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S. Eros pontifex:

10. Mimesis und Mimikry:

Das symbolistische tiznetvorčestvo.

A recűtbtís a d realiora VjaČeslav Ivanov4

Die russischen Symbolisten, allen voran die älteren Symbolisten (staršie simvolisty) Zinaida Gippius und Dmitrij Merežkovskij, Vjaceslav Ivanov und Lidija Zinov'eva-Annibal, sowie die jüngeren Symbolisten (mladšie simvolisty) Aleksandr Blok und Andrej Belyj lebten und arbeiteten unter dem selbstauf- erlegten Konzept des iiznetvorčestvo; "Aus neuen Menschenzusammenklän- gen sollte, so hofften sie, eine neue Geistigkeit entspringen."5 Vjaceslav Ivanov dachte dabei an einen einheitlichen Körper, in dem die unterschiedlichsten Menschen harmonisch vereint wären 6 Dies implizierte auch eine neue Art, das Geschlechtsverhältnis zu leben. Die Dreierbeziehung schien den Symbolisten wie auf den Leib geschneidert:

[ ] sie boten [ ] den einzelnen Protagonisten die Möglichkeit, mit sich selbst sowohl aktiv als auch passiv in Kontakt zu treten Daher auch V Ivanovs markantes Interesse am opfernden bzw geopferten G ott Dionysos, der Agens und Patiens, Subjekt und Objekt, Mann und Frau in einem ist Darüber hinaus ließe sich im Sinne von J Lacans Ge- schlechtstheorie annehmen, daß durch die Triangularitat eben jenes *,Dritte" realisiert werden sollte, das im Grunde das Symbolische ausmacht, also eigentlich den V a t e r, ge- nauer sein Prinzip, seinen Namen [ ] Die Selbst-Umbenennung des Dichters, der ein Pseudonym wählt, wie dies im Symbolismus mehrfach zu beobachten ist (Belyj, Sologub 4 Vja&slav Ivanov "Dvc sDchu v sovrcmcnnom sunvoüzme" (Zwei Gcdichtc im zatgcnossischai Symbolismus), in Zolotoe nmo, 1908, 3/4, S 86-94

5 Margarita Woioschin Die grüne Schlange, Stuttgart 1987, S 184

6 Vja&slav Ivanov Sohrante SoCinenij, Bd I, Brussel 1971, S 95 Ivanovs Vorstellung eines einheit-

etc ) ist dem Überschreiten des Inzestverbots vergleichbar, also der Ausstreichung des

"Namen-des-Vaters" und der autonomen Namen-Wahl, d h der Ursurpierung des vater- liehen Phallus (Lacan) Das Abwesende, reale Urverdrangte ist es eigentlich, was vom Inzestverbot gewahrt werden soll [ ] der Urvater, der phallische Signifikant, der nach Lacan mit "Kreation, Schrift und Gesetz" gleichgesetzt wird Die Schrift (mehr noch die Kunst) dient der Realisierung des Vollkommenheitsphantasmas, also einer Vermeidungs־

Strategie, den fundamentalen Mangel nicht zu akzeptieren Im Ödipuskomplex wird die Illusion realisiert, als ware das Verbot des Objekts des Begehrens (die M utter-Geliebte) außer Kraft gesetzt Das "Theater" als permanent inszenierter Ödipuskomplex dient eigentlich der Vermeidung der Erfahrung, daß es das Objekt des Begehrens eigentlich nicht gibt [ ], das Symptom (bzw die Symbolwelt) tritt an die Stelle des Unm öglichen7

In der Projektion auf die göttliche Dreieinheit, der mystischen Verschmelzung mit der Sophia wurde das Religiöse an das Sexuelle gekoppelt. Orgjasmus und die Slavophile Idee der sobomost ,(Ökumene) sollten als Vereintes gelebt wer- den. Die berühmten Mittwochsgesellschaften der Ivanovs gaben dafür einen

g

ersten Anstoß.

Ziel der Symbolisten war es, das vereinzelte leere Ich zum erfüllten Selbst und das reale Leben in eine andere Welt (mir moj) zu transformieren, die gleichzeitig Kunstwelt war. Gemäß diesem Streben nach der Vernetzung von Kunst und Leben trennten die Symbolisten die literarische nicht von der persönlichen Biographie, vielmehr erlebten sie die Ereignisse des Lebens als Teil ihrer inneren Welt und Teil ihres Schaffens. Umgekehrt wurden ihre Texte zu ,realen' Ereignissen für alle:

Simvolisti prežde vsego ne choteli otdelat’ pisatelja ot Čeloveka, literatumuju biogrāfiju ot lifcnoj Simvolizm ne chotel byt' tol׳ko chudožestvennoj Skoloj, literatumym tečeniem Vse vremja on poryvalsja stat' Žiznenno tvorčeskim metodom (Hervorhebung von mir, D R .), i v tom byla ego glubočajšaja, byt' možet, nevypolnimaja pravda, i v ėtom posto- jannom stremlenii protekla, v sušČnosti, vsja ego istorija Ė to byl rjad popytok, poroj 7 Aagc A Hansen-Lovc "Zur psychopoc&schcn Typologie", m Wiener Statistischer Almanach.

Sonderband 31, Wien 1992. S 195-289, S 224

8 Vgl in diesem Zusammenhang Nikołaj Berdjaev "Ivanovskie srody", in Russkaja Literatura XX veka.Kn 8, S. 97-100 und Alexander Etkind Eros des Unmöglichen Die Geschichte der Psychoana- lyse in Rußland.Leipzig 19%, S 62

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istinno gcroiČeskich, najti bezukoriznenno vemyj splav žizni 1 tvorčestva, svocgo roda filosofskij kamen' iskusstva

Die Symbolisten wollten vor allem den Schriftsteller nicht vom Menschen und die literarische nicht von der persönlichen Biographie trennen Der Symbolismus wollte nicht nur eine künstlerische Schule oder eine literarische Strömung sein Die ganze Zeit über bemühte er sich krampfhaft, eine lebensschöpferische Methode (Hervorhebung von mir, D R.) zu sein, und darin lag seine tiefe, vielleicht seine nichterfiillbare Wahrheit, und in diesem ständigen Bestreben verlief im Grunde seine ganze Geschichte Dies war eine Reihe zeitweise wahrhaft heldenhafter Versuche, eine einwandfreie, treue Legierung von Kunst und Leben zu finden, einen spezifischen philosophischen Stein der Kunst

Der Symbolismus sollte also die schöpferische Methode des Lebens sein. Auf diese Weise würden Kunst und Wirklichkeit gemeinsam geschaffen, als "au- thentischer Fall kollektiven Schaffens"10 Belyj definierte das Žiznetvorčestvo auf folgende Weise:

Žizn' est’ liCnoe tvorCestvo Umenie žit* est' nepreryvnoe tvorČestvo èto mgnovenie, rastjanuvšeesja v veČnost’ usiovija vnešnej neobchodimosti razryvajut tvorCeskij rjad i mgnovenie VeČnost' raspadaetsja na vodopad migov, obraz ázn i raspadaetsja na vodopad migov, obraz Žizni razpadaetsja na tysjačy obrazov, forma Žizni - na tysjaCy form Éti formy togda - formy iskusstva, t с oblomki cdinoj formy, cdinaja forma — tvor- Česki prożnaja ž iz n '11

Das Leben ist eine persönliche Schöpfung Die Fähigkeit zu leben ist ununterbrochene Kreativitat Es ist ein Moment, der sich in die Ewigkeit ausdehnt Die Bedingungen einer äußeren Notwendigkeit reißen den kreativen Fluß und den Augenblick auseinander Die Ewigkeit zersplittert in einen Wasserfall von Augenblicken, das Bild des Lebens in tau- sende Formen Diese Formen sind Formen der Kunst, das heißt Fragmente einer einzelnen Form, und diese einzelne Form ist das kreativ gelebte Leben

Der literarische Text war für ihn nicht anderes als ein "weiteres Fragment des kreativ gelebten Lebens", die "Emanation des allumfassenden Lebenstextes12״.

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9 Vladislav Chodasevit "Koncc Renaty" ("Renatas Ende"), (zuerst Pans 1927). zīt nach Russlaj èros dt filosofija ljubvi v Rossi! (Der russische Eros oder die Philosophie der hebe in Rußland% Moskva

1991, S 337-350, S 338 10 Ebd S 338f

11 Andrej Bcly) "Iskusstvo" (Dic Kunst), ]zuerst Moskva 19111, in Arabeski Slavtsche Propyläen.

Bd 63, München 1969, S 211-219, S 2 l6 f

Bijusov forderte vom Dichter, "er möge seine heiligen Opfer nicht nur den Gedichten bringen, sondern jeder Stunde seines Lebens [. . .] Möge der Dichter nicht seine Bücher schaffen, sondern sein Leben"13. Michail Kuzmin schrieb:

"Die Wiederholung der Gefühle und Ereignisse ist wirklich ein zielloses Spiel der Geschichte, ein Rad der Maskerade menschlichen Lebens"14. Dieser Aspekt der ,,Maskerade" entlarvt neben der theatralischen Inszenierung und Fiktionali- sienmg des Lebens den innersten Kern des iiznetvorčestvo: An der Maske, die die Symbolisten trugen, an dem Spiel, das sie spielten, an der Fiktion, der sie gehorchten.

Das Mimikryverhalten der russischen Symbolisten führte letztendlich auch zur Verfehlung von Mann und Frau und bewahrheitet damit genau jenen apo- diktischen Satz Lacans, der lautet: "Es gibt kein Geschlechtsverhältnis."15 In diesem Zusammenhang spricht das verheerende Scheitern des iiznetvorčestvo auf der existentiellen Ebene Bände:

Simvolizm upom o iskal v svoeij srede genija, kotoryj sumel by slit' ŽmV i tvorČestvo voedino My znaem t eper״, Čto genij takoj ne javilsja, formula ne byla otkryta Delo svdos' k tomu, čto istorija simvoliztov prevratilas' v istorijų razbytich žiznej, a ich tvorČestvo kak by nedovoplotilos'16

Der Symbolismus suchte in seiner Umgebung beharrlich nach einem Genie, das in der Lage gewesen wäre. Leben und Kunst zusammenfließen zu lassen H eute wissen wir, daß dieses Genie nicht gefunden wurde, diese Formel nicht entdeckt wurde Die ganze Sache führte dazu, die Geschichte des Symbolismus in die G eschichte z e rstö rte r Leben (Her־

vorhebung von mir, D R ) zu verwandeln, ihr Werk jedoch verwirklichte sich nicht vollständig

13 N| I čtobv on pnnosil sva "svjaščcnnyc žcrtvy" ne tol'ko stichami, no kaŽdym Časom svoej fizni, každ\־m Čuvstvom (...) Pust1 poct tvont ne svot krngi. a svoju z1znm, n i nach Grcčiškin und Lavrov, in hteratum oe nasledstvo Valenj Brjusov, Bd 85, Moskva 1976, S 331

14 Zit nach E E Dmitneva Russkaja Novella XXv, (Die mssische Novelle),Moskva 1990, S 5-14,

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Diese Verwandlung der Geschichte des Symbolismus in die Verwandlung der Geschichte zerstörter Leben gibt natürlich kein Erklärungsmodell für die künst- lerische Relevanz des Gesamtprojekts ab und wurde auch nicht deswegen er- wähnt. Es geht hier darum, zu zeigen, daß die Polarisierung von Kunst und Leben eine ganz spezifische Semiotik des Verhaltens erzeugte. Denn für die Symbolisten war Leben im Sinne von "Wirklichkeit" und Kunst nur in ihren Wunschträumen dasselbe; praktisch unternahmen sie wenig, um den Gegensatz zu überbnicken. Ihre Unfähigkeit, diese Aufgabe zu erfüllen, äußerte sich vor allem dann, daß sie Kunst und Leben nur insofern vereinen konnten, als sie ihr Leben ganz der Kunst weihten 17 Der Literaturkritiker und Dichter Vladislav Chodasevic beschreibt im Nachruf auf den Freitod der Schriftstellerin Nina Petrovskaja (1884-1924) die Auswirkungen des symbolistischen žiznetvor- čestvo auf das Leben der einzelnen Mitglieder folgendermaßen:

U čnost׳ postepenno stanovilas' kopilkoj pereSvanij, meškom, kuda ssypalis' nakoplennye bez razbora èmocij - "migi", po vyraženiju Brjusova "Berem my migi, ich gubja" [ ] nepresUnnoe stremlcnie pcreslraivat' mysi*, łizn*, otnoSenija, samyj daže obichod svoj po imperatīvu oČerednogo "pereživanija", vleklo simvolistov k neprestan- nomu akterstvu pered sarnimi soboj - k razygrivaniju sobstvennoj žizn'i kak by v teatre îgufich improvizacij (Hervorhebung von mir, D R ) Znali, fto igrajut N o igra stano vilas’ Žizn'ju Rasplaty byli ne teatral'nye "Istekaju kljukvennym sokom 1״ - kry dal blokovskij pajac No kljukvennyj sok inogda okazyvalsja krov*ju

Die "Person" wurde schrittweise zur Sparbüchse für Erlebnisse, zum Sack, in den die an- gehäuften Emotionen kritiklos hineingeschuttet wurden, "Augenblicke", wie sie Bijusov nennt "Nehmen wir die Augenblicke und richten sie zugrunde и Das unaufhörliche Be- streben, den Gedanken, das Leben, die Beziehungen, sogar seinen eigenen Beruf unter den Imperativ der zur Tagesordnung gehörenden Erlebnisse zu stellen, führte die Symbolisten zur unaufhörlichen Schauspielerei auch vor sich selbst - zum Durchspielen des eigenen Lebens im Theater flammender Improvisationen (Hervorhebung von mir, D R ) Man wußte, daß man spielte Aber aus dem Spiel wurde Leben Die Bezahlung war nicht theatralisch "Ich verblute an Beerensaft”, schrie der Bloksche Hanswurst Aber der Beerensaft erwies sich manchmal als B lu t19

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17 Vgl in diesem Zusammenhang Aleksandr Blok "0 sovremennom sostojanij russkogo simvohana"

119101, (Uber die zeitgenössische Situation des russischen Symbolismus), in Sobrame SoČtncmj v

Aus diesem Zitat geht hervor, daß sich innerhalb des symbolistischen žizne- tvorčestvo Mimesis, verstanden als Effekt der Darstellung einer bestimmten Rhetorik, und Mimikry, verstanden als theatralische Nachahmung derselben, wechselseitig bedingen und auf diese Weise ein intertextuelles Spiel zwischen Kunst und Leben evozieren. In seiner permanenten Theatralisierung der Lebens- und der Textwelt verweist das žiznetvorčestvo damit auf einen vorkulturellen Ort, in dem Vollkommenheit imaginiert werden kann: auf den phallischen Signifikanten, der paradigmatisch für den Verlust des Urvaters, der ungehemmten jouissance steht. Auf diese Weise avancierte das žiznetvorčestvo zum Phantasma der All-Einheit, die Solov'ev als Sinn der Liebe einklagte.