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1 Einführung

1.1 Problemstellung

1.1 Problemstellung

Die Steuer ist eine geschichtliche Erscheinung, die durch die wechselnden staatstheore-tischen und staatsphilosophischen Meinungen, von der herrschenden sozialethischen Geistesverfassung und Werteinstellung, von den bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen mitgeprägt worden ist.1

Klaus Tipke, Nestor der deutschen Steuerrechtswissenschaft und Verfechter einer rationalen Steuergerechtigkeitstheorie, verweist darauf, dass das Steuergerechtig-keitsverständnis und -empfinden nichts Absolutes ist, d. h., dass es eingeschränkt allgemeingültig ist. Es unterliegt einem evolutionären Prozess, ist abhängig von Raum und Zeit, von Situation und Milieu und auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen einer Epoche.2

Steuergerechtigkeit bedeutet die „Forderung nach einer gerechten Verteilung der Abgabenlast auf die Gesamtheit der Steuerpflichtigen, die den gesellschaftspolitischen Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht.“3 Die Evolution der Steuergerechtigkeitsidee 1 Tipke, Klaus: Die Steuerrechtsordnung, Bd. 1: Wissenschaftsorganisatorische, systema-tische und grundrechtlich-rechtsstaatliche Grundlagen, 2., völlig überarbeitete Aufl., Köln 2000, S. 241.

2 Ebd., S. 241.

3 Dautzenberg, Norbert: Steuergerechtigkeit, auf: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/

Definition/steuergerechtigkeit.html (letzter Zugriff: 15.02.2017).

© Der Autor 2019

R. Sahm, Theorie und Ideengeschichte der Steuergerechtigkeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25903-7_1

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führt historisch von der Kopfsteuer über die Proportionalsteuer zur progressiven Einkommensteuer, die sich nach der heutigen Gerechtigkeitsvorstellung aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip ergibt.

Steuergerechtigkeit betraf immer die Frage, nach welchem Maßstab festgelegt werden soll, wie hoch der Anteil des Einkommens oder Vermögens sein soll, den der Einzelne als Steuer abzuführen hat. Diese Frage wurde im Laufe der Geschichte meist aufgrund der jeweiligen Macht- und Interessenkonstellationen gelöst, selten jedoch durch Gerechtigkeitsüberlegungen.

In der Literatur wurde mit dem Beginn einer generellen Steuerlehre Ende des 16.

und Anfang des 17. Jahrhunderts die Allgemeinheit der Steuerpflicht zur Voraus-setzung der Besteuerung überhaupt erhoben. Die Kameralisten forderten mit dem Gebot der Gleichmäßigkeit, dass alle Bürger nach gleichen, in ihrem Verhältnis zum Staat begründeten Maßstab belastet werden sollen. Es waren die großen Autoren der Aufklärung, die mit der Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit ein eigenständiges Prinzip ausformulierten und mit den Vorschlägen der Steuer-progression und der Freilassung des Existenzminimums die Öffentlichkeit erreicht haben. Mit der liberalen Denkweise der Französischen Revolution entstand

eine endgültige Abkehr sowohl von dem Prinzip des Feudalstaates, die Steuerpflicht in erster Linie nach Rang und Stand statt nach ökonomischen Maßstäben zu be-messen, als auch von der regionalen Finanzautonomie und den Steuerprivilegien der Territorialherren.4

Im parlamentarischen Zeitalter ist zwar die Gesetzmäßigkeit, weitgehend auch die Allgemeinheit der Besteuerung, gesichert, nicht jedoch die Gerechtigkeit5, die Gleichmäßigkeit der Steuerlastverteilung im Einzelnen und die gleichmäßige Durchsetzung der Steuergesetze.6 Der Staatsrechtslehrer Klaus Vogel beklagte schon 1977 – und das gilt bis heute unverändert – dass die Steuerrechtswissenschaft und

4 Schmölders, Günter: Geschichte der Besteuerung, in: Strickroth, Georg u. a. (Hrsg.):

Handwörterbuch des Steuerrechts unter Einschluß von betriebswirtschaftlicher Steuer-lehre, Finanzrecht, Finanzwissenschaft, Bd. 1, 2. Aufl., München/Bonn 1981, S. 617–626, S. 621.

5 Bei Klaus Vogel kommt dies schon im Titel seines viel beachteten Vortrags „Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht“

zum Ausdruck; Vogel, Klaus: Der Verlust des Rechtsgedankens im Steuerrecht als Herausforderung an das Verfassungsrecht, in: Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft e. V. 12 (1989), S. 123–144.

6 Tipke, Klaus: Die Steuerrechtsordnung, S. 543.

3 Steuerrechtspraxis an Fragen der Steuergerechtigkeit nicht interessiert seien,7 dabei bilden Steuern einen der zentralen Streitpunkte in Politik und Wirtschaft, die in besonderem Maße auf Gerechtigkeit angelegt sein müssen.

Gerechtigkeit ist der höchste Anspruch, den die Moralphilosophie an das Zu-sammenleben der Menschen stellt.8 Gerechtigkeit ist unausweichlich mit Wertungen verbunden9 und ein menschliches Bedürfnis, das zutiefst subjektiv geprägt ist.

Auch Steuerrecht ist „in einzigartiger Weise gerechtigkeitsbedürftig und gerech-tigkeitsempfindlich“.10

Die Philosophie bietet eine Vielzahl von Ethikkonzepten an, deutsche Philosophen haben sich jedoch nicht mit dem Steuerwesen befasst.11 Immanuel Kants „Grund-legung zur Metaphysik der Sitten“ erschien 1785, kurz nach der Amerikanischen Revolution (1776) und unmittelbar vor der Französischen Revolution (1789), und lieferte einen beträchtlichen Ausschnitt des zeitgenössischen Denkens über Moral und Politik. Kant verknüpfte Gerechtigkeit mit der Moral und der Freiheit und hat es wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Werth mehr, daß Menschen auf Erden leben.“12

Im Gegensatz zu den deutschen Philosophen haben sich angelsächsische Staat-sphilosophen – wie Thomas Hobbes (1588–1679), David Hume (1711–1776), Adam Smith (1723–1790) und John Stuart Mill (1806–1873) – mit der Steuergerechtigkeit als Teilbereich der Gerechtigkeit befasst.13 Adam Smith bietet in seinem fünften Buch14 eine genaue Abhandlung über die Besteuerung und über die Staatsaus-gaben. Dieses Buch enthält auch die bis heute anerkannten vier Grundsätze der Besteuerung (equality, certainty, convenience and economy). Die Tatsache, dass

7 Vogel, Klaus: Die Besonderheit des Steuerrechts, in: Deutsche Steuer-Zeitung /A 1977, S. 5–12, S. 5.

8 Tipke, Klaus: Die Steuerrechtsordnung, S. 238.

9 Sandel, Michael J.: Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun, Berlin 2013, S. 357.

10 Isensee, Josef: Gemeinwohl und Bürgersinn im Steuerstaat des Grundgesetzes. Ge-meinnützigkeit als Bewährungsprobe des Steuerrechts vor der Verfassung, in: Maurer, Hartmut u. a. (Hrsg.): Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag, München 1990, S. 33–65, S. 33.

11 Tipke, Klaus: Die Steuerrechtsordnung, S. 237.

12 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), hrsg. v. Karl Vorländer, 3. Aufl., Leipzig 1919, S. 159.

13 Tipke, Klaus: Die Steuerrechtsordnung, S. 237.

14 Smith, Adam: Die Finanzen des Landesherrn oder des Staates, Fünftes Buch, in: Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ur-sachen, aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung des Gesamtwerkes hrsg. von Horst Claus Recktenwald, 13. Aufl., München 2013.

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diese vier Steuermaximen bis heute fortwirken, ist nicht verwunderlich, da es bei der Besteuerung um Gleichbehandlung, um die unterschiedliche Lastenverteilung zwischen Reich und Arm und um die Grenzen geht, die die Freiheitsrechte dem Steuereingriff setzen.15

Recht ist fixierte Geschichte; Bedeutung und Inhalt rechtlicher Institutionen lassen sich ohne Kenntnis ihrer Geschichte nicht ermessen.16 Schon der Natio-nalökonom Wilhelm Roscher stellte 1863 in einem Aufsatz fest: „Wer die Gegen-wart seiner Wissenschaft recht verstehen und ihre Zukunft beherrschen will, der muss ihre Vergangenheit kennen.“17 Dieter Schneider hat auf die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte hingewiesen und hervorgehoben, dass das Studium der Wissenschaftsgeschichte den Blick auf die wesentlichen Problemstellungen und Problemlösungsansätze schärfen und den Spreu der Details vom Weizen trennen soll.18 Klaus Tipke verweist in seiner Steuerrechtsordnung darauf, „eine durchge-hende zusammenhängende Geschichte der Evolution der Steuergerechtigkeitsidee muß aber erst noch geschrieben werden.“19