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Bei der Analyse der Interviews werden diverse Motive deutlich, die die Befragten explizit und implizit als Begründungen für die Pflegeübernahme formulieren

9 Meint hier: sie haben darüber bestimmt

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(s. Tabelle 4), wobei es zwar vorherrschende Motive gibt, die aber durchaus mit anderen Motiven zusammenhängen bzw. sogar in Kontrast zu diesen Motiven stehen.

In traditionellen türkischen Familien wird von den Kindern erwartet, dass sie sich in jeder Lebenslage um die Eltern kümmern. Diese Erwartungshaltung und der Rollen-tausch, dass Kinder die Fürsorge für die Eltern übernehmen, sind allgemein bekannt und akzeptiert. Die Eltern haben eine große Bedeutung, die Fürsorgepflicht wird als selbstverständliches, persönliches Bedürfnis beschrieben, in dem auch Dankbarkeit für die Entbehrungen, die die Eltern erlitten haben, mitschwingt.

Das am häufigsten genannte Motiv ist die „wertschätzende Wiedergutmachung“, die sich aus kulturell basierten Verpflichtungen, Verantwortungsgefühl, Respekt, Dankbarkeit, Wertschätzung und Liebe speist. Damit fasst der Begriff

„wertschätzende Wiedergutmachung“ die unterschiedlichen Nuancen der in türkischer Sprache ausgedrückten Aussagen zusammen und gibt deren Sinngehalt am besten wieder.

5.3.1 Pflegeübernahmemotiv – „wertschätzende Wiedergutmachung“

Die wertschätzende Wiedergutmachung wird von den Angehörigen als Anspruch an sich selbst beschrieben, der dadurch entstanden ist, dass die Eltern früher für sie da waren: „(…) schließlich haben sie für mich bis zum heutigen Tag gesorgt10. Sie haben mich versorgt11und jetzt bin ich an der Reihe, so denke ich. Sie brauchen mich nämlich, so, wie ich sie als Kind gebraucht habe, brauchen sie jetzt mich. In meinen Augen sind sie jetzt die Kinder“ (Ö|100).

Und an anderen Stellen: „(…), weil ich mir selbst ein Versprechen gegeben habe, dass ich bis zu meinem Tod meine Eltern versorgen werde (…) bis dahin werde ich alles für sie tun und sie versorgen, mit meinen eigenen Händen (Ö|298) (…) vor allem, als ich gesehen habe, was er alles für seine Kinder getan hat, wie viel sie entbehrt haben, wie aufopfernd sie waren, um uns durchzubringen. (…) Ich kann nicht ihrer Liebe, was sie uns gegeben haben, Nichtstun entgegenbringen und ihnen nichts zurückgeben“

(Ö|338).

Diese wertschätzende Wiedergutmachung ist nicht nur als Motiv gegenüber den Eltern wirksam, sondern gilt auch für Ehepaare. Die Wiedergutachtung berücksichtigt dabei, dass der Angehörige inzwischen zwar veränderte Verhaltensweisen aufweist und schwierig im Umgang ist, aber früher eben ganz anders war und dafür Dankbarkeit und Unterstützung verdient. „(…) er ist ein guter Mann für mich (I|156)(…)

10 „beni bu yasa getirdiler“ bedeutet wortwörtlich: sie haben mich bis zu meinem jetzigen Alter gebracht 11 „büyütmek“ bedeutet wortwörtlich groß werden lassen

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wir sind sehr verbunden miteinander, sehr. Egal wie sehr wir uns streiten oder wie sehr er auch mit mir schimpft, er ist meine erste große Liebe, der Vater meiner Kinder“ (I|136).

5.3.2 Pflegeübernahmemotiv – der Einfluss des sozialen Umfeldes

Der Einfluss des sozialen Umfeldes spielt bei der Pflegeübernahme eine wichtige Rolle. So wird in der türkischen Kultur explizit und implizit von der Familie erwartet, dass sie sich um ihre Angehörigen kümmert. Personen, die hier anders entscheiden, werden nicht nur kritisch betrachtet, sondern in ihrer Gemeinde auch isoliert. Die soziale Kontrolle ist hoch: „(…) sie12 schämen sich noch nicht einmal. Sie fragen sogar, wie ein Verhör, wer hier ein- und ausgeht. Schreiben Sie das ruhig bitte auf (…). Letztens (…) ist hier eine Dame hergekommen, um meiner Mutter die Spritze zu geben, (…) da haben sie schon gefragt‚ wer ist das, was will sie hier, wieso ist sie gekommen, was hat sie mit dir zu tun?‘. Sie haben mich ausgefragt, dann habe ich gesagt, ‚was geht dich das an, wer in unser Haus ein- und ausgeht, wieso fragst du denn so sehr danach und zwingst mich zu antworten‘ und deswegen kann man nichts machen, wer ein und ausgeht, auf alles sind sie neugierig und sie müssen auch alles wissen“ (G|57).

Dieser soziale Druck führt dazu, dass die Familien eine stationäre Versorgung nur in Ausnahmefällen in Erwägung ziehen, auch weil die Abgabe der Pflege an eine Einrichtung als Versagen definiert wird. „Ohhh, das kommt mir aber sehr, ich weiß nicht, das sieht ja so aus wie ‚ich habe es nicht hinbekommen, sie zu versorgen, hier macht ihr das mal‘ ich glaube, das könnte ich nicht akzeptieren. Ich kann mich von meiner Mutter nicht trennen“ (C|173).

Das Ansehen in der türkischen Gesellschaft ist für einige Angehörige wichtig und setzt sie zugleich unter Druck, auch weil die Menschen in diesem Umfeld durchaus ungefragt die Privatangelegenheiten kommentieren. „Meine Mutter kann nirgendwo hingehen, selbst wenn ich sie hinschicken wollte. Das ist eine Schande, das zu sagen, ich schäme mich das jetzt zu sagen, aber unsere Menschen sind sehr, sie wissen, wer durch diese Tür kommt und wieder hinausgeht, darüber reden sie (…) weil, wenn ich ihr das erlauben würde, dann würden sie sagen, ‚schau mal, jetzt hat der Sohn seiner Mutter noch eigenhändig einen Mann gesucht‘ deshalb kann ich und werde ich meine Mutter nirgendwo hinschicken (…)“ (G|53).

5.3.3 Pflegeübernahmemotiv – Religiöse Gründe und Vorstellungen

Auch religiöse Motive können die Angehörigen veranlassen, die Pflege des Erkrankten zu übernehmen. So äußert ein Befragter: „(…) jemand, der einen kranken Menschen pflegt,

12 Meint hier: das türkische Umfeld, die Nachbarschaft

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Allah näher ist, dass Allah dieses Geschöpf sehr mag“ (A|381). Gleichzeitig sehen sie in der Pflege eine Kraftquelle für sich selbst: „Ja, das gibt mir wirklich Kraft, jedem von uns. Ich gehöre zu den Menschen, die glauben, dass das Leben und die Welt auf Gebete aufgebaut ist, in jeder Hinsicht, was meine Eltern angeht, was ältere Menschen betrifft, was in der Welt passiert. Z.B. sind die Gebete, die man von seiner Mutter und von seinem Vater erhält mit nichts zu vergleichen13. So denke ich. Ich habe noch nie in meinem Leben gelitten, noch nie. Ich mache so viel und habe viel um die Ohren, aber nicht einmal sage ich ‚Lieber Allah, es erdrückt mich, diese Last und bitte hilf mir‘ oder so, es wird mir alles auf einem Silbertablett serviert, ich habe überhaupt keine Sorgen, das Geld, was ich verdiene ist nicht besonders viel, aber ich danke trotzdem für alles, was ich habe“ (Ö|366).

5.4 Belastungen der pflegenden Angehörigen und innerfamiliäre