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„Patienten sind in der Regel nicht adhärent, wobei der Grad dessen in Abhängigkeit von der Definition und den Umständen variiert“ (Schwarzer & Luszczynska, 2005, S. 586).

Das Problem der mangelnden Adhärenz im Rahmen von medizinischen Behandlungen ist hinreichend bekannt. Volmer und Kielhorn (1998) geben allgemeine Raten der Non-Compliance von 20% bis 70% in Abhängigkeit von unterschiedlichen Krankheitsgruppen an. Von der WHO wird zusammenfassend konstatiert, dass: “In developed countries, adherence to long-term therapies in the general population is around 50% and is much lower in developing countries.” (Sabaté, 2003, p. 7). Die mangelnde Adhärenz ist ein Kernproblem der medizinischen Patientenversorgung und führt zu resultierenden Kosten,

1 Bei der Bearbeitung und Diskussion des Forschungsstandes wird entsprechend der Bezeichnung des jeweiligen Autors gegebenenfalls der Terminus der Compliance verwendet. Inhaltlich sollen damit keine unterschiedlichen Facetten betont werden.

die von Petermann (2004, S. 31) im Jahr 2004 für die Bundesrepublik Deutschland auf bis zu 20 Milliarden Euro geschätzt wurden, was in etwa 10% der gesamten Gesundheitsausgaben des Jahres entsprach.

Wenn im Rahmen von medizinischen Behandlungen von Adhärenz gesprochen wird, können unterschiedliche Gesundheitsverhaltensweisen von der Medikamenteneinnahme über Ernährungsratschläge bis hin zu Aktivitätsempfehlungen unterschieden werden. Im Kontext einer physiotherapeutischen Behandlung geht es in der Regel um eine körperlich-aktive Beteiligung und die Umsetzung von Aktivitätsvorgaben. Körperliche Aktivitäten verlangen jedoch im Vergleich zu anderen Gesundheitsverhaltensweisen in der Regel mehr physische und zeitliche Investitionen vom Patienten und sind aufgrund dessen prädestiniert für eine niedrige Ausprägung der Adhärenz (Fuchs, 2003), da diese mit steigendem Aufwand von medizinischen Empfehlungen und der Zunahmen der Komplexität sinkt (Stevens, 2007, Petermann, 2004). Aus der Exercise-Adherence Forschung ist im Zusammenhang mit allgemeinen Aktivitätsempfehlungen bei Personen über 55 Jahren bekannt, dass etwa 63% bis 88% die Ratschläge befolgen (Martin & Sinden, 2001).

Jüngere Menschen erreichen mit etwa 50% deutlich niedrigere Werte (Dishman, 1988).

In einigen Untersuchungen, in denen die Adhärenz im Rahmen ambulanter physiotherapeutischer Behandlungen erhoben wurde, werden ebenfalls niedrige Werte für die Adhärenz bestätigt. Slujis et al. (1993) konnten im Rahmen einer Befragung zeigen, dass lediglich 35% der befragten Patienten (N=1.178) angaben, ihre Übungen vollständig durchgeführt zu haben. 22% der Patienten absolvierten keine Übungsformen. In einer Studie von Göhner und Eid (2001) wurden 100 Rückenschmerzpatienten aus niedergelassenen Physiotherapiepraxen in Deutschland rekrutiert. Die Patienten konnten in einem Fragebogen am Ende der Therapie unter anderem angeben, ob sie eigenständig physiotherapeutische Übungen durchgeführt haben. „Nur 28% der Patienten gaben an, jeden der genannten Übungskomplexe fast täglich durchgeführt zu haben, zwischen 32%

und 38% der Befragten führten alle genannten Übungen einmal pro Woche durch.“

(Göhner und Eid, 2001, S. 12). Im Hinblick auf das therapierelevante enge Kriterium liegen die Werte somit noch unter den Angaben von Slujis et al. (1993). Bei der Betrachtung der Prozentwerte für die jeweiligen Bereiche muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Werte aufgrund der Messmethoden, der Definitionen und der beteiligten

Faktoren nur schwer vergleichbar sind (Mühlig, Petermann & Bergmann, 2001; Schwarzer

& Luszczynska, 2005; Martin, Bowen, Dunbar-Jacob & Perri, 2000).

Das Problem der mangelnden Adhärenz von Patienten scheint nicht nur ein generelles Problem medizinischer Behandlungen zu sein, sondern sich auch im Rahmen von physiotherapeutischen Behandlungen zu manifestieren. Der therapeutischen Bedeutung, die Adhärenz des Patienten beeinflussen zu können, steht jedoch ein Defizit in der Forschungslage gegenüber. Während in der Public-Health Forschung und der Gesundheits- und Sportpsychologie die Thematik der Exercise-Adherence seit vielen Jahren eine bedeutende Rolle (vgl. Dishman, 1994; Sallis & Owen, 1999) einnimmt, liegen für die Physiotherapie vergleichsweise wenige wissenschaftliche Erkenntnisse vor. Dies gilt insbesondere für die praxisrelevante Interventionsforschung (vgl. McLean, 2010). Dabei kann durchaus von einer bislang eher theoriefernen Forschung in der Physiotherapie gesprochen werden. Dieser Lücke steht die Forderung, Strategien zur Verbesserung der Adhärenz zu integrieren, gegenüber (Hayden, van Tulder & Tomlinson, 2005).

Diese Forderung wird auch durch die Analyse der Arbeits- und Rahmenbedingungen gestützt. Die überwiegende Mehrzahl der berufstätigen Physiotherapeuten in Deutschland arbeiten in ambulanten Praxen (52,1%). 15.7% der Physiotherapeuten sind in Krankenhäusern und 14.0% in Rehabilitationseinrichtungen beschäftigt (vgl. Statistisches Bundesamt, 2009). Im ambulanten Sektor werden die Rahmenbedingungen der Behandlung durch die Heilmittel-Richtlinien aus dem Jahr 2004 bestimmt. Diese sehen in der Regel ein bis zwei Behandlungen pro Woche vor (Heilmittel-Katalog, 2004). Vor dem Hintergrund der daraus resultierenden therapiefreien Tage spielt die Adhärenz des Patienten und deren Beeinflussung im Rahmen der ambulanten physiotherapeutischen Behandlung eine bedeutende Rolle. Weiterhin ist die Dauer einer Behandlung durch die Heilmittel-Richtlinien ebenfalls vorgegeben (Heilmittel-Richtlinie, 2004, II 11.). Die Gesamtverordnungsmenge steht je nach Diagnose in Form eines Regelfalles fest. Aufgrund der strengen Limitierung der Gesamtverordnungsmenge erlangt die Beeinflussung des Patientenverhaltens während der Therapie eine zusätzliche Bedeutung. Zudem reichen die Behandlungsanzahlen des Regelfalles oftmals nicht aus, um ein therapeutisches Ziel zu erreichen. Somit kann das Patientenverhalten über das Therapieende hinaus zum Erfolg einer ambulanten physiotherapeutischen Behandlung entscheidend beitragen. Dieser Tatsache hat der

Gesetzgeber Rechnung getragen und im Heilmittel-Katalog in fast allen Diagnosegruppen das Ziel: „Erlernen eines Eigenübungsprogramms“ (Heilmittel-Katalog, 2004, weitere Hinweise) formuliert.

In einer aktuellen Untersuchung konnten Goebel und Schultz (2011) zeigen, dass von 193 Patienten, die eine physiotherapeutische Verordnung von ihrem Orthopäden erhalten hatten, nur fünf in der Lage waren, Eigenübungen zu demonstrieren, obwohl das explizit im Rezept als Auftrag formuliert wurde. Die Untersuchung kann aufgrund einiger offenen Fragen nicht verallgemeinert werden. Es kann jedoch gefolgert werden, dass die beteiligten Therapeuten entweder die Relevanz von Eigenübungen in der Therapie nicht erkannten oder die Strategien, die angewendet wurden, letztlich nicht effektiv waren.

Die Bedeutung der Adhärenz in der Physiotherapie, die verfügbaren Zahlen aus der Praxis und der derzeitige Forschungsstand zeigen den Bedarf einer theoriegeleiteten Interventionsforschung auf.

Die Entwicklung von Strategien und Interventionen mit dem Ziel, die Adhärenz von Patienten im Kontext einer physiotherapeutischen Behandlung zu beeinflussen, muss jedoch unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen erfolgen. Diese sind durch die gesetzlichen Bestimmungen weitgehend konkret festgelegt. Insbesondere die Dauer, die Frequenz und die Anzahl der Behandlungen werden durch die Heilmittel-Richtlinien bestimmt und können vom Therapeuten nicht eigenständig modifiziert werden. Darauf muss bei der Konzeption und der Entwicklung von Interventionen zur Steigerung der Adhärenz in der Physiotherapie Rücksicht genommen werden, wenn eine praktische Umsetzung und eine Verbesserung der Patientenversorgung ermöglicht werden soll.