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1.4 Case Management

1.4.2 Pharmazeutische Betreuung und Case Management

Seit 1948 definiert die WHO Gesundheit nicht nur als körperliches Funktionieren, das mit der Abwesenheit von Krankheit assoziiert ist, sondern als einen Zustand, der neben dem physischen auch das mentale und soziale Wohlbefinden umfasst189. 2002 wurde diese Aussage erneut im Rahmen des Gesundheitsberichts für Europa bestätigt. Sozioökonomische

187 Gaisser, Stamatiadis-Smidt, 2004; Gaisser, Stammer, Marmé, 2003; Statistisches Bundesamt, Robert-Koch- Institut (Hrsg.), 2007

188 Veronesi et al., 1999; Kaufmann, Ernst, 2000

189 World Health Organization, 2006; Kickbusch, 2003; Bitzer, 2003

Faktoren wie Bildung, Geschlecht, Armut, Erwerbstätigkeit, wirtschaftliche Entwicklung und psychosoziale Faktoren haben dabei ebenso einen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung wie Gesundheitsdienste, genetische Veranlagung und die individuelle Lebensweise190. Der Genesungsprozess von Patienten kann unterstützt und die Entwicklung von Folge- bzw. neuen Erkrankungen reduziert oder vermieden werden, wenn gesundheitsbezogene psychosoziale Aspekte der Patienten in den Behandlungsprozess einbezogen werden191.

Das Konzept der Pharmazeutischen Betreuung verfolgt einen vorwiegend physisch orientierten Betreuungsansatz. Wie in Kap. 1.3.1 beschrieben, basiert die Pharmazeutische Betreuung auf einer intensivierten Zusammenarbeit zwischen Patient und Apotheker unter Einbeziehung anderer an der Therapie beteiligter Heilberufler mit dem Ziel, die Arzneimitteltherapie zu optimieren und dem Informationsbedürfnis des Patienten gerecht zu werden. Pharmazeutische Betreuung bietet sich in besonderem Maße für Patienten mit hohem Betreuungsbedarf, langfristiger oder problematischer Medikation, Multimorbidität oder unzureichender Adherence an, da hier ein hohes Potenzial an arzneimittelbezogenen Problemen begründet liegt. Zudem haben langwierige Erkrankungen und Therapien nicht selten Auswirkungen auf andere Lebensbereiche: neben physischen Beschwerden können soziale, psychologische, häufig auch finanzielle Probleme auftreten192. Die ursprünglich aus der Sozialarbeit stammende Case Management-Methode kann für diese Probleme ein Lösungsansatz sein193. Case Management bezeichnet eine spezifische Arbeitsweise, die geeignet ist, psychosoziale und medizinisch-pflegerische Dienstleistungen für den einzelnen Patienten zu koordinieren, indem es ihm Hilfe und Orientierung auf dem Weg durch das Versorgungswesen mit der Vielzahl seiner Instanzen gibt und ihm einen ungehinderten Zugang zu den benötigten und verfügbaren Dienstleistungen im Gesundheitswesen ermöglicht194.

Die folgenden Abbildungen verdeutlichen die Handlungsweise im Rahmen des Case Managements (s. Abb. 1-1 und 1-2).

190 World Health Organization, 2002 (2); World Health Organization, 1985

191 Hurrelmann, Laaser, 1998; von Troschke, 1974

192 Engel, Heim, 1993; Meier, 1995; Kühn, 1989; Wertheimer, Smith, 1996; Bittner, Heller, 1998; Schaefer, 2001; Pöppel, Bullinger, Härtel, 1998; Bullinger, 1994; Bullinger, 1992; Konerding, Schell, 2001

193 Ewers, 1996; Ewers, Schaeffer, 2000

194 Ewers, 1996; Ewers, Schaeffer, 2000; Wendt, 2001; Wendt, 1991; Neuffer, 1998; Neuffer, 1990

Abb. 1-1 Der Patient wird konfrontiert mit einer Vielzahl von Fragestellungen195.

Abb. 1-2 Ein Case Manager unterstützt den Patienten, indem er ihn an verschiedene Leistungserbringer weiterleitet und Hilfemaßnahmen zur Lösung der Probleme koordiniert196.

Anhand eines Phasenmodells werden im Case Management die Bedürfnisse des Patienten eruiert, ein darauf abgestimmter Betreuungsplan erstellt und die Betreuung überwacht sowie evaluiert197 (s. Tab. 1-7).

195 Quelle: beta Institut gemeinnützige GmbH

196 Quelle: beta Institut gemeinnützige GmbH

197 Greene, 1992; Applebaum, Austin, 1990; Ewers, 2000

Tab. 1-7 Phasenmodell des Case Managements198 Intake/Client Identification

Patienten, die einen psychosozialen, pflegerischen und/oder medizinischen Bedarf haben, werden für das Case Management identifiziert (Aufnahmephase).

Assessment

Individuelle Versorgungsbedürfnisse des Patienten werden aus allen Bereichen – psychosozial, medizinisch, funktional, finanziell und kulturell-religiös – eruiert und mögliche Unterstützungsangebote vorgeschlagen.

Development of Service Plan

In enger Kooperation mit Patient und dessen sozialem Umfeld wird ein Hilfeplan basierend auf den im Assessment erfassten Informationen erstellt.

Implementation of Service Plan

Mit der Umsetzung des Hilfeplans beginnt die aktive Lösung der eruierten Probleme. Dies erfolgt unter regelmäßigem Austausch zwischen Case Manager, Patient und Dienstleistern.

Monitoring und Re-Assessment

Der Versorgungsverlauf wird durch den Case Manager überwacht und ggf. ein erneuter, an den veränderten Bedarf des Patienten angepasster Hilfeplan erstellt. Diese Phase dient der Qualitätssicherung des Versorgungsprozesses.

Evaluation

Es findet eine abschließende Bewertung nach Beendigung der Versorgung statt.

Über die Pharmazeutische Betreuung hinaus erfüllen Apotheker eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe: Sie bieten mit ihrem niedrigschwelligen und jederzeit erreichbaren flächendeckenden Angebot für die Patienten einen traditionell vertrauten Ort der Kommunikation und unterstützen bereits heute im Rahmen der pharmazeutischen Tätigkeit die sozialen Anliegen der Patienten. Geeignete Maßnahmen werden koordiniert und eine notwendige fachübergreifende Vernetzung durchgeführt. Dabei arbeitet der Apotheker auf zwei Ebenen: Zur Patientenebene zählen die individuellen patientenbezogenen Belastungen wie Krankheit, Einsamkeit und Probleme bei der Verrichtung alltäglicher Dinge; auf der Systemebene stehen die Leistungserbringer aus Gesundheits- und Sozialwesen mit ihren vielfältigen Hilfsangeboten für den Patienten. So hilft der Apotheker beispielsweise einer alleinerziehenden Mutter, die Versorgung ihrer Kinder für den Zeitraum ihres Krankenhausaufenthalts zu organisieren oder koordiniert die Pflege für einen Mann, der seit dem Verlust seiner Frau zunehmend verwahrlost. Diese pharmazeutischen Handlungsweisen

198 nach Wendt, 2001; Moxley, 1997; Porz, 2003

enthalten bereits viele Elemente des klassischen Case Managements, laufen jedoch im Apothekenalltag ohne jegliche Struktur und Systematik ab199. Das Konzept der Pharmazeutischen Betreuung und die Case Management-Methode verfolgen beiderseits eine systematische, interdisziplinäre und kontinuierliche Betreuung des Patienten200. Eine Erweiterung der konventionellen Pharmazeutischen Betreuung durch Elemente des Case Managements könnte durch Einbeziehung krankheitsbegleitender psychosozialer Aspekte die Ziele der Pharmazeutischen Betreuung, vor allem Effektivität und Sicherheit der medikamentösen Therapie201, verbessern und den Genesungsprozess fördern202. Dabei ist es nicht Ziel der Apotheken, selbst zu sozialen Beratungsstellen zu werden oder in Konkurrenz und Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Leistungserbringern zu treten, sondern vielmehr den Patienten zielgerichtet und frühzeitig an kompetente Stellen im Gesundheits- und Sozialsystem zu vermitteln, um Risikofaktoren, die den medikamentösen Behandlungserfolg gefährden könnten, zu reduzieren203.

Eine Studie zur Implementierung eines Case Managements für chronisch kranke Patienten in öffentlichen Apotheken konnte die Machbarkeit und den Nutzen einer krankheitsbegleitenden Beratung zu psychosozial-pflegerischen Themen als Unterstützung der konventionellen Pharmazeutischen Betreuung aufzeigen. Die soziale Beratung verbesserte die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Patienten signifikant und erhöhte die Zufriedenheit mit der Betreuung. Dabei kam dem Apotheker eine Art Lotsen- bzw. Vermittlerfunktion zu204. Ein Nutzen für den Apotheker wird in der Erweiterung seiner Beratungskompetenz, einer intensivierten Kundenbindung und einem möglichen Neukundengewinn gesehen. Ferner könnte eine erfolgreiche Implementierung und Evaluation von Case Management in der Apotheke dazu beitragen, die Präsenzapotheke zu stärken, da sie im Gegensatz zur Versandapotheke den persönlichen Kontakt zum Patienten und seinem sozialen Umfeld pflegt sowie notwendige Infrastrukturen an Hilfsangeboten bietet205.