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Mark E. Villiger

Übersicht I. Einleitung II. Subsidiarität

III. Landesrechtliche Gewährleistung 1. Verfassungskatalog

2. Gewährleistung in letzter Instanz durch den Staats-gerichtshof (StGH)

IV. Völkerrechtliche Gewährleistung

1. Europarat, namentlich die Europäische Menschenrechts-konvention (EMRK)

2. Universeller Menschenrechtsschutz – Vereinte Nationen (UNO)

3. Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht 3.1 Stellung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht 3.2 Rang des Konventionsrechts im innerstaatlichen Recht 3.3 Unmittelbare Anwendbarkeit des Konventionsrechts V. Zusammenfassung

Spezialliteratur-Verzeichnis

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I. Einleitung

Grund- und Freiheitsrechte werden in Liechtenstein durch das inner-staatliche Recht, vor allem durch die Landesverfassung,1 sowie durch zahlreiche Verträge des Völkerrechts gewährleistet. Auf diese zwei Grundrechtsquellen geht der folgende Beitrag ein.

II. Subsidiarität

Gemeinsam für den Menschenrechtsschutz insgesamt ist, dass gemäss dem Grundsatz der Subsidiarität vorab die innerstaatlichen Behörden für den Grundrechtsschutz verantwortlich sind.2 Grundrechtsbeschwer-den sind zuerst vor Grundrechtsbeschwer-den Liechtensteiner BehörGrundrechtsbeschwer-den geltend zu machen.

Der völkerrechtliche Schutz kommt erst dann zum Zuge, wenn die in-nerstaatlichen Behörden die geltend gemachte Grundrechtsverletzung nicht «heilen» können oder wollen.

III. Landesrechtliche Gewährleistung

1. Verfassungskatalog

Das IV. Hauptstück der Landesverfassung des Fürstentums Liechten-stein führt einen reichhaltigen Katalog der Grundrechte an. Dieser um-fasst u. a.:3

– Art. 27bis: Achtung und Schutz der Würde des Menschen (Abs. 1);

Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe (Abs. 2);

– Art. 27ter: Recht auf Leben; Verbot der Todesstrafe;

– Art. 28: Niederlassungsfreiheit; Recht auf Vermögenserwerb (Abs. 1);

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Mark E. Villiger

1 Einzelne Gesetze enthalten ebenfalls Bestimmungen mit Bezug zu Grundrechten;

vgl. z. B. das in Art. 5 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGlG) statuierte Dis-kriminierungsverbot.

2 Vgl. Villiger, Principle of Subsidiarity, S. 25 ff.

3 Vgl. hier Höfling, Grundrechtsordnung des Fürstentums Liechtenstein, Rz. 28 ff.;

zur Grundrechtssubjektivität von Ausländern vgl. Rz. 18.

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– Art. 31: Gleichheitsgrundsatz und Geschlechtergleichheit (Abs. 1 und 2);

– Art. 32: Freiheit der Person, Hausrecht, Brief- und Schriftenge-heimnis (Abs. 1); Recht auf gesetzmässige Verhaftung und Haft so-wie Hausdurchsuchung (Abs. 2);

– Art. 33: Recht auf den ordentlichen (gesetzlichen) Richter (Abs. 1);

Ge setzmässigkeit der Strafe (Abs. 2); Recht auf Verteidigung (Abs. 3);

– Art. 34–35: Eigentumsgarantie und Enteignungsschutz;

– Art. 36: Handels- und Gewerbefreiheit;

– Art. 37–39: Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Weltan-schauung und der Religionsausübung;

– Art. 40: Meinungsäusserungsfreiheit;

– Art. 41: Vereins- und Versammlungsfreiheit;

– Art. 42: Petitionsrecht an den Landtag und den Landesausschuss;

– Art. 43: Beschwerderecht und effektiver Rechtsschutz mit Begrün-dungspflicht bei ablehnenden Entscheidungen.

2. Gewährleistung in letzter Instanz durch den Staats gerichtshof (StGH)

Eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung des innerstaatlichen Grund-rechtsschutzes spielt der StGH. Er überprüft auf Verfassungsbe-schwerde hin die Einhaltung dieser Grundrechte durch die Behörden. Er gewährt einen umfassenden Grundrechtsschutz mit direkten Konse-quenzen im Falle der Gutheissung einer Beschwerde (Art. 15 ff.

StGHG). Der StGH hat über den Text der Verfassung hinaus auch un-geschriebene Grundrechte entwickelt, darunter das Willkürverbot und einen umfassenden Anspruch auf rechtliches Gehör.4

35 Quellen der Grundrechte: landes- und völkerrechtlicher Grundrechtsschutz

4 Höfling, Grundrechtsordnung des Fürstentums Liechtenstein, Rz. 63, 72.

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IV. Völkerrechtliche Gewährleistung

1. Europarat, namentlich die Europäische Menschen -rechts konvention (EMRK)

Wichtigstes Element des völkerrechtlichen Grundrechtsschutzes für Liechtenstein ist zweifelsohne die EMRK. Liechtenstein wurde Mitglied des Europarates im Jahre 1978. 1982 trat das Land der EMRK bei. Diese ist derzeit für 47 europäische Staaten verbindlich. Die Konvention ge-währt im Wesentlichen jene Rechte, welche auch die Landesverfassung vorsieht, wobei die Einzelheiten des Grundrechtsschutzes teilweise aus-führlicher formuliert werden als im Landesrecht. Liechtenstein hat im Weiteren alle Zusatzprotokolle (ZP) zur EMRK ratifiziert mit Aus-nahme des 12. ZP (allgemeiner Gleichheitsgrundsatz). Liechtenstein hat mehrere Vorbehalte zur EMRK und zu den Zusatzprotokollen ange-bracht.5

Die individuellen Rechte der EMRK und der Protokolle (z. B.

Art. 2–14 EMRK) können letztinstanzlich beim Europäischen Gerichts-hof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg von allen Privatpersonen (d. h. von In- und Ausländern) und auch von Vereinigungen («nicht-staatliche Organisationen» gemäss Art. 34 EMRK) eingeklagt werden.

Immerhin gilt es, diverse Zulässigkeitsbedingungen einzuhalten, z. B. die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs und die Frist von sechs Monaten seit der letztinstanzlichen Entscheidung gemäss Art. 35 Abs. 1 EMRK. Bei Beschwerden gegen Liechtenstein muss in der Regel in letz-ter Instanz der StGH aufgesucht werden; dieser soll auch tatsächlich in die Beschwerdesache eintreten und sie nicht für unzulässig erklären (Subsidiarität).

Die Urteile des EGMR sind verbindliche und unanfechtbare Fest-stellungsurteile. Die Staaten sind verpflichtet, sich danach auszurichten (Art. 46 EMRK). Von den insgesamt 85 Beschwerden, die seit 1982 ge-gen Liechtenstein in Strassburg eingereicht worden sind, hat der

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5 Eine vollständige Liste findet sich unter <www.conventions.coe.int> (Rubrik se-arch/Reservations and Declarations/By a State/Suchbegriff «Liechtenstein»), be-sucht am 1.6.2010; vgl. auch Westerdiek, Vorbehalte Liechtensteins, S. 549 ff.

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richtshof in vier Fällen Urteile gefällt.6In diesem Zeitraum hat der Ge-richtshof insgesamt über 11 000 Urteile erlassen.

Neben der EMRK ist Liechtenstein auch Vertragspartei einer Reihe von weiteren Übereinkommen des Europarates im Menschenrechtsbe-reich. Zu den wichtigsten dieser Übereinkommen zählt die Konvention zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Be-handlung oder Strafe, der Liechtenstein 1992 beigetreten ist. Diese Kon-vention garantiert keine Individualrechte, stellt jedoch einen Ausschuss (Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter, CPT) auf, der in re-gelmässigen Abständen Einrichtungen in den Mitgliedstaaten besucht, in welchen Personen ihre Freiheit entzogen wird, und über die Besuche Be-richt erstattet. Liechtenstein ist bisher dreimal aufgesucht worden.7Zu erwähnen wäre ferner die Europäische Charta der Regional- und Min-derheitensprachen (Beitritt 1998), deren Überwachungsausschuss regel-mässige Besuche, auch in Liechtenstein, durchführt. Liechtenstein ist Mitglied der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intole-ranz, diese hat drei Berichte über Liechtenstein verfasst.8Liechtenstein ist hingegen nicht der Europäischen Sozialcharta beigetreten.

2. Universeller Menschenrechtsschutz – Vereinte Nationen (UNO) 1990 trat Liechtenstein der UNO bei. Diese hat verschiedene Konven-tionen verabschiedet, welche dem Menschenrechtsschutz dienen.9Den Konventionen ist in der Regel gemeinsam, dass die Mitgliedsstaaten pe-riodische Berichte über die nationale Umsetzung der im betreffenden Konventionsrecht enthaltenen Verpflichtungen einreichen sollen.

37 Quellen der Grundrechte: landes- und völkerrechtlicher Grundrechtsschutz

6 Vgl. die Urteile gegen Liechtenstein: Wille, vom 28.10.1999, Nr. 28396/98, Recueil CourEDH 1999-VII S. 279 ff., betr. Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 10 EMRK);

Frommelt, vom 15.5.2003, Nr. 49158/99, Recueil CourEDH 2003-VII S. 407 ff., betr. Anhörung im Haftverfahren (Art. 5 Abs. 4 EMRK); Steck-Risch, vom 19.5.

2005, Nr. 63151/00, betr. Waffengleichheit vor dem Verwaltungsgerichtshof (Art. 6 Abs. 1 EMRK); von Hoffen, vom 27.7.2006, Nr. 5010/04, betr. Dauer eines Straf-verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK).

7 D. h. in den Jahren 1993, 1999 und 2007; die Berichte finden sich in <www.cpt.

coe.int>, besucht am 1.6.2010.

8 D. h. in den Jahren 1998, 2003 und 2008; die Berichte finden sich in <www.coe.

int/t/dghl/monitoring/ecri/default_en.asp>, besucht am 1.6.2010.

9 Der nachfolgend angegebene Stand der Mitglieder entspricht jeweils dem 1.6.2010.

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Liechtenstein ist allen wichtigen UNO-Menschenrechtskonventio-nen beigetreten, teils unter Anführung von Vorbehalten und Erklärun-gen. Die wichtigsten dieser Konventionen sind die zwei Internationalen Pakte über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Pakt I) sowie über bürgerliche und politische Rechte (Pakt II). Pakt I gleicht der Sozi-alcharta des Europarates und verpflichtet derzeit 160 Staaten. Pakt II, der im Wesentlichen der EMRK entspricht, umfasst 165 Mitglieder. Pakt II kennt ein Individualbeschwerdesystem, das auch von Liechtenstein übernommen worden ist; allerdings kann der zuständige UNO-Men-schenrechtsausschuss zu den Beschwerden (communications) nur emp-fehlende, keine verpflichtende Stellungnahmen (views) abgeben. Für Pakt I ist ein Beschwerdesystem erarbeitet worden, das noch nicht in Kraft getreten ist.

Unter den weiteren UNO-Menschenrechtskonventionen, denen Liechtenstein beigetreten ist, seien erwähnt:

– Konvention zur Beseitigung der Rassendiskriminierung von 1966 (Beitritt 2000) mit der Möglichkeit, Petitionen (petitions) einzurei-chen;

– Konvention zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen von 1979 (Beitritt 1995) mit der Möglichkeit, Beschwerden (communi-cations) einzureichen;

– Konvention gegen Folter und andere grausame und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von 1984 (Beitritt 1990) mit Beschwerdemöglichkeit. Ein Zusatzprotokoll zur Konvention sieht einen Unterausschuss vor, der innerstaatliche Besuche an Or-ten durchführt, an welchen Personen ihre Freiheit entzogen wird;

– Konvention über die Rechte des Kindes von 1989 (Beitritt 1995).

Bisher ist vor keiner dieser Instanzen ein Beschwerdeverfahren von ei-ner Einzelperson gegen Liechtenstein eingeleitet worden.

Ferner überprüft der UNO-Menschenrechtsrat im Rahmen der so-genannten Universal Periodic Review (UPR) regelmässig die nationale Umsetzung der menschenrechtlichen Verpflichtungen der UNO-Mit-gliedsstaaten auf ihre Übereinstimmung mit dem internationalen Men-schenrechtsschutz. Diese Kontrolle wird gegenseitig von den Staaten ausgeübt (sog. peer review). Auch ein Beschwerdeverfahren ist einge-richtet worden. UPR und Beschwerdeverfahren gelten auch für Staaten, welche die erwähnten UNO-Konventionen bzw. das einhergehende Be-38

schwerderecht nicht übernommen haben. Liechtenstein unterzog sich 2008 einer UPR.10

3. Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht 3.1 Stellung des Völkerrechts im innerstaatlichen Recht

Liechtenstein folgt der Lehre des Monismus bzw. dem System der auto-matischen Adoption: Der internationale Vertrag tritt zugleich auf völkerrechtlicher und auf landesrechtlicher Ebene in Kraft. Das Völker -vertragsrecht gilt fortan ohne weiteres, d. h. ohne einen zusätzlichen staat lichen Akt.

3.2 Rang des Konventionsrechts im innerstaatlichen Recht

Die liechtensteinische Rechtsordnung enthält keine ausdrückliche Rege-lung darüber, welchen Rang Staatsverträge innerstaatlich einnehmen.

Völkerrechtliche Abkommen können materiell Verfassungs-, Gesetzes-oder Verordnungsrang haben. Seit der Verfassungsrevision von 2003 sieht die Verfassung die Überprüfbarkeit der Verfassungsmässigkeit von Staatsverträgen durch den Staatsgerichtshof vor, sodass diese formell Unterverfassungsrang haben. Gleichzeitig können aber gemäss Art. 15 Abs. 2 StGHG zahlreiche staatsvertragliche Individualrechte wie verfas-sungsmässige Rechte mit Verfassungsbeschwerde geltend gemacht wer-den und haben somit materiell Verfassungsrang. Dies gilt explizit für die EMRK, den UNO-Pakt II sowie die Übereinkommen gegen die Folter, die Geschlechter- und die Rassendiskriminierung.11

3.3 Unmittelbare Anwendbarkeit des Konventionsrechts

Den betreffenden internationalen Verträgen ist zu entnehmen, ob sie für die unmittelbare Anwendung spezifisch genug sind. Beispielsweise sind

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10 Informationen über die UPR Liechtensteins sind über <www.liechtenstein.li> (Ru-brik Staat/Aussenpolitik/Menschenrechte) abrufbar; besucht am 1.6.2010.

11 Ausführungen entnommen dem vierten Länderbericht Liechtensteins vom 11.8.

2009 gemäss Art. 18 des Übereinkommens über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18.12.1979, <www.liechtenstein.li/4._laender bericht.pdf>, besucht am 1.6.2010. Vgl. ferner Thürer, Liechtenstein und die Völ-kerrechtsordnung, S. 108 ff.; Becker, Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landes-recht, S. 199 ff., S. 275 ff., S. 655 ff.

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Art. 2–14 EMRK unmittelbar anwendbar und können daher direkt ge-genüber allen liechtensteinischen Behörden geltend gemacht werden.

V. Zusammenfassung

Liechtenstein weist einen ausserordentlich reichhaltigen Grundrechts-schutz auf. Die Konkurrenz zwischen innerstaatlichen und völkerrecht-lichen Quellen bereichert zweifelsohne auch die Rechtsprechung der Gerichte, namentlich des StGH, der die EMRK geradezu vorbildlich be-rücksichtigt hat. Dass die Vielzahl der internationalen Konventionen zu praktischen Schwierigkeiten in Liechtenstein (etwa im Hinblick auf die periodischen Berichterstattungen) geführt habe, ist nicht ersichtlich.12 Immerhin bedeutet es für einen Kleinstaat einen beträchtlichen Auf-wand, den eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzu-kommen. Diese Konventionen haben keineswegs zu einer Beschwerde-flut gegen Liechtenstein geführt. Dies erklärt sich wohl mit dem Subsi-diaritätsprinzip und einem gut funktionierenden nationalen Grund-rechtssystem.

Spezialliteratur-Verzeichnis

Becker Stefan, Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht nach Massgabe der Praxis des Staatsgerichtshofes des Fürstentums Liechtenstein, Diss. Freiburg (Schweiz) 2003 (zit.: Becker, Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht); Borchardt Klaus-Dieter, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 3. Aufl., Heidelberg 2006 (zit.: Borchardt, Grundlagen); Meckler Markus A., Der Kleinstaat im Völkerrecht. Das Fürstentum Liechtenstein im Spannungsfeld zwischen Souveränität und kleinstaatenspezi-fischen Funktionsdefiziten, Frankfurt a. M. u. a. 2006 (zit.: Meckler, Kleinstaat im Völker-recht); Villiger Mark E., The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Hu-man Rights, in: Caflisch Lucius u. a. (Hrsg.), Liber Amicorum Luzius Wildhaber. HuHu-man Rights – Strasbourg Views, Kehl. 2007, S. 25 ff. (zit.: Villiger, Principle of Subsidiarity);

Westerdiek Claudia, Die Vorbehalte Liechtensteins zur Europäischen Menschenrechts-konvention, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1983, S. 549 ff. (zit.: Westerdiek, Vor-behalte Liechtensteins).

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12 Vgl. hierzu Meckler, Kleinstaat im Völkerrecht.

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Wolfram Höfling

Übersicht I. Grundlagen

II. Die grundrechtsverpflichteten Staatsfunktionen und Funktionsträger

1. Problemaufriss

2. Zur Grundrechtsbindung der Gesetzgebung 3. Die Grundrechtsbindung der Exekutive

3.1 Das hoheitliche Exekutivhandeln

3.2 Zur Grundrechtsbindung der Privatwirtschafts -verwaltung

4. Insbesondere: Die Grundrechtsbindung des Fürsten 5. Grundrechtsbindung der Rechtsprechung

III. Zum Problem der Grundrechtsbindung Privater Spezialliteratur-Verzeichnis

I. Grundlagen

Die Frage nach den Grundrechtsadressaten betrifft einen zentralen As-pekt der personellen Geltungs- und Bindungskraft der Grundrechte.

Gegenüber wem können die Grundrechtsberechtigten1ihre verfassungs-kräftigen Rechte geltend machen? Wer wird aus den Grundrechtsbe-stimmungen verpflichtet?2

Der im 18. Jahrhundert sich entwickelnde Konstitutionalismus ist wesentlich geprägt von der Idee einer Positivierung der Menschenrechte in Gestalt von Grundrechten. In den Vereinigten Staaten von Amerika verlief der Weg von den naturrechtlich begründeten Menschenrechten zu höchstrangigen durchsetzbaren Rechten geradlinig und einfach. Dies gilt aber keineswegs für alle Staaten und gilt auch nicht für den deutsch-sprachigen Raum.3

Die elementare Bindungswirkung der Grundrechte hat nur zum Teil und relativ spät verfassungstextliche Anerkennung gefunden. Die

«Schlüsselnorm»4des Art. 1 Abs. 3 GG markiert für Deutschland einen entscheidenden verfassungsgeschichtlichen Fortschritt der Grundrechts-geltung vor allem dadurch, dass nunmehr ausdrücklich auch die Gesetz-gebung der unmittelbaren Bindungskraft der Grundrechte unterworfen wird. Für die Schweiz brachte erst die zum 1. Januar 2000 in Kraft getre-tene Totalrevision der Verfassung mit Art. 35 Abs. 2 BV eine Regelung über die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt.5Demgegenüber kennt weder das österreichische6noch das liechtensteinische Verfassungsrecht eine explizite Verfassungsbestimmung über die Grundrechtsadressaten.

Der Staatsgerichtshof hat allerdings bereits im Jahre 1952 grundsätzlich die Grundrechtsbindung der Staatsgewalt bekräftigt und festgehalten,

1 Dazu nachfolgend in diesem Handbuch S. 57 ff. (Höfling, Träger der Grundrechte) 2 Allgemein zu diesem Themenkomplex Stern, Staatsrecht Band III/1, S. 1175 ff.;

Kempen, Grundrechtsverpflichtete, Rz. 1 ff.; aus schweizerischer Perspektive Mül-ler G., Schutzwirkung, Rz. 13 ff.

3 Näher Stern, Staatsrecht Band III/1, S. 1178 ff.

4 So die treffende Charakterisierung von Stern, Staatsrecht Band III/1, S. 1178; näher hierzu Höfling zu Art. 1, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Rz. 80 ff.

5 Art. 35 Abs. 2 BV lautet: «Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grund-rechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen.»

6 Siehe Kucsko-Stadlmayer, Strukturen, Rz. 33.

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dass das Willkürverbot sich «sowohl an die Gesetzgebung wie an die Vollstreckung (Gerichtsbarkeit, Verwaltung)» richtet.7Mit dieser prinzi-piellen Feststellung sind indes keineswegs alle praxisrelevanten Fragen zur personellen Bindungskraft der Grundrechte beantwortet.

II. Die grundrechtsverpflichteten Staatsfunktionen und Funktionsträger

1. Problemaufriss

Mit seiner Formulierung aus dem Jahre 1952, dass sich das Willkürver-bot «sowohl an die Gesetzgebung wie an die Vollstreckung (Gerichts-barkeit, Verwaltung)» richtet,8 verknüpft der Staatsgerichtshof die Grundrechtsbindung mit den genannten Staatsfunktionen. Damit wird nicht ohne weiteres deutlich, ob in einem formell-institutionellen Sinne die Träger der Staatsfunktionen oder in einem materiell-funktionellen Sinne die staatlichen Gewalten gemeint sind. Die damit angesprochene Unterscheidung ist für die Reichweite der Grundrechtsbindung von er-heblicher Bedeutung; in einer formell-institutionellen Deutung würden nämlich nicht-staatliche Funktionsträger, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen, von der Grundrechtsbindung nicht erfasst.9Fragen nach der Reichweite der Grundrechtsbindung stellen sich insoweit vor allem im Blick auf die Verwaltung in Privatrechtsform.10Problematisch könnte darüber hinaus auch die Grundrechtsbindung des Landesfürsten sein.11 Von der hier zunächst problematisierten Fragestellung nach den grund-rechtsverpflichteten Staatsfunktionen und Funktionsträgern ist schliess-lich als weiterer Problemkomplex zu unterscheiden der Aspekt einer möglichen Grundrechtsbindung Privater.12

7 StGH, Entscheidung vom 15. Juli 1952, ELG 1947–1957, S. 259 (263).

8 Entscheidung des StGH vom 15. Juli 1952, ELG 1947–1957, S. 259 (263).

9 Zu diesem Problem im Blick auf die Regelung in Art. 1 Abs. 3 GG, der auch an die Staatsfunktionen «Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung» an-knüpft, Kempen, Grundrechtsverpflichtete, Rz. 23 f.; vgl. ferner Höfling, Grund-rechtsbindung, S. 432 f.

10 Dazu im folgenden Abschnitt 3.2.

11 Dazu unten Abschnitt 4.

12 Dazu unten Abschnitt III.

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Problemabschichtend können aber an dieser Stelle folgende Fest-stellungen getroffen werden: Wenn und soweit die «Handhabung der Staatsgewalt im behördlichen Wirkungskreis in Frage steht»,13 umfasst der Kreis der Grundrechtsadressaten alle Träger der Staatsgewalt bei der Ausübung von Gesetzgebung und Vollstreckung. Grundrechtsverpflich-tet sind dementsprechend neben den Gebietskörperschaften – Land, Ge-meinden – auch alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die Träger vom Staat abgeleiteter öffentlicher Gewalt sind.14In einer jünge-ren Entscheidung aus dem Jahre 2008 hat der Staatsgerichtshof diese Po-sition in verfassungsprozessrechtlichen Überlegungen zu Art. 15 Abs. 1 StGHG bekräftigt. Die Individualbeschwerde nach dieser Vorschrift un-terstelle «alle Träger und alle Akte der öffentlichen Gewalt der Kontrolle durch den Staatsgerichtshof».15 Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das deutsche Recht16und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts wird sodann noch einmal die umfassende Bindungskraft im Blick auf alle drei Gewalten hervorgehoben.17

Grundrechtsgebunden ist allerdings nur die liechtensteinische Ho-heitsgewalt.18 Insofern hat der Staatsgerichtshof bereits in einer Ent-scheidung vom 30. Januar 1947 klargestellt, dass ein ausländisches Ur-teil (im konkreten Fall: die Entscheidung eines kriegswirtschaftlichen Strafappellationsgerichts der Schweiz) «an sich kein taugliches Anfech-tungsobjekt» sei. Erst dann, wenn das ausländische Urteil durch eine Verfügung einer inländischen Behörde im Inland in Vollzug gesetzt

13 So StGH 1981/12, LES 1982, S. 125 (126).

14 Hierzu Höfling, Grundrechtsordnung des Fürstentums Liechtenstein, S. 69 mit weiteren Nachweisen; zum Begriff der öffentlichen Gewalt siehe näher StGH 2008/46, Erw. 2.3.1 ff.

15 Siehe StGH 2008/46, Erw. 2.3.1; ebenso StGH 2005/97, Erw. 1.1.

16 Der Begriff der öffentlichen Gewalt in § 90 Abs. 1 BVerfGG hat gleichsam «Pate»

für das liechtensteinische Verfassungsprozessrecht gestanden; siehe den Hinweis in StGH 2008/46, Erw. 2.3.2 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein betr. die Schaffung ei-nes Gesetzes über die Bestellung der Richter, die Neufassung des StGHG sowie die Anpassung verschiedener Gesetze Nr. 45/2003, S. 39 f.

17 StGH 2008/46, Erw. 2.3.4, wo zugleich aber Akte privater Gerichtsbarkeit, etwa von Vereins- und Verbands- oder Parteischiedsgerichten, ausgenommen werden.

18 Näher hierzu aus verfassungsprozessualer Perspektive: Höfling, Verfassungsbe-schwerde, S. 153 ff.

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werde, unterliege diese Verfügung der Überprüfung durch den Staats-gerichtshof.19

2. Zur Grundrechtsbindung der Gesetzgebung

Während in den USA die Grundrechte von Anfang an als Schranke für den Gesetzgeber verstanden wurden20 und auch für die Schweiz die Grundrechtsbindung der Legislative überkommener Auffassung ent-spricht,21konnte sich eine entsprechende Position in Deutschland22erst nach langen Kämpfen durchsetzen. Grundrechtliche Freiheit erschöpfte sich weitgehend in «Freiheit von gesetzwidrigem Zwang».23 Noch die Verfassungsrechtslage der Weimarer Zeit konnte Herbert Krüger im grossen und ganzen zutreffend mit der plakativen Formel umschreiben:

«Grundrechte nur im Rahmen der Gesetze.»24Auch für das liechtenstei-nische Verfassungsrecht liegt eine entsprechende Deutung nicht ganz fern. Zutreffend hat Gerald Batliner darauf hingewiesen, dass der Grundrechtskatalog der Verfassung von 1921 in seiner «weichen Dik-tion» an Texte des deutschen (Früh-)Konstitutionalismus erinnere. Dies könnte durchaus den Eindruck hervorrufen, die Grundrechtsbestim-mungen böten keinen Schutz gegenüber dem Gesetzgeber.25Und in der Tat war die ältere Judikatur des Staatsgerichtshofs durchaus einem sol-chen Grundrechtsverständnis verhaftet. So wurde etwa für die verfas-sungsmässig gewährleistete Gewerbefreiheit lakonisch vermerkt, sie

be-19 Entscheidung vom 30. Januar 1947, in: Entscheidung des fürstlich-liechtensteini-schen StGH (Beilage zum Rechenschaftsbericht der fürstlichen Regierung für das Jahr 1947), S. 8 (17) – ELG 1947–1954, S. 191 (200); Höfling, Die Grundrechtsord-nung des Fürstentums Liechtenstein, S. 69.

20 Dazu etwa Stern, Grundideen, S. 15 mit weiteren Nachweisen.

21 Siehe schon Huber, Garantie, S. 89a.

22 In Österreich brachte die Errichtung des Verfassungsgerichtshofs und der Ausbau einer Normenkontrollkompetenz eine Grundrechtsbindung der Gesetzgebung;

siehe Kucsko-Stadlmayer, Strukturen, Rz. 35.

23 So Jellinek Georg, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., Tübingen 1905, S. 103.

24 Siehe Krüger Herbert, Grundgesetz und Kartellgesetzgebung, Göttingen 1950, S. 12; siehe auch mit weiteren Nachweisen Kempen, Grundrechtsverpflichtete, Rz. 25; Stern, Staatsrecht Band III/1, S. 1253 ff.

25 Siehe Batliner, Schichten, S. 281 (293).

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deute «nichts anderes als die Freiheit von obrigkeitlichem Zwang, soweit nicht gesetzliche Schranken bestehen».26

Allerdings lag (und liegt) der Judikatur des Staatsgerichtshofs keine explizite Ablehnung der Grundrechtsbindung der Legislative zugrunde;

vielmehr war sie geprägt durch eine prädominante Schrankenperspek-tive, für die zahlreiche legislatorische Verkürzungen grundrechtlicher Freiheit kein näher zu reflektierendes Problem darstellten.27Die prinzi-pielle Grundrechtsgebundenheit des Gesetzgebers wurde nicht in Frage gestellt.28 Nur das Konzept einer auch die Legislative erfassende Bin-dungskraft wird im übrigen dem grundlegenden verfassungsstrukturel-len Wandel gerecht, den die liechtensteinische Verfassung von 1921 mit der Inauguration des Instituts der Verfassungsbeschwerde zum Schutz der Grundrechte als subjektiver Rechtspositionen bewirkte.29Auf einer

vielmehr war sie geprägt durch eine prädominante Schrankenperspek-tive, für die zahlreiche legislatorische Verkürzungen grundrechtlicher Freiheit kein näher zu reflektierendes Problem darstellten.27Die prinzi-pielle Grundrechtsgebundenheit des Gesetzgebers wurde nicht in Frage gestellt.28 Nur das Konzept einer auch die Legislative erfassende Bin-dungskraft wird im übrigen dem grundlegenden verfassungsstrukturel-len Wandel gerecht, den die liechtensteinische Verfassung von 1921 mit der Inauguration des Instituts der Verfassungsbeschwerde zum Schutz der Grundrechte als subjektiver Rechtspositionen bewirkte.29Auf einer