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7.6 Diskussion ausgewählter Ergebnisse

7.6.1 Pflege und Versorgung Demenzkranker

Pflege von demenzkranken türkischen Migranten wird in der Regel im häuslichen Umfeld übernommen. Dazu trägt bei, dass das Leben in Familienverbänden noch weit verbreitet ist, eine Situation, die sich allerdings durch die zunehmende Anpassung der Migranten an deutsche Lebensverhältnisse durchaus verändert bzw. zukünftig ändern wird (Glodny et al. 2009). Dies zeigen auch die in den Idealtypen zusammengefassten Vorstellungen für die eigene Pflegesituation der befragten Angehörigen, in denen sich durchaus abzeichnet, dass die Hilfe im eigenen Alter nicht unbedingt von den Kindern erwartet wird bzw. zwar gewünscht, aber vermutlich nicht erhalten werden wird.

Dagegen gingen alle Demenzkranken, die in den hier ausgewerteten Interviews mitkommentierten, fest davon aus, auch weiterhin durch Angehörige versorgt zu werden.

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Aktuell wird die Pflege der Demenzkranken also zunächst weitgehend innerhalb der Familie organisiert, auf – zum Teil durchaus bekannte – Hilfsangebote wird kaum oder erst im absoluten Notfall zurückgegriffen. Dies bestätigen die Interviews mit den Leistungsanbietern im ambulanten und stationären Bereich. In diesem Ausmaß scheint die familiäre Pflege kulturspezifisch zu sein, allerdings können mit der vorliegenden Studie keine bevölkerungsrepräsentativen Aussagen gemacht werden.

Betrachtet man entsprechende Daten über deutsche Familien, so zeigen diese in Bezug auf die Pflegeübernahme von Angehörigen generell, dass auch hier der überwiegende Teil der Pflegebedürftigen (71%) zu Hause versorgt wird18; 29% sind in stationären Pflegeheimen untergebracht (Statistisches Bundesamt 2015); allerdings sind die Zahlen der zuhause Gepflegten über die Jahre hinweg leicht rückläufig. Die häusliche Pflege wird in Deutschland überwiegend von Frauen übernommen (Deutsches Zentrum für Altersfragen 2010).

In der vorliegenden Studie finden sich dagegen mehr männliche als weibliche Haupt-pflegepersonen. Dies kann einerseits auf den speziellen Zugang ins Feld zurückgeführt werden, mit dem Ergebnis, dass sich eher Männer als Frauen als Interviewpartner zur Verfügung gestellt haben. Bei den Ergebnissen fällt zudem auf, dass es eher die Männer sind, die sich externe Hilfe bei der Versorgung holen.

Belastungen und Argumente gegen die Pflegeübernahme: Erwartungsgemäß werden die Belastungen bei Erkrankten im fortgeschrittenen Demenzstadium stärker wahrgenommen und dann auch angesprochen, dies zeigen auch andere Studien (Müller et al. 2008). Der zunehmende Gedächtnisverlust bringt Verhaltensweisen der Erkrankten mit sich, durch die Angehörigen peinlich berührt oder auch persönlich gekränkt werden. In den Interviews mit türkischen Angehörigen werden zum Beispiel der Verlust des Schamgefühls, Inkontinenz, die plötzliche Eifersucht oder die Verwechslung der Schwiegertochter mit einer Nebenbuhlerin als besonders belastend empfunden.

Solange die Demenzkranken jedoch nicht durch körperliche Beschwerden oder die oben genannten Symptome auffallen, wird eine leichte bis mittelschwere Demenz kaum wahrgenommen. Dies ist allerdings kein Spezifikum für diese Gruppe. So zeigt eine amerikanische Untersuchung, dass mehr als zwei Jahre zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und einer Diagnose vergehen. Wenn Angehörige besondere Angst

18 Daten aus 2013

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vor Stigmatisierung haben, dauert es sogar ca. 6 Jahre bis zur Diagnose (Alzheimerinfo 2012).

Als Hinderungsgründe zur Aufnahme eines Pflegebedürftigen werden von deutschen Einwohnern eine ohnehin schon hohe berufliche Belastung und lange Arbeitszeiten, Verpflichtungen gegenüber der eigenen Familie und zu große emotionale Belastungen angegeben (Kuhlmey et al. 2013). Zudem befürchten diese Befragten, dass sich das eigene Leben mit der Aufnahme der Pflegeperson zu stark verändern würde. Einschränkungen im Freizeit- und Privatleben gehören zu den größten Belastungen (Zank, Schacke 2006;

Breidert 2001).

Dieses wird in den Interviews mit den türkischen Familie auch thematisiert, mit der Übernahme der Pflege treten allerdings bei vielen individuelle Bedürfnisse in den Hintergrund, Belastungen werden oft nur indirekt angesprochen, wenngleich sie aus den Gesprächen mit den Betroffenen durchaus deutlich werden. Eine Ausnahme ist der in der Studie identifizierte Idealtyp I, der seine eigene Lebensqualität in den Vordergrund stellt und sich auch gegenüber Anfeindungen aus dem Umfeld aufgrund dieser Einstellung immun zeigt.

Pflegemotiv Pflicht und persönliche bzw. monetäre Vorteile: Überwiegend wird die Pflege klaglos übernommen, von einigen wird daraus auch persönlicher Gewinn gezogen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die aktuelle Umfrage im Auftrag des wissenschaftlichen Instituts der Techniker Krankenkasse (TK-Pflegestudie) aus dem Jahr 2014 für deutsche Pflegende. Durchschnittlich 81% der befragten pflegenden Angehörigen geben hier an, dass sie viel Kraft daraus schöpfen, zu wissen, dass ihr Angehöriger weiter zu Hause wohnen kann (Techniker Krankenkasse 2014).

Viele der Befragten in der vorliegenden Studie sind bereit, die häusliche Versorgung des Demenzkranken einer Erwerbstätigkeit vorzuziehen. Die Annahme, dass türkische Migranten das Pflegegeld als Einkommensverbesserung nutzen und aus finanziellen Gründen darauf angewiesen sind, kann für die Befragtengruppe aus Hannover nicht unbedingt angenommen werden (Okken et al. 2008), wenngleich die Mitarbeiter der ambulanten Pflegedienste die Erfahrung gemacht haben, dass finanzielle Erwägungen gelegentlich eine Rolle spielen.

Pflegemotiv Schutz des Angehörigen vor Repressalien: Als eine zentrale Begründung für einen möglichst langen Verbleib in der eigenen Häuslichkeit ist die Angst vor der Lebensform in stationären Einrichtungen. Eine Befürchtung, die nicht nur die türkischen Erkrankten und ihre Angehörigen, sondern auch andere

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Bevölkerungsgruppen betrifft (Seidel et al. 2013). So befürchten die in der vorliegenden Studie befragten pflegenden türkischen Angehörigen, dass die Erkrankten in den Einrichtungen nicht barmherzig genug gepflegt werden könnten, dies gilt auch für ambulante Tagesbetreuung. Einigen weiblichen Angehörigen ist darüber hinaus die gute Ernährung des Erkrankten sehr wichtig, weshalb sie den Erkrankten unter ihrer Obhut versorgt sehen möchten. Auch darin sind vermutlich keine gravierenden kulturellen Unterschiede zu sehen.

Pflegemotiv Zuneigung und „wertschätzende Wiedergutmachung“: Auffällig ist die weit verbreitete Auffassung der in der vorliegenden Studie befragten Angehörigen, die früher erhaltene Fürsorge der Eltern oder des erkrankten Ehepartners hochzuschätzen. Der krankheitsbedingte Rollenwechsel der Übernahme der Elternrolle durch die Kinder (Forstmeier 2015) wird als „vertauschte“ Pflicht betrachtet. Dies kann als eine Form der Ehrerbietung bzw. wertschätzende Wiedergutmachung interpretiert werden. Ein ähnliches Bemühen der Wiedergutmachung wird auch als zentrales Motiv in einer schwedischen Studie genannt (Kjällman-Alm et al. 2013). Eine Befragung von pflegenden Angehörigen in der Schweiz identifiziert Liebe und Zuneigung als treibende Motive, gefolgt von Gefühlen persönlicher moralischer Verpflichtung oder der Meinung, dass die Pflege ein „gutes Gefühl“ geben würde. Dabei zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede. Während zum Beispiel bei dem Versuch einer Priorisierung von Motiven Söhne an erster Stelle die moralisch-ethische Verpflichtung nennen, steht bei den Töchtern Liebe und Zuneigung ganz vorn (Perrig-Chiello, Höpflinger 2012).

Pflegemotiv kulturell bedingte Erwartungen des sozialen Umfeldes: Kulturell verankerte Normen sind starke Motive zur Übernahme der Pflege eines Angehörigen.

Sie erweisen sich gesamtgesellschaftlich, aber häufig auch in Subkulturen, als prägend.

In deutschen Familien übernehmen beispielsweise Personen mit niedrigerem Sozialstatus häufiger als Personen mit höheren Sozialstatus die Pflege eines Angehörigen (Kuhlmey et al. 2013). Der soziokulturelle Einfluss zeigt sich auch in der vorliegenden Studie als relevant, der soziale Einfluss, aber auch die sozialen Kontrollen in der türkischen Gemeinschaft in Deutschland sind hoch. Dies hat einen stabilisierenden und unterstützenden Charakter, stellt aber auch eine zusätzliche Belastung für Pflegende dar, weil sie Erwartungen und Ansprüche erfüllen müssen, denen sie auf Dauer nicht gewachsen sind.

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Pflegemotiv religiöse Einstellung: Gläubige Personen haben, und dies gilt ebenso für deutsche Personen, eine höhere Bereitschaft zur Pflegeübernahme als Menschen, die angeben, nicht gläubig zu sein (Kuhlmey et al. 2013). Für die türkische Kultur dürfte diese Bereitschaft noch höher liegen. Van Wezel et al. (2014) zeigen für pflegende, türkische Angehörige von Demenzkranken in den Niederlanden, dass diese mehrheit-lich auch religiöse Gründe für die Pflegeübernahme angeben. Auch Glodny et al. (2009) berichten, dass Menschen mit türkischer Migrationsbiographie ihre Lebenskonzepte den religiösen Pflichten unterordnen. Dies hängt eng mit der Glaubenslehre der islamischen Religion zusammen, die nicht nur Verhaltensvorschriften in Bezug auf Gebete und Rituale beinhaltet, sondern den gesamten Lebensstil prägt (Becker et al.

2006). Die Religion, so eine Studie aus der Türkei, ist besonders für Frauen ein wichtiger Bestandteil ihrer Alltagsbewältigung, sie trägt zur allgemeinen Lebenszufriedenheit bei (Ayten et al. 2012). Entsprechend wird auch von einigen in der vorliegenden Studie be-fragten Personen der religiöse Aspekt der Pflegeübernahme betont, allerdings spielt die Religion in der überwiegenden Zahl der Interviews keine zentrale Rolle.

7.6.2 Unterstützung pflegender türkischer Angehöriger im ambulanten