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Abbildung 7.4:Darstellung eines Lebensmitteldistributionsnetzwerkes mit einem Krankheitsfall und möglichen Ursprüngen nach Horn und Friedrich (2018, S. 3)

Verarbeiter Produzenten

Einzelhändler Distributoren

Tritt ein Krankheitsfall nach dem Verzehr eines kontaminierten Lebensmittels auf, kann der Versorgungsknoten an dem es gekauft wurde als infiziert betrachtet werden. Abbildung 7.4 stellt ein Versorgungsnetz dar, in dem sich eine Kontamination ausgebreitet hat, was zu Krankheitsmeldungen bei einem Einzelhändler geführt hat. Mit der abgebildeten Struktur ist es einfach, die Menge der möglichen Kontaminationsursprünge zu identifizieren.

Netzwerkstrukturinformationen, wie sie in FOODFLOW bestimmt werden, bieten somit einen ersten Einblick in das Ursprungsidentifikationsproblem.

Um zwischen den möglichen Ursprüngen zu unterscheiden, wird die Größe der Güterflüsse zwischen den Regionenflowcomi j zur Berechnung der relativen Übertragungswahrscheinlichkeitprobi j(Probability) herangezogen (Formel 7.1). Mit diesen Wahrscheinlichkeiten als Kantengewichte formuliert Horn den Transportprozess von kontaminierten Lebensmitteln durch das Versorgungsnetz als diskrete Markov-Kette. Dabei sind folgende zentrale Annahmen zu beachten: Die kontaminierte Menge an Lebensmitteln ist konstant und setzt sich aus einzelnen kontaminierten Einheiten zusammen, die auf ihrem Weg durch das Versorgungsnetz weder andere Einheiten kontaminieren noch sich selbst erholen. Außerdem bewegt sich jede kontaminierte Einheit unabhängig von anderen Einheiten durch das Versorgungsnetz. Dies entspricht einem natürlichen Übertragungsmodell für die nicht ansteckende Diffusion in einem gewichteten, gerichteten Netzwerk.

Um den tatsächlichen Ursprungsort (Source) abzuschätzen, verwendet Horn einen Maximum-Likelihood-Ansatz.

Dieser bestimmt den Versorgungsknotens(Supply) mit der höchsten Ursprungswahrscheinlichkeit in Abhängig-keit von der Menge der beobachten KrankheitsfälleK (Cases). Die Ursprungswahrscheinlichkeiten der einzelnen Versorgungsknotenprob(K| =s)können mit Hilfe der Übertragungswahrscheinlichkeitenprobi jmit Formel 7.3 ermittelt werden. Diese summieren die Wahrscheinlichkeitenprob( s|s)aller möglichen Pfades(Paths) über alle möglichen Versorgungsketten s 2Xs(Chains) zwischen den möglichen Ursprungsknoten und den beobachteten Krankheitsfällen2K (Formel 7.2). Abbildung 7.5 verdeutlicht die Berechnung anhand eines Minimalbeispiels.

probi j= flowcomi j P

j

flowcomi j 2[0, 1] (7.1)

prob( s|s) = Y

s2 s

prob(s|s) = Y

s2 s

Y

(i,j)2⇡s

probi j (7.2)

prob(K| =s) = X

s2Xs

Y

s2 s

Y

(i,j)2s

probi j (7.3)

mit:

flowcomi j =Jährlicher Güterfluss der Gruppecomzwischen Regioniund j

s =Pfad zwischen dem Versorgungsknotensund einem beobachteten Krankheitsfall2K prob( s|s) =Wahrscheinlichkeit der Kontamination über alle Pfadesder Versorgungskette s

prob(K| =s) =Wahrscheinlichkeit, dass Versorgungsknotensder tatsächliche Kontaminationsursprung für die Menge der KrankheitsfälleK ist

probi j =Übertragungswahrscheinlichkeit zwischen den Regioneni und j

Xs =Menge der möglichen Ketten zwischen Versorgungsknotensund den beobachteten KrankheitsfällenK

s =Einzelne Kette von Versorgungsknoten zwischen Versorgungsknotensund den beobachteten KrankheitsfällenK

Abbildung 7.5:Veranschaulichung der Berechnung der Ursprungswahrscheinlichkeiten möglicher Versorgungs-ketten in einem Beispielnetzwerk nach Horn und Friedrich (2018, S. 10)

K={4, 5}

1 2

4 5

3 0,5

0,5 0,3

1,0

0,7

prob11|σ=1)=0,5⋅0,5⋅0,7

=0,175

prob12|σ=1)=0,5⋅0,3⋅0,5⋅0,7

=0,0525

prob(χ3|σ=3)=0,3⋅0,7

=0,21 prob(χ2|σ=2)=1,0⋅0,3⋅0,7

=0,21

Mit Formel 7.3 ergeben sich für die einzelnen Versorgungsknoten daraus folgende Ursprungswahrscheinlichkeiten:

prob(K| =1) =0.175+0.0525=0.2275 prob(K| =2) =0.21

prob(K| =3) =0.21

Damit ist in diesem kleinen Beispielnetzwerk Versorgungsknoten 1 der wahrscheinlichste Ursprung.

Beschreibung des EHEC-Ausbruchs 2011 in Deutschland

Bewertet und diskutiert wird die Kombination aus Horns Modell und FOODFLOW am realen Fall des EHEC-Ausbruchs in Deutschland. Dieser Ausbruch begann Anfang Mai und erreichte seinen Höhepunkt am 22. Mai 2011.

Die Erkrankungen betrafen Bürger aller Bundesländer, aber vor allem Norddeutschland. Die zeitliche Entwicklung der räumlichen Verteilung der E.-coli-Krankheitsfälle, welche die EHEC-Fälle umfassen, ist in Abbildung 7.6 dargestellt.

Durch die Auswertung von Orten mit Erkrankungshäufungen sowie durch verfügbare Lieferlisten und Daten zu Vertriebswegen von Lebensmitteln war es den Behörden möglich, den Krankheitsausbruch auf Sprossen zurück-zuführen, die aus einem Gartenbaubetrieb im Landkreis Uelzen stammten (Appel u. a. 2011, S. 7). Nachdem kontaminierte Sprossen als Ursache identifiziert wurden und ihre Verbreitung am 10. Juni gestoppt wurde, gab es kaum noch Krankheitsfälle, die auf deren Verzehr zurückzuführen waren. Seit Mitte Juni traten nur noch sporadische Erkrankungen durch sekundäre Übertragung infizierter Personen auf. Die letzte Erkrankung, die eindeutig mit dem Ausbruch zusammenhing, wurde am 4. Juli gemeldet. Am 26. Juli erklärte das Robert Koch Institut den Ausbruch für beendet. In diesen 9 Wochen führte er zu fast 4.000 Erkrankungs- und 53 Todesfällen (Robert Koch Institut 2011, S. 2-6; Frank u. a. 2011).

Umso früher die Ursache eines Ausbruches erkannt wird, desto mehr Krankheitsfälle können vermieden und Menschenleben gerettet werden. Im Falle des beschriebenen EHEC-Ausbruchs entwickelten Weiser u. a. (2013) eine relationale Datenbank mit integrierten Konsistenz- und Plausibilitätsprüfungen, die sie mit gesammelten Daten zu Verbindungen zwischen Lieferanten, Distributoren und Produzenten füllten. Daraus erstellten sie Netzwerk-diagramme, um Verbindungen zwischen den verschiedenen Erkrankungshäufungen herzustellen. Dieses Vorgehen führte schließlich zur Identifikation der Ausbruchsursache.

Allerdings gibt es bei diesem Vorgehen auch Probleme: Die Befragung der betroffenen Personen sowie die Datenerfassung in Betrieben nimmt viel Zeit in Anspruch. Für die allgemeine Anwendbarkeit stellt sich deshalb die Frage, ob das Vorgehen auch ohne derart umfangreiche Datenerhebungen erfolgreich wäre. Zusätzlich ist die Verfolgung mancher Chargen schwierig, da sich Chargennummern oder Produktnamen entlang der Liefer-kette ändern können oder sie weiterverarbeitet werden. Darüber hinaus wurde in der Datenbank nicht zwischen Akteuren, wie beispielsweise Herstellern, Endverbrauchern, Einzelhandel und Großhandel unterschieden, was die Identifikation der Verflechtungen zusätzlich erschwerte (Weiser u. a. 2013, S. 267 f.).

Diese Probleme haben auch Manitz u. a. (2014) erkannt und entwickelten eine netzwerktheoretische Methode, um den räumlichen Ursprung von lebensmittelbedingten Krankheitsausbrüchen ohne große Datenerhebungen zu identifizieren. Ihre Methodik erfordert lediglich räumliche Informationen über Krankheitsfälle und ein Modell für das zugrunde liegende Lebensmittelversorgungssystem. Dabei ersetzen sie die herkömmliche geographische Distanz durch eine sogenannte tatsächliche Distanz, die sich aus der topologischen Struktur des zugrunde liegenden Lebensmittelversorgungssystems ergibt. Basierend auf plausiblen Annahmen über die Struktur des nationalen Lebensmittelversorgungssystems können sie den Ursprung des EHEC-Ausbruchs annähern.

Anwendung von Horns Modell und FOODFLOW auf den EHEC-Ausbruch

Auch das kombinierte Vorgehen aus Horns Maximum-Likelihood-Methodik und den hier bestimmten räumlich-wirtschaftlichen Verflechtungen des Lebensmittelversorgungssystems werden auf den EHEC-Ausbruch angewendet.

Abbildung 7.7 zeigt die daraus resultierenden Ursprungswahrscheinlichkeiten. Diese nähern sich mit zunehmender Zahl der Krankheitsfälle im Verlauf des Ausbruchs schnell dem tatsächlichen Ursprungsort an, einem Hof in Bienenbüttel im Landkreis Uelzen (in den Abbildungen 7.6 und 7.7 markiert).

Tabelle 7.1 stellt die Ergebnisse von Manitz u. a. (2014) und dem kombinierten Vorgehen aus Horns Modell und den Ergebnissen dieser Arbeit für jede Woche des EHEC-Ausbruchs gegenüber. Die Ergebnisse zeigen, dass das hier vorgestellte Vorgehen den tatsächlichen Ursprungsort mit deutlich höherer Geschwindigkeit und Genauig-keit identifizieren kann. Diese Anwendung stellt damit zu einem gewissen Grad eine Validierung der räumlich-wirtschaftlichen Verflechtungen dieser Arbeit dar.

Tabelle 7.1:Vergleich der Leistung der hier vorgestellten Methode mit der nach Manitz u. a. bei der Ursprungs-identifikation beim EHEC-Ausbruch

Woche Rang der tatsächlichen Entfernung der Top-3 von

ab Ursprungsregion tatsächlichem Ursprungsort

Aus-bruch

Horn (2018) und diese Arbeit

Manitz u. a.

(2014)

Horn (2018) und diese Arbeit

Manitz u. a.

(2014)

in km in km

1 38 - 180

-2 3 - 149

-3 2 1 84 71

4 2 > 10 41 98

5 1 3 29 44

6 1 1 29 30

7 1 1 29 30

8 1 5 29 135

9 1 2 29 65

Die Ursprungsregion wird bereits in der zweiten Woche des Ausbruchs, und damit noch vor dem Höhepunkt der Erkrankungen am Beginn der vierten Woche, konsistent angenähert. Diese Informationen hätten in der kritischen Anfangsphase der realen Untersuchung verwendet werden können, um die Liste möglicher Quellenstandorte auf Betriebe in den dunkelgrau gefärbten Regionen in Abbildung 7.7 zu kürzen. Dadurch wäre der Ursprungsort wahr-scheinlich früher identifiziert worden, was die rechtzeitige Einleitung von Gegenmaßnahmen ermöglicht hätte.

Dadurch hätte die Ausbreitung der Kontamination eingegrenzt und damit die Zahl potenzieller Krankheitsfälle sowie wirtschaftlicher Schäden für die Lebensmittelindustrie verringert werden können.

Abbildung 7.6:Räumliche Verteilung der E.-coli-Krankheitsfälle im EHEC-Ausbruch 2011 in Deutschland (eigene Darstellung der Daten des Robert Koch Institut (2016))

Abbildung 7.7:Räumliche Verteilung der Ursprungswahrscheinlichkeiten beim EHEC-Ausbruch 2011 in Deutschland (eigene Darstellung der Daten von Horn und Friedrich (2018))