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Person und Wirken Albrecht von Hallers (Biographie)

Hallers biographische Daten werden hier mit seinen Werken und Lebenssituationen verknüpft. Es wird versucht, Hallers Auffassungen in den Kontext der theologischen und kulturellen Strömungen zu stellen, die ihn vermutlich geprägt haben. Diese Verknüpfung bedingt Abweichungen in der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse. Eine umfassende tabellarische Biographie haben Boschung et al.1 ihrem bedeutenden Werk über Hallers Korrespondenz angefügt. Biographien mit ausführlichen Angaben zu Lebensdaten und beruflichen Aktivitäten Albrecht v. Hallers (Blösch, Siegrist) sind zitiert. E. Blösch (Schreibweise auch Bloesch, vgl. Siegrist2) vergleicht 1877 in der Albrecht von Haller zum 100. Todestag gewidmeten Denkschrift3 die Sicht auf Haller in der Berner Gesellschaft mit dem Blickwinkel dessen, der im Tal steht und die umliegenden Erhebungen sieht, die ihm aber den Blick auf die hohen Berge hinter diesen Erhebungen versperren. Erst beim Aufstieg aus den Niederungen – gemeint ist das Aare-Tal, in dem Bern liegt, – sähe man die Pracht der Berner Alpen. – Dieses Bild macht die Nicht-Beachtung Hallers während seines Lebens in Bern deutlich.

Ob es Missachtung oder – wahrscheinlicher – politische Ablehnung war, die die zur Regierung berechtigten Patrizier und ihre Familien, die Burger (der Staat / Kanton Bern als Oligarchie, s. Usong), veranlassten, Haller lebenslang ein ihm entsprechendes Regierungsamt vorzuenthalten, ist schwer zu entscheiden. Immerhin hat Haller in jungen Jahren (1732) den

„gnädigen Herren“ (Anrede der Burger) stupides Denken und Verhalten vorgeworfen: „Bei solchen Herrschern wird ein Volk nicht glücklich sein! Zu Häuptern eines Stands gehöret Hirn darein!“ (zitiert nach Siegrist2, S. 8).

Dieser den Blick freigebende Aufstieg aus der Berner Enge war (aus schweizerischer Sicht) Ausländern gegeben, die die Bedeutung des Gelehrten Haller schon zu seinen Lebzeiten erkannten, nicht aber den Ratsherren und Vennern in Bern. Der schweizerische Ausdruck

„Venner“ bezeichnet im urspünglichen Sinne einen Fähnrich, hier dagegen sind die vier Ven- ---

1 Urs Boschung, Barbara Braun-Bucher, Stefan Hächler, Anne Kathrin Ott, Hubert Steinke, Martin Stuber, Repertorium zu Albrecht von Hallers Korrespondenz 1727-1777, Studia Halleriana VII/1, (Basel: Schwabe & Co AG, 2002), 631, im Folgenden: Boschung, Korrespondenz.

2 Christoph Siegrist, Albrecht von Haller, Sammlung Metzler, Abt. Literaturgeschichte (Stuttgart: J. B.

Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1967).

3 E.[mil] Blösch (nur Initial angegeben) Denkschrift (Bern: Verlag B. F. Haller, 1877).

ner des Berner Großen Rats gemeint, gewissermaßen Obleute, Vertreter der einzelnen Quartiere4.

Kindheit und Jugend

Albrecht Haller – er wurde am 23. April 1749 durch Kaiser Franz I. geadelt (nobilitiert, Siegrist, S. 5 und Boschung, Korrespondenz, S. 632) – wurde nach Blösch, S. 3, am 8.

Oktober 1708 in Bern als 4. Kind seiner Eltern geboren und dort am 22. Oktober 1708 getauft.

Taufpate war der Privatier Albrecht von Wattenwyl (Boschung, Korrespondenz, S. 564), mit dem Albrecht von Haller später in Zeiten schweren Leides gelegentlich korrespondierte (s.

u.). – Die Angaben zu Hallers Geburtstag variieren: Haller selbst und die Brockhaus Enzyklopädie5 nennen den 16. 10. als Geburtstag, Siegrist, S. 5 gibt ebenfalls den 16. 10. an, zitiert aber auch Blösch mit dem 8. Oktober, sowie Frey (17. Okt.) und Gutke (18. Okt.).

Boschung, Korrespondenz, S. 631 führt den 16. Oktober 1708 als Geburtstag auf. – Der 16.

Oktober als Geburtstermin ist aus folgenden Gründen wahrscheinlich die richtige Angabe: der Tauftermin steht fest. Die Kindersterblichkeit war zu Beginn des 18. Jahrhunderts hoch, und Calvin6a – Bern war und ist evangelisch-reformiert calvinistischer Prägung – betonte die Kindertaufe. Das wird auch in Frage 74 des Heidelberger Katechismus6b deutlich, der die Kindertaufe befürwortet: die Kinder wie die Alten gehören zum Bund Gottes, werden durch Christi Blut erlöst, der Heilige Geist ist auch ihnen zugesagt. Wichtig ist auch die dort aufgeführte Unterscheidung der getauften von den „Kindern der Ungläubigen“, und von daher kann man vielleicht eine Analogie zur Beschneidung verstehen, die bei Calvin und in der ge- ---

4 zu Venner s.Karl Geiser, „Die Verfassung des alten Bern“ in Festschrift zur VII. Säkularfeier der Gründung Berns 1191-1891 (Bern: ohne Verlagsangabe, 1891), 100.

5 Albrechts von Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und sich selbst. Zweyter Theil. Fragmente Religioser Empfindungen (Bern: Hallersche Buchhandlung, postum 1787), 245.

Haller schreibt in diesem Tagebuch unter dem 16. Okt. 1740: „ Heute gehe ich in mein drey und dreyßigstes Lebensjahr. Ein betrübter Geburtstag für mich, ...“ – s.a. Brockhaus Enzyklopädie, 17.

Aufl. (Wiesbaden: F. A. Brockhaus, ab 1966), im Folgenden: Brockhaus.

6a Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, 2. Aufl. (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins GmbH, 1963) Buch IV, 16. Kapitel, S. 913. – 6b Heidelberger Katechismus, revidierte Ausg., Hg. Reformierter Bund, Evang.-reformierte Kirche Bayern und Nord-westdeutschland, Lippische Landeskirche (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1997).

nannten Frage 74 erwähnt wird: „die Taufe, das Zeichen des Bundes [Gottes mit den Menschen], .... wie es im alten Testament durch die Beschneidung geschehen ist, an deren Stelle im neuen Testament die Taufe eingesetzt wurde.“ Wegen der hohen Kindersterblichkeit wollte man die Neugeborenen möglichst früh in Gottes Bund einführen: die Beschneidung (Gen 17,12) als Zeichen dieses Bundes wurde bereits am 8. Lebenstag vollzogen.

Albrecht Hallers Vater war der 1672 geborene Niklaus Emanuel Haller, dessen Familie zwar im Prinzip „regimentsfähig“ war, aber nicht zu den Patriziern des Staates Bern gehörte.

Im Staat (Kanton) Bern des 17. und 18. Jahrhunderts führte eine adelige Oberschicht die Regierung, die den Versuch einer Mitsprache der Zünfte ablehnte. Diese Oberschicht waren die „gnädigen Herren“, die Verfassung war auf diese Aristokratie hin ausgerichtet. Die Politik dieses Patriziats hatte absolutistischen Charakter; mehrere Aufstände im 17. Jahrhundert wurden blutig unterdrückt. Erst 1831 wurde diese Verfassung durch eine demokratische ersetzt. – Haller hat sich zeitlebens zur aristokratischen bzw. zu dieser oligarchischen Staatsform bekannt, so wie er es in seinem Roman Usong (1771; vgl. Anhang zu Hallers Briefen über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung) zur Staatsräson bzw. Staatsführung ausdrückt (dort S. 44): „Er [Usong] begriff endlich, wie in einem Rathe [gemeint ist die damalige Republik Venedig] gleichmächtiger Edeln die Einigkeit Platz haben kan, indem sich alle dem Schlusse der mehrern unterziehn. Er sah ein, daß die Obermacht [Überlegenheit]

unter freyen Mitherrschern einzig durch die Obermacht in den Gaben [Begabungen] erhalten werden kan, und daß Tausende ihre Neigung nicht einem einzigen unterwerfen, wenn er nicht durch Stärke seiner Gründe sie bezwingen (,) oder durch seine Beredsamkeit sie gewinnen kan.“ Haller schildert im Usong einen König, der einen edlen Charakter hat und deshalb (!) auch als Monarch seine Untertanen glücklich macht. Aber als Ideal schwebt Haller eine aristokratisch geführte Republik vor, so wie er sie sich für Bern in seiner Jugend erhofft hatte.

Usong war ein Alleinherrscher. Auf S. 251 des Usong lässt Haller den Gesandten Venedigs die Vorzüge einer Republik [einer Oligarchie] aufzählen: der Gesandte „war ein Sohn der Freyheit, der die Härte der Regierung (,) und der despotischen Gewalt ablehnte: ihm war unbegreiflich, wie eine Herrschaft geführt werden könnte, wo ein einziger Wille für alle zum Gesetze würde.“ Es folgt eine Liste verheerender Fehlentscheidungen einzelner Monarchen, und Haller fährt fort: „In freyen Staaten werden alle Entschlüsse von vielen genommen [gefasst]. Es ist nicht leicht möglich, daß ein ungerechter Entschluß von vielen ungleich denkenden ... Männern angenommen werde.“ Ausschlaggebend ist nach Haller die Qualität der Argumente, die zu Mehrheitsbeschlüssen führt. – In Tübingen (s. u.) hat Haller die Folgen von Günstlingswirtschaft – auch an der Universität – zu seinem Schaden kennengelernt

(Hintzsche et al.7, S. 11). – Niklaus Haller war ein angesehener Jurist; er lehnte 1705 einen Ruf an die Universität Utrecht ab (Siegrist, S. 5). Die Mutter Albrecht Hallers war die geborene Maria Engel, Tochter eines Schultheiß (der Schultheiß war im Staat Bern der Vorsitzende des sog. Kleinen Rates, des Entscheidungsgremiums): damit hatten die Hallers beste Kontakte zu den regierenden Patriziern. – Niklaus Haller wurde Landschreiber in Baden bei Zürich, ließ aber (Siegrist, S. 5 ) seine Familie in der Berner Heimat zurück, heiratete nach dem Tod von Albrecht Hallers Mutter ein 2. Mal und starb selbst 1721 in Baden (Boschung, Korrespondenz, S. 631; bzw. Blösch, S. 4). – Albrecht Haller war ein kränkliches Kind,8 das keine öffentliche Schule besuchen konnte und deshalb von dem Pfarrer Baillod (aus dem französisch sprechenden Kanton Waadt9) unterrichtet wurde (bei Siegrist, S. 5, findet man die Schreibweise A. Baillodz). Johann Georg Zimmermann (s. u.), Biograph Hallers zu dessen Lebzeiten, schreibt 1755, dass Haller „am Ende des neunten [Lebens]Jahres ... das Griechische Testament ad aperturam [zur Eröffnung, vielleicht von Hausandachten?10] verstünde. .... Er machte eine chaldäische Grammatik11.“ (Siegrist, S. 5). – Nach Blösch, S.

3, dort Anmerkung, hat Zimmermann den Entwurf dieser Biographie seinem „Doktor-Vater“

Albrecht von Haller vorgelegt, und nach Boschung, Korrespondenz, S. 606, hat Haller „be- ---

7 E. Hintzsche und H. Balmer, Albrecht Hallers Tagebücher seiner Reisen nach Deutschland, Holland und England; Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Neue Folge, Bd. 4 (Bern: Verlag H. Huber, 1971), im Folgenden: Hintzsche, Tagebücher.

8 Haller litt zeitlebens an vielfältigen Krankheiten, die er auch gegenüber seinem Freund Bonnet (s.

Zeit nach 1755) erwähnt.

9 Die Waadt wurde 1536 von Bern erobert und 1798 durch die von waadtländischen Patrioten gerufenen Franzosen von Bern getrennt, aus waadtländischer Sicht: von Bern befreit. Die Waadt wurde als Kanton Leman (vgl. Lac Leman – Genfer See) Teil der Helvetischen Republik.

10 Ich danke Herrn Prof. Dr. Dr. M. Bröking-Bortfeld , Evang. Theologie, Univ. Regensburg, für diesen Hinweis.

11 Die chaldäische Sprache wird bei Dan 1,4 als Sprache Babylons erwähnt. – Die Lippische Landesbibliothek12 besitzt eine Biblia Polyglotta, die zwischen 1569 und 1571 in Antwerpen gedruckt wurde: sie enthält (im AT) den hebräischen Urtext mit der lateinischen Übersetzung, die griechische Fassung der Septuaginta mit der zugehörigen lateinischen Übersetzung, den – und das ist in unserem Zusammenhang wichtig – chaldäischen Text und auch dazu die lateinische Übersetzung. Zusätzlich findet sich eine syrische und chaldäische Grammatik. Vielleicht bezieht sich Zimmermanns Aussage auf Hallers Arbeit mit einer solchen Gelehrten-Bibel.

trächtlichen Einfluss“ auf diese Biographie genommen. – Bei allem Respekt vor dem fraglos lese- und bildungshungrigen Kind Albrecht Haller muss man wohl einige Abstriche machen, wenn man bedenkt, dass Haller sich zu der Zeit, als diese Biographie verfasst wurde, mit dem Gedanken trug, von Bern nach Göttingen zurückzukehren bzw. einen Ruf nach Halle, damals Preußen, anzunehmen, und Zimmermann Hallers Wohlwollen erlangen bzw. nicht verlieren wollte. In diesem Zusammenhang ist Lessings Besprechung dieser Biographie interessant: In seinen „Rezensionen“ vom 17. Mai 1755 schreibt er13, dass „Der Herr von Haller zu den glücklichen Gelehrten [gehört], welche schon bei ihrem Leben eines ausgebreitetern Ruhms genießen, als nur wenige nach ihrem Tode teilhaft werden. Dieses Vorzugs hat er sich unwidersprechlich durch überwiegende Verdienste würdig gemacht, ... Sein Leben beschreiben, heißt nicht, einen bloßen Dichter oder einen bloßen Zergliederer [Anatom, griech. anatemnein: zerschneiden] oder einen bloßen Kräuterkundigen, sondern einen Mann zum Muster aufstellen - - - whose mind contains a world and seems for all things fram´d.

.... [Zimmermann] erhebt sich zwar über den Ton eines kalten Geschichtschreibers, allein von der Hitze eines schwärmerischen Panegyristen [Lobredners] bleibt er doch noch weit genug entfernt, als daß man .... freundschaftliche Verblendung besorgen müßte.“ – Bei aller Hochachtung Lessings für Haller spürt man doch Skepsis gegenüber Zimmermann.

Albrecht Haller sollte nach Hintzsche, Tagebücher, S. 7 ursprünglich Geistlicher werden.

Nach dem Tod des Vaters 1721 aber ging Albrecht Haller 1722 nach Biel zu dem Arzt Johann Rudolf Neuhaus, einem Verwandten seiner Stiefmutter, um sich auf das Medizinstudium vorzubereiten, das damals noch breit naturwissenschaftlich studiert werden konnte. Bei dem s.

Z. üblichen Medizinalpraktikum entdeckte Haller in sich die Liebe zum Studium der Natur, die sein späteres Leben neben Medizin und Poesie prägte. Allerdings wandte er sich schon damals gegen die cartesianischen Ansichten seines Lehrers Neuhaus; Descartes14 hatte den lebendigen Organismus mechanisch erklärt, eine Auffassung, die Haller später in der Auseinandersetzung mit Lamettrie (s.u.) wiederfand und ablehnte.

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12 Julia Freifrau Hiller von Gaertringen, „Die Biblia Polyglotta aus der Druckerei Platin“ in Heimatland Lippe (Zeitschrift des Lippischen Heimatbundes und des Landesverbandes Lippe) Bd. 96 (Detmold: Verlag topp + möller, 2003), 148.

13 Cotta´sche Bibliothek der Weltliteratur. Lessings sämtliche Werke in zwanzig Bänden. Hg. Hugo Göring; 16. Bd. (Stuttgart: J. G. Cotta´sche Buchhandlung. Gebrüder Kröner, keine Jahresangabe, vermutlich kurz vor 1900), 309.

Studium:

Als Fünfzehnjähriger ging Haller 1723 an die Universität Tübingen. Siegrist, S. 6 berichtet, dass Haller in Tübingen nicht die Gelehrsamkeit vorfand, die er sich für seine akademische Ausbildung erhoffte. Hallers Tagebuch (Hintzsche, Tagebücher, S. 23 ff) spricht eine eindeutige Sprache: „Die Professoren werden alle vom Fürsten ernennet, welcher dazu nach Belieben Extraordinarios macht, da eben nichts seltenes, einen Kerl auf eines Kammerdieners Bitte hin aufm Lehrstuhl zu sehn. ... Überall werden eitel Landeskinder befördert, und in die [sind die] Osiandrische [folgen weitere Geschlechternamen] und andere Häuser schon seit hundert Jahren niemals ohne Professoren gewesen.“ [m.a.W.: Professuren wurden quasi vererbt; das deckt sich mit Schilderungen von Kennern der Universitätsgeschichte Tübingens im 17./18. Jahrhundert, pers. Mitt.]. „Der alte Zeller [Prof. der Medizin] war wohl einst ein Mann gewesen, nun aber wegen Alters, Geschäften [als Hofarzt] und Wein unbrauchbar. ...

Alex. Camerarius [Prof. für Chemie], ein Mann von größere[r] Einbildung als Verdienste, ....

Das Frauenzimmer, die Lustreisen, sonderlich aber das Schmausen nahme die Zeit und, was ärger ist, die Begierde zum Lernen weg. ... ritte mit Hr. Dr. Duvernoi [Anatom] und anderen herbatum [Pflanzensammeln] ... kamen auch ohne Pflanzen meist wohlbesoffen nach Hause.”

Bei einer Sauferei kam ein Kumpan ums Leben, „der den Brandewein nicht mehr so wohl ---

14 Tom Sorell, Descartes (Freiburg: Herder, keine Jahresangabe, um 2000): Der cartesianische Dualismus formuliert, dass Geist und Körper unterschiedliche Substanzen sind (S. 96). Gewissheit über Materie, materielle Dinge, besteht nur, wenn diese mathematisch erfassbar sind. Daher führt nur die wissenschaftliche Methode des Vernunftgebrauchs zu definitiven Ergebnissen (41). Die „Gesetze“

des Descartes von der Trägheit, der Erhaltung des Impulses (nach heutiger Formulierung) zweier sich treffender Körper und der geradlinigen Bewegung, solange keine ablenkende Kraft einwirkt, folgen aus den Newtonschen Axiomen Trägheitsprinzip und Aktionsprinzip (die lange nach Descartes´ Tod formuliert wurden). Bei Descartes bestimmen diese mechanischen Grundvoraussetzungen auch physiologische Prozesse: die Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes als „Zusammenstoß“ bewirkt in der Zirbeldrüse (Hirnepiphyse), abhängig von der Art des einwirkenden Körpers, Bewegungen, die von der Seele, die mit der Epiphyse verbunden ist, als Erfahrungen, als „Ideen“ verarbeitet werden (90), aber die Seele kann auch unabhängig vom Körper existieren (92). Daraus folgt der oben angeführte Dualismus. Auch Leidenschaften bewegen die Zirbeldrüse. Wenn Seele und Körper, zwei folglich unterschiedliche Substanzen, die Zirbeldrüse bewegen, kann es zu Konflikten kommen (118).

– Aus diesem mechanischen Weltbild folgen bei Descartes Auffassungen, die später als deistisch bezeichnet wurden: Gott hat die Materie erschaffen, eine erste Bewegung angestoßen und greift nicht weiter in die Abläufe ein, denn die drei genannten „Gesetze“ regeln die Abläufe (47-49).

vertragen mochte ... , worüber wir alle in Haft kamen, ... dieses war bey diesem Unglüke das Beste, daß wir des überflüßigen gezwungenen Saufens müde wurden. .... in Würmlingen, einem ... Dorfe [mit] einem Beinhause, auß welchem dieses und ein anderes Mahl eine zimliche Anzahl Knochen [für den Anatomieunterricht?] hohleten.” Am 21. März 1724 verteidigte Haller „öffentlich die Hn. Koschwitz [s. u.] gemachten Einwürfe [die gegen Koschwitz gerichteten Argumente]. Die Platten [für das Essen]... hatte ich geliefert, die Arbeit aber war Hrn. Duvernoi´s [Hallers akademischer Lehrer]“. Offensichtlich hat Haller hier unter Anleitung des Anatomen Duvernoy Vorarbeiten zu seiner späteren Dissertation in Leiden durchgeführt. „Auch diese Handlung mußte mit zweyen Schmausen bekräftigt werden. ...

Hiermit thate nach und nach auch ich die Augen auf. Hier ware vor [für] mich nichts Rechtschafnes zu thun. Alle Gesellschaften waren gleiche Müßiggänger, gleiche Säufer. Die Hrn. Professoren waren theils ohne Eifer, theils ohne Gelehrtheit. ... Von Holland hörte ich nichts als Lobsprüche, Boerhaavens Werke schienen mir Meisterstücke zu sein.“ –

Pharmaziegeschichtlich interessant ist folgende Begebenheit: Vielleicht aus der Zeit in Tübingen oder aus Kontakten in Bern rührte Hallers Bekanntschaft mit dem Apotheker Johann Wilhelm Melm aus Bremen (1701-1760), der während seiner pharmazeutischen Wanderjahre 1723 in Bern und anderen Teilen der Schweiz war und 1724 (?) bei Gmelin in Tübingen Chemie studierte. Während einer Reise im Sommer durch Norddeutschland (Hintzsche, Tagebücher, S. 69, Eintrag 4. August 1726 15) besuchte Haller diesen Apotheker in Bremen: „Ging zu H. Melm, Apotheker beym göldnen Hirsch. Er ware in seinem Garten, ware auß alter Bekandtschaft sehr höflich. Weiße [zeigte] mir seine Selzamkeiten. Seda varia ad 20 a se ipso in Alpibus selecta, Granadillam quodam fl.[ore] trifido, cujus calix flamentosus gummi quodam foetido, quod muscas retinebat, inunctus erat; Corindum;

Balsaminem hexapet.[ala]; Lycopersion fl.[ore] pleno, cujus fructus valde irregularis, coli instar convolutus erat; Lathynem Ceylonicum odore Gelsemini. [verschiedene Hauswurz-Arten, ungefähr 20, von ihm selbst in den Alpen ausgewählt, ein gewisses Granadillam, und zwar mit dreispitzigen Blüten, dessen blasenartiger Blütenkelch mit einem gewissen stinkenden Gummi, welches Fliegen zurückhalten wird, beschmiert war; Corindum; Balsa- ---

15 Herrn Dr. C.-L. Wachsmut-Melm, Oerlinghausen / Lippe, danke ich verbindlich für diesen Hinweis; Herrn Prof. Dr. A. Bresinsky, Regensburg, Fachrichtung Systematik, und meinem Bruder G.

Wiegrebe, Apotheker in Barntrup/Lippe, danke ich für ihre Bemühungen, die von Haller beschriebenen Pflanzen zu bestimmen: es war auf Grund der wenigen Angaben nicht möglich.

minem mit sechs Blütenblättern, Lycopersion mit voller Blüte, dessen Frucht sehr unregelmäßig im Bilde eines Spinrockens eingewickelt war; Lathynem Ceylonicum mit dem Geruch des Gelsemiums]. Er gabe uns einige Früchte, darunter große, meist reife Trauben ware, Pyrmonter Wasser das stark aufwallt mit dem Weine.“ Offenbar haben Melm und sein Gast Haller Weinschorle getrunken, bei der die sauren Komponenten des Weins Kohlendioxid aus dem im Wasser gelösten Hydrogencarbonat freisetzten.

Am 26. April 1724 verließ Haller Tübingen und wechselte an die Universität Leyden [heute Leiden], an der Herman Boerhaave (1668-1738) arbeitete, laut Blösch, S. 5 einer der berühm-testen Mediziner seiner Zeit, der Medizin, Botanik und Chemie lehrte (Siegrist, S. 6). Darüber hinaus hat Haller sich in seinen Briefen über die Offenbarung (s. dort) mehrfach auf Boerhaaves theologische Auffassungen bezogen. Haller konnte in Leiden an seine kurze Lehrzeit in Biel anknüpfen. Während in Tübingen Hallers persönliche Eindrücke und Erlebnisse im Vordergrund seiner Tagebuchaufzeichnungen stehen, die daher biographisch interessant sind, rücken für Hallers Zeit in Leiden die Beschreibung der holländischen Landschaft, der Lebens-, Handels- und Regierungsverhältnisse, sowie die Lehrleistungen seiner akademischen Lehrer ins Blickfeld.

Für Haller war Leiden der eigentliche Beginn seines Studiums (Hintzsche, Tagebücher, S.

40): „In dieser mir noch neuen Welt nahm ich mir ernstlich vor, die theuren Stunden mir zu Nuzen zu machen. ... Hätte ich meine Reisejahre alle so zugebracht, ich würde an Gelte viel ersparet, an Wißenschaft viel gewonnen haben.“ Haller durfte während der vorlesungsfreien Zeit täglich zwei Stunden in Boerhaaves persönlichem botanischen Garten arbeiten. – Am 23.

Mai 1727 promovierte Haller in Leiden zum Doktor der Medizin. Bei Hintzsche, Tagebücher, S. 97, ist das Titelblatt abgebildet: „Experimenta et dubia circa ductum salivalem novum Coschwizianum“ (Experimente und Zweifel betreffend den neuen Speichelgang nach Koschwiz). Interessant ist aus heutiger Sicht die Beschreibung des dreiteiligen Promotionsverfahrens, dessen 1. Teil „heimlich und bey Nacht [verläuft], daß, wenn er [der Kandidat] abgewiesen werden solte, seine Ehre keinen Schaden litte.“ Es folgte die öffentliche Disputation einer Krankheit, schließlich „muß er [der Kandidat] einen Aphorismum auß Hippocrate erklären. ... Die Unkösten sind 178 Gulden vor [für] die Hohe Schule“ (zum Vergleich: der Gärtner des botanischen Gartens bekam im Jahr 800 Gulden).

Bei Hintzsche, Tagebücher, S. 59 findet man Hallers Schilderung seines Besuches bei Koschwiz in Halle im Juli 1726. Koschwiz bestreitet die Einwände Hallers und dessen Lehrers Duvernoi (machmal Duvernoy). Haller kommt zu dem Schluss, „dem Mann fehlt es noch [weder] an Fleiß noch an Geschiklichkeit, aber an Gelt und Büchern. ... Er hat keinen

rechten Begrif von dem, was in Europa in anatomicis vorgeht, ...“ Haller hat von Koschwiz Abschiedsgeschenke erhalten. – Von den Franckeschen Stiftungen in Halle berichtet Haller:

„Wiewol es gefährlich ist, Reformierte [Schüler zur Ausbildung] hinzusenden, weil sie meistens luther´sche oder pietistische principia mit [nach Hause] bringen.“ Dieses ist eine der geläufigen sarkastischen Bemerkungen über die gespannte Situation zwischen Reformierten und Lutheranern, oft auch über Jesuiten. Es fällt immer wieder auf, dass Haller die Werke Luthers nicht zitiert, selbst wenn dort theologische Auffassungen vertreten werden, die denen Hallers nahestehen. Wir können aus heutiger Sicht die Polemik zwischen evang.-lutherischen und evang.-reformierten Theologen kaum verstehen, aber Luther hat die Auffassung Zwinglis vom Abendmahl als Ketzereien und Lügen bezeichnet16: keine Basis für eine sachliche Auseinandersetzung Hallers mit Luther.

Bei seiner Reise nach London (Hintzsche, Tagebücher, S. 96) hört Haller von einem aus heutiger Sicht pharmaziegeschichtlich interessanten Aspekt: er spricht von dem

Bei seiner Reise nach London (Hintzsche, Tagebücher, S. 96) hört Haller von einem aus heutiger Sicht pharmaziegeschichtlich interessanten Aspekt: er spricht von dem