "Helène de Sparte", aber auch Hugo von Hofmannsthals "Elektra" sind großartige dramatische Gesänge vom Los den Einzelnen. Doch wird noch nicht die kühne Übertragung der Fabel in die zeitgenössische Situation gelei-stet, wie sie Wyspiański angesichts des Schicksals seiner eige-nen Nation in seieige-nen Dramen vornahm. In der dramatischen Dar-Stellung der Wechselbeziehung zwischen Individuum und Masse liegt Wyspiańskis Stärke. Sie entfaltete sich erst in den spä-teren Dramen wie "Achilleis", um bei den Stücken mit antiker Thematik zu bleiben. Die Zeichnung einer Einzelfigur wie in dem Frühwerk "Meleager" gelang ihm nicht so gut. Vielleicht liegt

113 L. Eustachiewicz: Antyk Wyspiańskiego. In: Pam.Lit. LX, 1969, 1, S. 21.

114 Christoph Trilse: Antike und Theater heute. Berlin 1975.

S. 92.

der Grund für die negative Einschätzung Claude Backvis1 daß Wyspiańskis Charaktere Skizzen seien, daß es ihjn. "in beschä- mender Weise an Interesse für den Menschen mangle",15 ו in die-

ser engen Verquickung von individuellen und kollektivem Bewußt- sein in der dramatischen Darstellung. Seinen Höhepunkt findet dieses Streben nach einem totalen Erfassen menschlicher Wirk- lichkeit innerhalb einer sich zum Mythos formenden Geschichte in den Dramen ohne individuellen Helden wie "Noc listopadowa",

"Wesele" oder "Akropolis".

In den homerischen Epen fand Wyspiański den Stoff für die monumentale Gestaltung individualer Schicksale, die eingebettet

sind in den großen Strom des kollektiven Schicksals. 1896 begann Wyspiański mit dem Entwurf von Illustrationen zur "Ilias", de- ren erstes Buch sein Freund Rydel ins Polnische übersetzt hatte.

Er übernahm aber nicht die traditionell-klassische Auffassung der Homerischen Helden, sondern er schuf frische, lebendige Ge- stalten mit volkstümlichen Zügen und zeichnete sie in der deko- rativen Linienführung des Jugendstils. Hier war schon die Uber- tragung der antiken Welt in die zeitgenössische vorbereitet, die später in den iliadischen Dramen ihren dichterischen Ausdruck fand.

Die Darstellung des mythischen Zyklus ließ sich nicht in die Form der klassischen Tragödie zwingen. Ein Brief Wyspiańskis an Rydel zu Beginn der neunziger Jahre zeugt noch von seiner ur- sprünglich engen Auslegung der traditionellen Dramentheorie. Die Handlung des Dramas soll sich an einem Tag abspielen, ohne die- se Einheit kann er sich das Drama nicht vorstellen: "Griechen- land und nochmals Griechenland, was dies anbetrifft."11^ Als 115 Claude Backvis: "Teatr Wyspiańskiego jako urzeczywistnienie

polskiej koncepcji dramatu." In: Pam.Teatr., VI, 1957, 3/4 S. 405 ff.

116 Siehe: A. íempicka: Vorwort zur Gesamtausgabe. S.W., I, S. XXII.

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er zehn Jahre später den Stoff der Ilias in sechszundzwanzig szenischen Bildern zu einem großen epischen Drama komponierte, modifizierte er diese Ansicht. Obgleich Wyspiański in den bei- den Stücken mit zeitgenössischer Thematik aus dem Alltagsle- ben des polnischen Dorfes, "Klątwa" und "Sędziowie", die Ge- schlossenheit und dramatische Einheit der klassischen TragÖ- die nachahmte, löste er sich in seinen bedeutendsten Theater- werken formal vom antiken Vorbild. Schon in Wyspiańskis frühen

Bearbeitungen antiker Stoffe verlor der Chor an manchen Stel- len die Funktion als feierlicher, unpersönlicher Betrachter und Kommentator und wurde zur erregten Stimme des Volkes, wur- de wichtig vor allem als Träger der Bewegung, als ein bildhaf-

tes Element.

In den späteren Dramen löste sich Wyspiańskis Rezeption der Antike von der psychologischen Transkription vorgegebener Mo-

tive und Stoffe. Der antike Sagenkreis war nur mehr eine der Quellen, aus denen er schöpfte, um im modernen Zuschauer "den Gedanken zu erwecken und den Geist zu erschüttern".117 Als phantastisch tut Hanna Filipowska in ihrer Dissertation "Wśród bogów i bohaterów" die Interpretation der "Achilleis" durch den Regisseur Viktor Brumer ab, der in "Achilleis" das pia- stische Abbild des großen Geistes der polnischen Nation sah.

Aber gilt nicht auch hier, was Wyspiański von Hamlet sagt: Das Problem des polnischen Hamlet ist: - was gibt es in Polen zu bedenken?11®