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Position zum Sozialstaat und Probleme der Sichtweise

Rawls Vorstellung befürwortet zum einen aus liberalen Gesichtspunkten eine Gewährleistung gewisser sozialer Rechte. Sein System beruht auf der Vorstellung der individuellen Freiheiten und einer fairen Chancengleichheit. Letzter ergibt sich aus der Einsicht, dass der Lebenserfolg nicht von willkürlichen Merkmalen abhängen, sondern allen Begabten in der gleichen Weise offen stehen sollte. Es bestehen die gleichen individuellen Rechte. Damit verbinden sich aber bereits gewisse Anforderungen an das System bezüglich sozialer Leistungen. Denn faire Chancengleichheit verlangt von einem staatlichen System, dass es Nachteile, die die Chancengleichheit beeinträchtigt können, ausgleicht. Gewisse Asymmetrien, beispielsweise in der Grundversorgung oder dem Zugang zur Bildung, bedrohen die liberale Vorstellung von Chancengleichheit. Die Argumentation beinhaltet dabei die Prämissen des rationalen und auf seine Autonomie bedachten Individuums. Dieses strebt nach Freiheit und Grundgütern zum Zwecke einer autonomen Lebensführung. Damit werden die Partikularitäten in ein universales System integriert. Die Legitimationsbasis der politischen Ordnung ist dabei angemessener als bei den Libertären, weil sie nicht die Vielfalt der normativen Orientierungen und Beurteilungsgesichtspunkte monochrom reduziert. Vielmehr werden die Schwierigkeiten der Ausbalancierung divergierender normativer Ansprüche berücksichtigt. Bis zu diesem Punkt würde das System dann Dekommodifizierung soweit gewährleisten, als diese als Bestandteil für die individuellen Freiheiten und die fairen Chancengleichheit gelten kann.

Dekommodifizierung ist dann jedoch noch weitergehend vorgesehen. Die vom Markt erzeugten Verhältnisse müssen nicht hingenommen werden, denn sie beruhen auf den moralischen Willkürlichkeiten der Verteilung der natürlichen Begabungen. Vielmehr müssen die auf dem Markt erreichten Erfolge immer auch den am wenigsten Begünstigten nutzen. Daher gibt es die klare Aufgabe einer Umverteilung. Der Markt nimmt keine Rücksicht auf die Bedürfnisse und einen angemessenen Lebensstandard, das Prinzip der fairen Chancengleichheit und das Unterschiedsprinzip fordert ihre Berücksichtigung aber sehr wohl. Dabei ist klar, dass die Umverteilung prinzipiell keine Grenzen hat. Denn ändern sich die Aussichten der am besten Gestellten positiv, so müssen sich die Verhältnisse der am schlechtesten Gestellten ebenfalls verbessern. Ein Existenzminimum braucht damit längst noch nicht die sozialen Rechte abgelten.

Vielmehr kann der Standard der Dekommodifizierung beliebig hoch werden, abhängig vom Erfolg der am besten Gestellten.88

Dieses System lässt sich als ein kompensatorisches verstehen. Es rechtfertigt sich aus der moralischen Willkürlichkeit der Verteilung der natürlichen Fähigkeiten und in der Folge auch der gesellschaftlichen. Die Annahme nimmt somit eine weitere normative Komponente in die Argumentation hinein. Als Konsequenz für ein sozialstaatliches System lassen sich die Verteilungsleistungen als Kompensation dafür verstehen, dass bestimmte Menschen eben natürlich benachteiligt sind. Dies bedeutet, dass man die gesellschaftliche Stellung immer an dem Gleichheitszustand misst. Danach sind die weniger gut Gestellten Opfer ihrer schlechten Begabungsausstattung. Darin zeigt sich die Dekonstruktion des Individuums in Rawls Theorie, da die individuelle Lebenssituation nicht als autonome Entscheidung gesehen wird. Stattdessen werden die schlechteren gesellschaftlichen Positionen mit anderen verglichen, die aufgrund ihrer höheren gesellschaftlichen Stellung als grundsätzlich erstrebenswerter gelten.89

Für die soziale Schichtung ist als Wirkung der Dekommodifizierung aufgrund von fairer Chancengleichheit zu erwarten, dass die Prozesse des Marktes von keinen marktunabhängigen Schichtungen durchzogen werden. Die Berücksichtung und der Erfolg im Markt hängen idealerweise nur von den verlangten Fähigkeiten und keinen anderen Merkmalen ab. Die Dekommodifizierung darf aber die Marktprozesse nicht stören, sondern ist gerade für ihre Gewährleistung überhaupt da. Vorzustellen sind Leistungen der sozialen Infrastruktur, die grundlegende Teilnahmevoraussetzungen des Marktes für alle bereitstellen, zum Beispiel Bildungseinrichtungen oder die Versorgung bei Krankheit. Minimumsleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit sind ebenfalls vorgesehen. Gleichzeitig dürften bis zu diesem Punkt die Leistungen aber nicht so weit gehen, dass sie die Marktlogik beeinträchtigen.

Für die Ausgestaltung und Qualität der Lebensverhältnisse wäre weiter der Markt zuständig. Die Teilnahme am Arbeitsmarkt würde also Unterschiede im Lebensstandard im Vergleich zu einer Nicht-Teilnahme hervorbringen. Die Unterstützungsleistungen sind gerechtfertigt durch ihren Charakter, der auf Chancengleichheit ausgerichtet ist. Maß ist dabei allerdings der Grundgüteregalitarismus des Urzustands, der keine Rücksicht auf die Verschiedenartigkeit der Bedürfnisse nimmt. Folglich werden die Unterstützungen auch nur gewährleistet, wenn sie dafür als dementsprechend notwendig erachtet werden. Die Leistungen wären somit mit einem

88 Für Rawls institutionelle Vorstellungen bezüglich der Verteilung und der Implementierung der Gerechtigkeitsgrundsätze: vgl. Rawls, J., Gerechtigkeit, 1971, S. 308-314.

89 Für die Bedeutung einer egalitaristischen Vorstellung wie von Rawls für eine Ausrichtung bezüglich sozialer Rechte: vgl. Meyer, T., Theorie, 2005, S. 148-149

Bedürfnisnachweis verbunden. Dies führt zu einer Trennung von Bedürftigen und solchen die es nicht sind. Die durch den Markt erzeugten Schichtungen würden weiter vorzufinden sein. Diese betreffen negativ vor allem immer bestimmte, auf höhere Dekommodifizierung angewiesene Personengruppen.

Die weitergehende Dekommodifizierung aufgrund des Unterschiedsprinzips erzeugt nun aber noch andere Wirkungen. Sie stellt Kompensationsleistungen durch staatliche Transfers für die am schlechtesten Gestellten zu Verfügung, die damit ihren Lebensstandard ebenfalls erhöhen können, falls den bessergestellten Mitgliedern der Gesellschaft dazu die Möglichkeit gegeben wird.

Dies führt zu einer signifikanten Dekommodifizierung, weil davon ausgegangen werden kann, dass selbst wenn jemand der niedrigsten Schicht angehört, die Lebensverhältnisse nicht allein vom eigenen Erfolg im Markt abhängen. Die Lebensverhältnisse der untersten Schicht können dabei auch weit über die für eine autonome Lebensführung im Sinne der fairen Chancengleichheit benötigten hinausgehen. Die Leistungen sind aber nicht mehr im Sinne einer Chancengleichheit, sondern sie sind deswegen gerecht, weil sie Kompensation für die niedrigeren natürlichen Begabungen sind. Damit reproduzieren diese Leistungen die Schichtungen des Marktes. Das Niveau der am schlechtesten Gestellten wird zwar angehoben, aber dies hat nichts mit der Nivellierung der Schichtungen zu tun. Vielmehr kann die vom Markt erzeugte Stratifizierung als Indikator für die natürliche Begabung gesehen werden. Dementsprechend wird ein solches System keine Maßnahmen zur Integration dieser Schichten bereitstellen müssen. Der Wohlfahrtsstaat mit seinen möglichen Wirkungen auf den Arbeitsmarkt muss nicht danach ausgerichtet werden, die durch den Markt benachteiligten Schichten zu integrieren. Die Unterstützungsleistungen haben ihren Fokus ebenfalls nicht auf der Eröffnung von Partizipationschancen, sondern kompensieren lediglich einen niedrigeren Lebensstandard. Statt beispielsweise der Bereitstellung besonderer Leistungen für Alleinerziehende, die den erhöhten Erfordernissen zur Dekommodifizierung gerecht werden und den Ausschluss von einer möglichen Teilnahme am Arbeitsmarkt verhindern sollen, würden Kompensationsleistungen einfach ab einem gewissen niedrigen Niveau der Lebensverhältnisse gewährleistet. Entsprechende Gruppen würden einfach häufiger bei den Leistungsempfängern vertreten sein. Die Wirkungen für den Lebensplan und die mögliche Integration in den Markt sind dabei unerheblich.

Insgesamt verlangt Rawls System eine faire Chancengleichheit bezüglich des Erfolgs auf dem Markt, was pluralen Verhältnissen gerecht werden soll. Die möglichen Schichtungen des Marktes werden in einem weiteren dekommodifizierenden Schritt dann aber nur noch kompensiert und nicht in Frage gestellt. Dies ist das Resultat einer Vorstellung bezüglich der politischen Ordnung,

die sich dadurch legitimiert, dass sie den natürlichen und den kontingenten gesellschaftlichen moralischen Willkürlichkeiten gerecht wird. In diesem Verständnis löst sich die Person als autonom handelndes Wesen auf.

Zieht man hingegen den „capabilty“-Vorschlag von Amartya Sen heran, verändert sich das Bild.

Denn dieser sieht das Individuum ausschließlich im Zusammenhang mit den Fähigkeiten, die es ausüben kann. Damit wird bei einer Verteilung die autonome Handlungsweise in den Mittelpunkt gerückt. Daher müssten auf die individuelle Autonomie zugeschnittene Leistungen erbracht werden. Dies führt zu einer Dekommodifizierung im Sinne der Zusprechung sozialer Rechte für gleiche Entwicklungschancen. Es kommt nicht zur Kompensation von Individuen, sondern zur Gewährleistung bestimmter sozialer Rechte zur Befähigung zum autonomen, den Lebensplan verfolgenden Handeln. Die Erfüllung materieller Bedingungen zum Zwecke der Realwirkung universeller Grundrechte wird in dem Ansatz von Sen begründet. Universelle staatliche Rechte, abgestimmt auch auf die Ermöglichung gleicher Partizipationschancen aller am Arbeitsmarkt, müssten somit in dem System enthalten sein.90

Allerdings lässt sich durch Sens Argumentation nicht plausibel machen, wieso welche sozialen Rechte als Bereich legitimer staatlicher Tätigkeiten zu gelten haben. Denn die Zusprechung bestimmter Leistungen begründet sich durch die Einbeziehung der Lebenspläne. Dies bedeutet aber keine universalistische Legitimationsbasis mehr. Die Bestimmung was für ein autonomes Leben notwendig ist und welche Zuteilungen sich ergeben, sind Sache von Einzelurteilen und können nicht als allgemein gültig angenommen werden.

Festzuhalten ist, dass sich durch die Ansätze von Rawls und Sen Modelle ergeben, die die Gewährleistung sozialer Rechte im ersten, grundlegenden Bereich staatlicher Tätigkeit enthalten.

Dies bedeutet, dass die so vorgesehenen Leistungen auch nicht dem privaten Bereich überlassen werden können, sondern immer ein staatliches System von Transfers bedeuten. In einem solchen System geschieht die Zuordnung durch bestimmte, konstitutionelle Ziele und wird deswegen durch das staatliche System direkt durchgeführt. Im Falle von Rawls sind das die Ziele der fairen Chancengleichheit und des Unterschiedprinzips, bemessen durch den Grundgüteregalitarismus.

Bei Sen ist es die Ermöglichung der Ausübung bestimmter menschlicher Fähigkeiten, also die Gewährleistung individueller Autonomie, welche die Zuordnung bestimmt. Daher ist ein System, das nach dem Versicherungssystem funktioniert und die Leistungen an Vorleistungen im Beruf

90 Für das in Sens Theorie enthaltene Bild zum Wohlfahrtsstaat und Arbeitsmarkt: vgl. auch Meyer T., Theorie, 2005, S. 96 und S. 345

bindet, in diesen Vorschlägen nicht vorgesehen. Die Gewährleistung der vorgesehen Verteilungsziele wäre nicht sichergestellt.

Allerdings können die vorgeschlagenen Systeme so nicht angenommen werden. Rawls Versuch eines universalistischen Systems schafft die Integration sämtlicher Partikularitäten nur unzureichend. Es werden Annahmen über das Individuum getroffen, die aus einer liberalen Grundposition, mit der Berücksichtigung sämtlicher möglicher Pluralitäten des Menschen, als unplausibel gelten müssen. Sens substantiellere Beschreibung des Individuums hingegen ist in seiner Argumentation nicht für die Legitimation eines Systems mit universalistischem Anspruch geeignet. Daher scheint es nahe zu liegen, das Verhältnis von Universalität und Partikularität aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, als die bis jetzt besprochen Liberalen es getan haben.

Schließlich haben die bisher beschriebenen Ansätze auf der einen Seite, wie bei den Libertären, durch eine zu anspruchslose Ausgangsbasis, die dem Individuum nicht gerecht wird, nicht überzeugt. Auf der anderen Seite konnte durch zu einschränkende Annahmen über das Individuum, wie bei Rawls, keine allgemeine Gültigkeit erreicht werden. Daher soll nun ein Ansatz betrachtet werden, der das Verhältnis anders auslotet. Die kommunitaristische Position Michael Walzers zieht die bisherigen liberalen Grundannahmen der Rechtfertigung eines Systems vor dem einzelnen Individuum in Zweifel.

IV. Solidarität in der politischen Gemeinschaft: Die kommunitaristische Position von Michael Walzer

1. Gemeinschaftliche Bindungen als zu integrierender Bestandteil liberaler