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Rekonstruktion der religionssynibolistischen Genealogie:

Methodischer Aufbau und Kapitelübersicht

Die vorliegende Dissertation gliedert sich in vier Kapitel. Sie untersucht Texte von 1898 bis 1927, konzentriert sich aber auf das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts. Diese Einteilung scheint eine evolutionäre Dimensio- nierung der Konzeptionen des Symbolismus nahezulegen, ist aber nicht be- absichtigt. Vielmehr geht es um die Rekonstruktion dieser spezifischen Genealogie, deren Problematik auch in theoretischer Hinsicht aufgezeigt werden soll. Im ersten Kapitel werden am Beispiel von Vladimir Solov'evs Sinn der Liebe, Zinaida Gippius' Metaphysik der Liehe und Lydia Zino- v'eva-Annibals Vorstellung der lesbischen Liebe Konzeptionen des Silber- nen Zeitalters49 vorgestellt, die auf einer gnostischen Kunstreligion basieren und eine keusche Wollust "vor-schreiben", die die Fortpflanzung aus- schließt. Die Texte dieser Zeit sind generell unter der Prämisse von Literatur als "Religionsersatz" bzw. "Ersatzreligion" zu verstehen. Sie übernehmen religiöse Funktion, das heißt, sie bieten ein soteriologisches Modell an, ein Erlösungsmodell als Alternative zum herkömmlichen, das die im modernen Bewußtsein abgespaltenen Traditionen des Religiösen kreativ nutzt: ״ Aus der Sicht der kirchlich-dogmatischen " O r t h o d o x i e " könnte man zu der

49 Der Beginn des 20 Jahrhunderts wird in der russischen Literatur als Silbernes Zeitalter be- zeichnet im Unterschied zum Goldenen Zeitalter am Anfang des 19 Jahrhunderts als Bezeichnung der Puškin-Epoche

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Auffassung kommen (und dies ist in der religionsphilosophischen Debatte der Jahrhundertwende vielfach geschehen), daß der Symbolismus die Kunst an jene pragmatische Position in der Kultur rückt, wo traditionellerweise die häretischen Religions־ und Ideologiesysteme beheimatet waren (also in der Sphäre der Subkultur, der Folklore, der kulturellen Peripherie etc.) Die romantische wie die symbolistische Mythopoesie ersetzt das die religiösen Urbedürfhisse des modernen Menschen nicht mehr befriedigende System kirchlich institutionalisierter Religiosität und den gesamten Komplex des

"Glaubens" als eines voluntaristischen Akts durch die Reaktivierung des Mythisch-Mystischen und der ihm eigenen Sub- und Antikultur. Damit soll der dem Bewußtsein und seiner Rationalität antagonistisch entgegenwir- kende Willensakt des "Glaubens" ("credo quia absurdum") durch die im Un- bewußten wurzelnde E v i d e n z , also das Aufscheinen und 11 Aufsteigen"

des Mythischen ersetzt werden.“ 50

Wichtig für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist der Aspekt, daß das literarische Religionssystem der Symbolisten die von der traditionellen Vaterreligion verdrängte, weibliche Seite der Religion reaktivierte. Als Er- lösungsmodell gedacht, sollte es die in der Christologie dominant gewordene Fremderlösung durch einen schöpferischen Kunstakt ersetzen, dessen Pro- jektion in männlichen bzw. weiblichen Erlösergestalten personifiziert wurde:

״ Während im SI der Projektionsakt selbstwertig (also ästhetisch autonom) wird, nimmt er im Religionssymbolismus des SII gleichsam "Fleisch" an bzw. wird in maskulinen oder femininen Erlösergestalten personifiziert. Auffällig ist, daß im SII vor dem Hintergrund der kanonisierten neutestamentarischen Motive der Fremderlösung (durch Jesus Christus) das heterodoxe Modell der Selbster­

50 Aagc A Hanscn-Lóvc Kunsłrehgton und Rehgionskunst Dieser Text liegt mir als lYposknpt vor 27

lösung (des Künstlermenschen als Neuer Dionysos) dominiert. Dieses Konzept, das im religiösen Wahn des Automessianismus gipfelt, setzt einerseits die mys- tisch-hermetische (bzw. nach C G. Jung alchemistische) Tradition der Selbst- erlösung fort und entwickelt andererseits das im dekadenten Frühsymbolismus etablierte Bild des Dichter-Demiurgen, der einer Fremderlösung nicht bedarf.“51 Dem urchristlichen Verständnis entsprechend vereinigten die Symbolisten in ihren Texten die inkarnierte göttliche Sophia mit dem Logos des Vaters. Daraus resultierte eine Verlagerung der Geschlechterzuordnung, die der sektantischen Idee des Transsexualismus entspringt: "Das Herz bzw. die Anima des sich opfernden Mannes erscheint als Braut, die sich mit dem Himmlischen Bräuti- gam auf mystisch-erotische Weise vereint."52 Solov'ev imaginierte eine Vereini- gung mit der himmlischen Sophia, seiner ewigen Freundin, die männliche Züge trägt, während Zinaida Gippius' sich als Braut Christi dachte, die weibliche Züge trägt Die Textanalysen zeigen, daß die Liebessemantik beider Schrift- steiler durch deren virtuelle Androgynie, d.h. der Verweiblichung des M an n es

im Falle Solov'ev bzw. der Vermännlichung der Frau im Falle Gippius bestimmt ist. Im Falle Zinov'eva-Annibals wird einerseits der Problemkreis der Homo- erotik aufgegriffen, andererseits die Suche nach einem genuin weiblichen Ort in der Literatur. Diese Suche kristallisiert sich innerhalb des ausgewählten Textes gerade durch die Gegenüberstellung von Sophia-Projektion (das Problem des

"die Frau schreibenden Mannes") und schreibender Muse heraus.

Im zweiten Kapitel wird das Phänomen der männlichen Hysterie an den jüngeren Symbolisten Aleksandr Blok (1880-1921) und Andrej Belyj (1880- 1934) untersucht. Bloks Kult der Schönen Dame (Prekrasnaja Dama) und

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51 Aagc A Hanscn-Lovc ,‘Zur psychopoc&schcn Typologie", in Wiener Slawtsnscher Almanach Sonderband 31, Wien 1992, S 195-288. S 220

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seine Dekonstruktion im Mythos der Unbekannten (Neznakomka) ist ein Bei- spiel dafür. An ausgewählten Gedichten aus dem lyrischen Zyklus der Verse von der Schönen Darne (Stichi о Prekrasnoj Dame) von 1901 und 1902 wird deutlich, daß es sich bei der männlichen Hysterie um die Maskerade eines effeminierten Mannes handelt, die paradigmatisch fur das symbolistische iizne- tvorčestvo ist. Als Gegenstimme dieses Kultes der Schönen Dame, der die Fest- Schreibung der Frau im Leben und in der Kunst offenbart, ist ein autobiogra- phischer Text mit dem signifikanten Titel Dichtung und Wahrheit zu sehen. Er wurde von Bloks Ehefrau, Ljubov' Dmitrievna Mendeleeva-Blok, geschrieben und ist Zeugnis für die offenkundige Ver-/Entstellung der Frau und die Stelle der Frau als Entstellung für die symbolistische Theorie.s3

Belyjs erster Roman Serebrjanyj golub' (Die Silberne Taube), der auf ironisch-groteske Weise die Vision einer zweiten Parusie Christi ad absurdum führt und damit rückwirkend die Mythisierung der Häretik innerhalb des Sym- bolismus ins Lächerliche zieht, offenbart ebenso ein strukturelles Moment der Hysterie. In den Veitstänzen Andrej Belyjs, die die Ekstatik der Sektanten- Tänze widerspiegeln, zeigt sich der hysterische Körper des Schriftstellers, der sich als Wortkörper im Text fortsetzt: Die Kreisbewegungen des Tanzes sind signifikant für die literarische Struktur dieses Romans. In diesem Kapitel wird gezeigt, daß gerade die männliche Hysterie das Konzept der Androgynität im Silbernen Zeitalter belebte und damit letztendlich die Festschreibung von Ge- schlechterstereotypen weiterverfolgte.54

52 Ebd

53 Diese Formulierung übernehme ich von Bcttmc Mchnkc ״ Die Verstellung und die schone Stimme", in: Raum und Verfahren, hg von Jorg Huber und Alois Martin Müller, Basel, Frank- furt/Main 1993

54 Vgl in diesem Zusammenhang Georges Didi-Hubcrmann Die Erfindung der Hysterie Die photo- graphische Klinik von Jean-Marnn Charcot. Münchcn 1997, S 366

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Im dritten Kapitel steht das žiznetvorčestvo als Text-Vor-Schrift zur Dis- kussion Untersucht wird seine Auswirkung auf die Textproduktion und auf das Verhalten von Mann und Frau innerhalb des symbolistischen Zirkels. Valerij Bijusovs historischer Roman Ognennyj ange! (Der feurige Engel) von 1908 offenbart die zirkuläre Semantik (kružkovaja semantika) des žiznetvorčestvo, einem zirkulären (Text-)begehren, das dem Wunsch nach "kollektiver Schöp־

fimg" entsprechen sollte. In der Art des sektanüschen Kollektivismus, der nur Brüder und Schwester kennt und hinter die monogame Ehestruktur zurückgeht, entstanden komplizierte Dreiecksbeziehungen, die als Resultat des Žiznetvor- Čestvo zu sehen sind. Sie sind weiteres Anzeichen für die Ästhetisienmg bzw Theatralisienmg des Lebens und damit des Verhältnisses von Mann und Frau und verweisen auf den performativen Charakter des gesamten Žiznetvorčestvo:

"Das Buch des Lebens muß gelebt werden, nicht gelesen; genau diese Theatrali״

sierung des Textuellen, diese Verwandlung des kontemplativen und distanziert- aufschiebenden "sozercanie" in das Žiznetvorčestvo bildet den Kem der sym- bolistischen Lebens-Kunst in der Modeme."55

Die Religionssymbolisten substituierten die religiöse Trinität, die Dreiheit der göttlichen Personen in Dreiecksbeziehungen, die paradigmatisch für die Polarisierung von Leben und Kunst wurde. Dreiecksbeziehungen solcher Art führten sowohl die älteren Symbolisten Zinaida Gippius, Dmitrij Merežkovskij, Vjačeslav Ivanov und Valerij Brjusov, als auch die zweite Generation der Sym- bolisten, die sogenannten jüngeren Symbolisten Aleksandr Blok und Andrej Beiyj. Auf welche Weise der jeweils "Dritte"1 im Bunde in ein bereits existie- rendes Verhältnis integriert wird und welche Auswirkungen dies auf den Schaffensprozeß nimmt, bildet ein wichtiges Kriterium in diesem Kapitel. In der

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55 Vgl Aagc A Hanscn-Lövc, 1996. op cit .S 213

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Textanalyse wird dargelegt, welche Funktion das "Gesetz des Dritten" für die Poetik des literarischen Textes einnimmt und welchen Einfluß umgekehrt der literarische Text auf die reale Frau nahm, in diesem konkreten Falle auf Nina Petrovskaja, eine der "Musen" des Symbolismus. Wenn die männliche Hysterie sich im Silbernen Zeitalter als "Maskerade eines effeminierten Mannes" offen- bart und mit der Selbstzensur bzw. Verleugnung des Begehrens einhergeht, kann man die weibliche Hysterie als "Maskerade der Weiblichkeit" be- zeichnen, die der Enteignung des Begehrens durch den (hysterischen) Mann entspringt.

Im abschließenden Teil der Dissertation wird ein spezifisches Phänomen der russischen Literatur vorgestellt: Der Petersburger Text, ein männlicher Stadttext, der weibliche Züge trägt. Die Petersburger Intelligencija als das geistige Zentrum Rußlands problematisierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer bewußter ihre eigene kulturelle und damit geschlechtliche Identität. Das Unbehagen an der russischen Kultur wurde durch den Zitatcharakter der Stadt Petersburg - die die Kulisse ihrer Texte, den Schauplatz für die Erscheinung des Ewigen Weiblichen und der Schönen I)ame bildet ־ ausgelöst. Petersburg als Mythos, "geschaffen von der männlichen Hand Peters des Großen, der in einem gewaltsamen Akt der Selbstkolonialisierung die weibliche Seele Rußlands versklavte und sie der Geometrie des westlichen Denkens unterwarf', er- schlitterte das Verhältnis der Intelligencija zu ihrem eigenen Ursprung und ver- stärkte die Einsicht ihres Schaffens als Zitat von Zitaten. 56 Nicht umsonst stehen Wiedergeburtsphantasien als zentraler Stimulus für die Textproduktion der Symbolisten. Sie sind begleitet von einem Auslöschen des mütterlichen

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56 Bons Groys: ”Petcrs^rg/Pctrograd/Lcningrad Eine Stadt und ihre Namen", in: Petersburger Träume, Hg von Wolfgang Lange, München 1992. S 291-302. S 294

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pers, der Verneinung des weiblichen Ursprungs schlechthin bzw. der Übertra- gung aller Vaterfunktionen auf die Mutter, die dadurch ambivalent wird.

Ein Text aus der Avantgarde ־ Kozlmaja pesri (IJas Ziegenlied) von Konstantin Vaginov (1899-1934) - thematisiert diese Suche der Intelligencija nach kultureller und geschlechtlicher Identität. Als Petersburger Autor und Angehöriger der alten Petersburger Intelligencija steht Vaginov selbst am Ende dieser langen Tradition innerhalb der russischen Literatur und Kultur. Er schreibt den Petersburger Text zu Ende und schreibt ihn gleichzeitig von seinem Ende her. Als letztes *'Petersburger Märchen" und Abgesang auf die alte Kultur, wie Vaginov Kozlmaja pesn׳ resigniert bezeichnet, leitet er die Todes- stunde der Petersburger Intelligencija ein. Dieser Text gehört zu jenem Werk- korpus der russischen Modeme, die vor dem Hintergrund eines doppelten Para- digmenwechels als Ergebnis der sogenannten Kunstrevolution von 1910/13 und der Oktoverrevolution von 1917 entstehen 57 Der vollkommene Traditionsbruch und ganzheitliche kulturelle Systemwandel wird zum Ausgangspunkt für jene narrativen Verfahren, die in der Textproduktion dieser Zeit eine Konfrontation von Symbolismus und Avantgardismus bedingten. Die Frage danach, auf welche Weise sich die Umwertung und Umwandlung des symbolistischen Kunstmodells des Automessianismus bzw der Autosoteriologie in ein Modell der grotesken Soteriologie vollzog (wie am Beispiel von Vaginovs Kozlmaja pesn' gezeigt wird), bildet in diesem letzten Kapitel die Argumentationsbasis, an der die Frage nach der Semiotik des Verhaltens unter der Perspektive der Ge- schlechter-Differenz diskutiert wird. Eine große Rolle bei der Bewertung dieser Frage spielt die politische Realität der in den zwanziger Jahren forciert

be-57 Fcüx Philipp Ingold ',Kunsttext und Lebenstext Thesen und Beispiele zum Verhältnis zwischen Kunst-Werk und Alltags-Wirklichkeit im russischen Modernismus", in Welt der Slaven, 1981, 26, S 37-61

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triebenen Angleichung der Geschlechter zum Aufbau der sozialistischen Gesell- schaft. Sie basierte auf einem Konzept des "Postgeschlechtlichen", insofern sie den geschlechtslosen homo sovieticus propagierte.