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Carl Baggesen, Albrecht von Haller als Christ und Apologet 1

Kapitel 2: Vorarbeiten zur Physikotheologie und Apologetik bei Haller

1. Carl Baggesen, Albrecht von Haller als Christ und Apologet 1

Carl Albrecht Reichold Baggesen war um die Mitte des 19. Jahrhunderts Pfarrer am Münster in Bern und hatte gute Kontakte zur dortigen evangelisch-theologischen Fakultät. Da in dieser Untersuchung Hallers Funktion als apologetischer Physikotheologe besprochen wird, liegt es nahe, frühere Auffassungen über Hallers apologetisches Wirken kennenzulernen und mit der heutigen Sicht zu vergleichen.

Aus der hier analysierten Schrift von Baggesen und seinem Aufsatz über die freisinnige Theologie1 folgt, dass er diese Richtung strikt ablehnte und für seine Auffassung auch in der Öffentlichkeit stritt. Die hier besprochene kleine Schrift ist die ergänzte Fassung eines Vortragsmanuskriptes zum Thema einer (aus heutiger Sicht: vermeintlichen)

„Unverträglichkeit des biblischen Glaubens an Gott mit den Resultaten der wissenschaftlichen Naturforschung“ (S. 3). Baggesen geht einer Frage nach, die Paul Tillich2 später wie folgt formuliert hat: „ob die christliche Verkündigung dem modernen Geist annehmbar gemacht werden könne, ohne daß sie dabei ihrer Einzigartigkeit und ihrer eigentlichen Substanz verlustig ginge.“

Haller hat nach Baggesen „Wissen und Glauben, Beides in seltener Fülle, in sich vereinigt.“

Baggesen hält diese Auffassung trotz nachstehender „Einwürfe“ (Entgegnungen) aufrecht:

insbesondere habe der Fortschritt der Naturwissenschaften seit Haller vieles in der Bibel noch fraglicher als zu Hallers Zeit gemacht. Mit „kritischen Waffen“ sei die Bibel zwischenzeitlich untersucht worden. Baggesen sagt nicht, auf wen er sich hier bezieht, und erwidert in diesem Zusammenhang, dass Haller als Naturforscher klar erkannt habe, „daß die sichern Resultate ---

1 C. (nur Initial angegeben) Baggesen, Albrecht von Haller als Christ und Apologet (Bern: Verlag H.

Blom, 1865; der o. a. Aufsatz wurde ebenfalls in Bern gedruckt, sagt aber nichts zu diesem Thema.

2 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, 2. Aufl. (Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk, 1956), 14.

der Naturforschung sich allezeit auf die genaue Beobachtung der Erscheinungen ... gründen, und nicht weiter gehen können, als zur Erkenntniß der gleichartige Erscheinungen bewirkenden Ursachen, der sogenannten Kräfte, und der in ihren konstanten Wirkungen sich kundgebenden Gesetzmäßigkeiten.“ (S. 5) {bei der Diskussion der Evolution widerspricht Baggesen dieser, seiner eigenen Feststellung. (6)} Hier wird das Forschungsprinzip der Naturwissenschaften deutlich gemacht: beobachten, messen, erkennen der zu Grunde liegenden Mechanismen („Kräfte“). „Was darüber hinausgieng, gehörte für ihn [Haller] in das Gebiet der Hypothesen, deren Wert er wohl erkannte, insofern durch sie Fragen aufgeworfen werden, deren Beantwortung von der Natur (in Experimenten) [Klammern bei Baggesen]

gefordert wird.“ Baggesen sieht das richtig: Eine Hypothese muss eine Arbeitshypothese sein, sonst ist sie Spekulation. Zu Spekulationen zählt Baggesen alles, was über die „letzten Gründe des Werdens und Daseins“ gesagt wird. Diese Gründe sind seiner Meinung nach prinzipiell nicht erforschbar. Haller hätte auch ein Jahrhundert nach seinem Tod sich vor der „Anmaßung gehütet, die Welt in seinem Denken konstruiren zu wollen ohne Gott.“ Haller habe die erkannten Ordnungen und die Zweckmäßigkeit nicht aus einer „blinden Naturnothwendigkeit“ abgeleitet oder sie als „zufällige Entwickelungen“ durch ein

„Probabilitätscalcul“ erklärt. (6): Hier unterstellt Baggesen Haller, dass dieser sich wohl auch gegen „Darwin und Konsorten“3 gestellt hätte. Dabei übersieht Baggesen, dass Haller durchaus eine Evolution im außermenschlichen Bereich der Schöpfung diskutiert hat (den Mensch hat Haller von der Evolution ausgenommen, denn das hätte nach seiner Ansicht gegen die Ebenbildlichkeit mit Gott gesprochen). Haller habe sich schon aus „sittlichem Willen“ dagegen gewandt, „die schöpferische Weisheit immanent in den Kosmos selbst zu setzen“, das heißt: der Schöpfung eine Eigenständigkeit zuzuschreiben. Das sieht Baggesen als pantheistisches Denken – eine Auffassung, die Haller nicht geteilt hätte, da ist Baggesen zuzustimmen. Haller habe stets – und auch da ist Baggesen Recht zu geben – von „seiner Abhängigkeit von einem höchsten Willen Zeugnis“ gegeben. Über aller „Nothwendigkeit“, ---

3 Diese Vermischung von Theologie und Nauturwissenschaft, diese Grenzüberschreitungen von beiden Seiten, kritisiert Tillich scharf (Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. I: 156):

Offenbarungserkenntnis und „gewöhnliche Erkenntnis“ könnten sich nicht widersprechen. „Für die Theologie ist es ein Unheil, wenn die Theologen aus theologischen Gründen einer wissenschaftlichen Theorie gegenüber anderen [hier: Evolution und buchstabengetreue Bibelauslegung von Gen 1] den Vorzug geben. Und es war beschämend für die Theologie, als sich Theologen aus theologischen Gründen vor neuen wissenschaftlichen Theorien fürchteten, ... Dieser unangebrachte Widerstand der Theologen [Verweis auf Galilei und Darwin] war eine der Ursachen für die Kluft zwischen Religion

über aller natürlichen Zwangsläufigkeit, habe Haller einen „persönlich gedachten lebendigen Gott“ gesehen. (6)

Wenn hier von einem „lebendigen Gott“ gesprochen wird, ist das nicht auf den auferstandenen Christus bezogen, sondern gegen die deistische Gottesvorstellung gerichtet, die Haller gerade bei Voltaire bekämpft hat. Haller habe theistisch gedacht und hätte seine Gottesvorstellung nie „gegen die moderne [1865] naturalistische, in ihrer letzten Consequenz entweder pantheistische oder materialistische Weltanschauung vertauscht.“ (6) Baggesen sieht sich in seiner eigenen Ablehnung einer evolutionären Entwicklung der „Menschheit“ durch Haller bestätigt, der – s.o. – Darwin aus physiologischen Gründen zu widerlegen zweifellos im Stande gewesen wäre, dem zu Folge „durch Transmutation aus einem Affen ein mit Vernunft begabter Mensch werden könne.“4 (7): man spürt die in der 2. Hälfte des 19.

Jahrhunderts häufige Polemik gegen Darwin und die Evolution allgemein. Baggesen unterstreicht Hallers Auffassung von der „Einheit des Menschengeschlechts ungeachtet des Unterschieds der Racen.“ (7)

Hallers „Naturanschauung“ war „auf den Glauben an den lebendigen Gott [s.o.] gegründet, was Haller „nicht hinderte (,) unbefangen [unvoreingenommen] ... zu forschen.“ Haller habe die Grenzen seiner Forschung erkannt: hier gehe es nicht um zeitgebundene Grenzen, die durch naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt immer weiter verschoben werden, sondern um die Unerforschlichkeit des Göttlichen schlechthin: Baggesen hat übersehen, dass Hallers physikotheologisches Denken für ihn ein zusätzlicher Weg zur Gotteserkenntnis war, den er apologetisch vertrat. Baggesen verwendet den Ausdruck „Physikotheologie“ nicht, spricht aber davon, dass für Haller das Buch der Natur „von gleicher Dignität“ (8) wie die Bibel war. Der Verweis auf das Buch der Natur kann als Hinweis darauf gesehen werden, dass Baggesen diese Quelle der Gotteserkenntnis zumindest als Faktum kannte. Die Formulierung „von gleicher Dignität“ steht im Widerspruch zu Calvin, dem zu Folge der liber naturae mit der „Brille“ der Offenbarung zu lesen ist 5.

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und profaner Kultur während der letzten Jahrhunderte.“ – Im wissenschaftlichen Streit mit Buffon, dem atheistisches Denken vorgehalten wurde, hat Haller theologisches Denken und naturwissenschaftliche Fakten ohne Grenzüberschreitung verknüpft: jede neue naturwissenschaftliche Erkenntnis führe zur Wahrheit und diese zu Gott (s. Kapitel Biographie S. 128).

4 Unter Transmutation versteht man heute eine Genmutation: diese Definition kommt für Baggesens Zeit nicht in Frage. Baggesens Auffassung wird durch den o. a. Text deutlich.

5 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion, Institutio christianae religionis, Otto Weber, Hg., Buch I, 6, 1 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1963), 20.

„Aber Haller, wird man sagen, stützte seinen Glauben an Gott und Christum auf die Autorität der Bibel:“ (8) Baggesen argumentiert ausführlich, die Bibel sei für Haller „unwandelbar gültig“ gewesen. „Wie nun [so Baggesen], wenn die Authentie und die Autorität der heiligen Schriften durch die neuere Kritik [s.o.] umgestoßen worden ist?“ (8) Baggesen geht auf historische Untersuchungen ein, die diese „negative Kritik“ widerlegt hätten, übersieht dabei aber, dass Haller selbst das „Buch der Offenbarung Gottes“, die Bibel, in nebensächlichen Kleinigkeiten (Bileams Esel, Schlachtenordnungen im Alten Testament, Hinweise auf die morgenländische Bildhaftigkeit der Sprache, usw.) im Disput mit Voltaire in Frage stellt, andererseits Voltaires viel weiter gehende Bibelkritik an Wesentlichem, z.B. der Dreieinigkeit, dem Unser-Vater - Gebet widerlegt. Wenn Baggesen schreibt, dass Hallers Glaube sich ausschließlich „auf das Zeugniß des heiligen Geistes [stützte], das aus dem Worte Gottes in der Schrift zu seinem Wahrheitssinn und religiösen Gemüthe überzeugend sprach“

(S. 9), so übersieht Baggesen, dass Haller ein kritischer Bibelkenner war, der fraglos den sola scriptura-Grundsatz in den Vordergrund seines theologischen Denkens und seines apologetischen Disputs stellte, dem Bibeltext in Nebensächlichkeiten aber durchaus nicht wörtlich folgte. Sicher hat Baggesen Recht, wenn er feststellt, dass Haller das „Bedürfniß der Versöhnung und Erlösung“ gespürt habe, ob dieses Bedürfnis aber durch „tiefes sittliches Bewußtsein ... geweckt“ ist (9), muss man in Frage stellen: schweres persönliches Leid und die für viele Naturforscher typische bittere Erfahrung menschlicher Begrenztheit trotz wissenschaftlichen Fortschritts – wie viel mehr bei Ärzten! – führen bei dem jungen Haller zu Resignation und Hoffnungslosigkeit gegenüber dem richtenden Gott, die erst im Alter durch das zusätzliche Vertrauen auf die erlösende Gnade Gottes gemindert werden. Baggesen vermutet, dass Haller „in solchen Produkten, wie sie Strauß6 [und andere] geliefert haben, um Christum auf das Niveau ihrer unheiligen Menschlichkeit herunterzuziehen, dieselbe Frivolität ... erkannt hätte, welche er an den Freigeistern seiner Zeit aufdeckte und züchtigte.“

(10) Abgesehen vom Spekulativen, ist der Ausdruck „züchtigen“ für einen Apologeten, der – im Wortsinn – mit geistigen Waffen streiten soll, und für Hallers Replik auf Voltaires Schriften falsch: aber vielleicht hat Baggesen eine Bedeutung dieses Wortes übernommen, die zu Hallers Zeit nach Grimm7 möglich war: die literarische Rüge. Haller hat das Niveau des ---

6Vermutlich bezieht sich Baggesen auf das Werk von David Friedrich Strauß (1808-1874) Das Leben Jesu (1835 bzw. 1864), eine absolut negative Kritik der Jesus-Berichte des Neuen Testaments und eine Betonung des Menschseins Jesu; vgl. Hans Schwarz, Theology in a Global Context. The Last Two Hundred Years (Grand Rapids, MI: Wm. B. Erdmans, 2005), 22-24.

wissenschaftlichen Disputes in der Auseinandersetzung mit Voltaire beibehalten, selbst wenn dieser unsachlich und – schlimmer noch – spöttisch wurde und sogar dann, wenn er Haller bei einflussreichen Personen zu schaden versuchte.

Baggesen schreibt am Endes seines Vorwortes: (10) „So darf Haller wohl noch jetzt in die Reihe der Apologeten des Christenthums mit Ehren gestellt werden.“ Selbst wenn die von Baggesen im Vorwort angeführten Argumente zum Teil nicht stichhaltig sind bzw. falsch gewertet wurden, ist diese Folgerung richtig.

Baggesen beginnt den begründenden Hauptteil seiner Schrift mit der Interpretation von Hallers Gedicht „Morgengedanken“, das der siebzehnjährige Student verfasst und später nicht – wie viele andere Frühwerke – verbrannt hat. Haller preist Gottes Schöpfung als Gegenbild zur Nichtigkeit des Menschen: „Doch dreimal großer Gott! Es sind erschaffne Seelen / Für deine Thaten viel zu klein; ... O Unbegreiflicher, ich bleib in meinen Schranken, ...“ Ist der

„dreimal große Gott“ der dreieinige Gott? Der junge Haller sah in erster Linie Gott den Schöpfer und den gerechten Richter, den er in Ehrfurcht, aber auch in Angst anbetete. Der Aspekt des Heiligen Geistes ist bei Haller kaum zu finden, und Jesus als der erlösende und versöhnende Christus rückt bei Haller erst im Alter als Grund seiner Hoffnung auf Gnade in den Vordergrund seines theologischen Denkens (das stellt auch Baggesen an späterer Stelle heraus). Bautz8 formuliert: „Sein Glaube war wesentlich Gottes- und Vorsehungsglaube; das Dogma der Erlösung und die Person Christi treten hinter dem 1. Glaubensartikel zurück.“ – Vermutlich bezieht sich Baggesen in seiner zusammenfassenden Vorrede auch auf das o. a.

Gedicht, zu dem Haller sich noch als reifer Mann bekannte, wenn Baggesen auf Hallers Demut, seine „Schranken“, trotz aller weltlichen Anerkennung verweist.

Es folgen ausführliche biographische Daten zu Haller, die im Vergleich zu dem Kapitel Biographie dieser Arbeit nichts Neues bringen. Baggesen bezeichnet die Jugend Hallers als

„erste Entwicklungsstufe seines [Hallers] religiösen Bewußtseins“, (21) gekennzeichnet durch

„lebendigen Glauben an Gott“, von der „Bestimmung des Menschen zur Heiligung“, durch

„Abscheu vor aller Heuchelei“ und durch eine „Verurtheilung des Aberglaubens.“ (22) – ---

7 Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch (Leipzig: S. Hirzel Verlag, 1854); Neudruck Deutscher Taschenbuch Verlag 1984; im Folgenden DWB.

8 Friedrich Wilhelm Bautz, „Haller, Albrecht von“, Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 2 (Hamm/Westf.: Verlag Traugott Bautz, 1990), Sp. 483-485.

Wenn unter „Heiligung“ das Bestreben des Menschen gesehen wird, so zu handeln, dass sein Dasein dem Heiligsein Gottes entspricht (vgl. Frage 55 des Heidelberger Katechismus9; dort wird in der Antwort gefordert, dass „jeder auch seine Gaben ... zum Wohl und Heil der anderen“ gebraucht), so zeigt das Hallers Demut vor Gott, dessen Ebenbild wir sein sollten.

Dass der Mensch auf diese Nähe zum alttestamentlichen Gott hinarbeiten soll, folgt aus Hallers Auffassung von einem gerechten, strafenden Gott. Da der Mensch dieses Ziel der Heiligkeit nicht aus eigener Kraft erreichen kann – ein grundlegender Unterschied zu Voltaires Selbstvervollkommnung durch Vernunft –, propagiert Haller den Weg des sittlichen Lebens nach dem Dekalog. – Dass Haller Heuchelei verabscheut, ist aus seinem Wesen abzuleiten. Konkrete Angriffe gegen religiöse Heuchelei als rein äußerlich vollzogenes Ritual und die Ablehnung materieller Opfer ohne innere Umkehr belegen das ebenfalls. – Die

„Verurtheilung des Aberglaubens“ (22) muss man unter der Definition des Aberglaubens als Irrglauben lesen. Mit dieser Auffassung stritt Haller oft gegen die röm.-katholische Kirche.

Baggesen ist zuzustimmen, wenn er schreibt, dass bei dem jungen Haller „Hinweise auf Christum und die Offenbarung der Gnade Gottes in Ihm“ fehlen, er lebte in diesem Lebens-abschnitt von „natürlicher Gotteserkenntnis“ in einem „alttestamentarischen Gauben.“

Baggesen sieht in Hallers Gedicht „Ueber den Ursprung des Uebels“ von 1735 den Versuch einer Theodizee, einer Antwort Hallers auf diese Christen umtreibende Frage. „In der Erschaffung freier Wesen findet er [Haller] zugleich die Rechtfertigung und die Erklärung des Bösen.“ (23) Diese Interpretation ist richtig. Haller schreibt (Auszug bei Baggesen): „Denn Gott liebt keinen Zwang: die Welt mit ihren Mängeln / Ist besser als ein Reich mit willenlosen Engeln. / Gott, der im Reich der Welt sich selber zeigen wollte, / Sah, daß wenn alles nur aus Vorschrift handeln sollte, / Die Welt ein Uhrwerk wird, von fremdem Trieb beseelt, ...“ (23):

Gott schuf den Menschen mit freiem Willen, keine „willenlose Engel“. Baggesen erklärt dazu: „Durch den Mißbrauch der Freiheit zur Selbstherrlichkeit sind Engel und Menschen von Gott abgefallen.“ Hier wird Zwinglis Auffassung10 vom amor sui, der Selbstsucht, deutlich, die Adam bewog, Gottes Gebot der Selbstbeschränkung (Gen 2,16-17) zu übertreten. –

Nach Zwingli ist Adam aus dem Drang nach Gottgleichheit, damit aus selbstsüchtigem Hochmut (amor sui) sündig geworden. Pfister schreibt, dass Zwingli „den Grund der Sünde in der Loslösung vom Schöpfer und der Hinwendung zum Ich findet.“10 (s.a. dort S. 6).

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9 Heidelberger Katechismus, revidierte Ausgabe (Neukirchen-Vlyn: Neukirchener Verlag, 1997).

10 Rudolf Pfister, Das Problem der Erbsünde bei Zwingli, Inauguraldissertation der Theologischen Fakultät der Universität Zürich (Neuruppin: E. Buchbinder G.m.b.H., 1938), 25-26.

Den physikotheologischen Erkenntnisweg, den Haller in dem Vers „Gott, der im Reich der Welt sich selber zeigen wollte,“ herausstellt, sieht Baggesen nicht, auch nicht Hallers apologetische Argumente gegen Deismus und Determinismus, die in den Begriffen

„Uhrwerk“ und „aus Vorschrift handeln“ deutlich werden. Für Haller war ein ruhender Gott undenkbar, der einmal, in der Urschöpfung, einen Weltenplan geschaffen hat, der wie ein Uhrwerk entsprechend den eingegebenen Naturgesetzen „nach Vorschrift“, nach Gottes einmaliger, unwandelbarer Absicht abläuft. Sieht Haller sogar in den Naturgesetzen – und Baggesen nimmt das nicht wahr – einen „fremden Trieb“, nicht einen Teil der Schöpfung Gottes? Oder ist der „fremde Trieb“ hier unter Rückgriff auf die Willensfreiheit die Eingriffsmöglichkeit des Menschen in die Abläufe der Natur? Und was bedeutet hier

„beseelt“? Wenn der Natur schon eine Seele zugesprochen wird, kann diese nur von Gott als ihrem Schöpfer stammen. – Der Rückgriff auf die Willensfreiheit scheint die wahrscheinlichste Antwort zu sein, denn Haller fährt im nächsten Vers fort: „ ... Trieb beseelt / Und keine Tugend bleibt, wo Macht zum Laster fehlt. / Gott wollte, daß wir ihn aus Kenntniß sollten lieben, / Und nicht aus blinder Kraft von ungewählten Trieben; / Er gönnte dem Geschöpf den unschätzbaren Ruhm / Aus Wahl ihm hold zu sein, und nicht als Eigenthum.“ (24) – Baggesen schränkt seine Interpretation auf die Sinnlichkeit (Laster!) ein und übersieht so Wesentliches: die „Macht zum Laster“ ist die Möglichkeit des freien Willens, sich verantwortlich für das Laster (als umfassenden Begriff) zu entscheiden (Haller sieht „Laster“ als die Summe der menschlichen Schwächen). Das ist der Gegensatz zur animalischen Triebhaftigkeit, zu den „ungewählten“, nicht durch Entscheidung bestimmten Trieben. Gott fordert von uns auch eine Willensentscheidung für oder gegen ihn, wir sind nicht Gottes Sklaven, nicht Gottes „Eigenthum“. Zugleich wendet sich Haller mit der Formulierung, wir sollten Gott aus Kenntnis lieben, gegen die Prädestinationslehre Calvins11, die dem Menschen seine Entscheidungsmöglichkeit in seinem Verhältnis zu Gott abspricht:

alles das erwähnt Baggesen nicht, im Zusammenhang mit „Laster“ auch nicht Zwinglis Unterscheidung von der Erbsünde als „präst“, als Gebrechen, als „Sündenkrankheit“, die da- ---

11 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion 5; fasst im Buch III, 21, 7 (S. 622) seine Prädestinationslehre wie folgt zusammenen: „Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluß einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluß ist ... hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem gerechten und unwiderrufli-

her nicht zu einer Erbschuld führt (Pfister S. 23-25), und Zwinglis Unterscheidung zwischen diesem nicht zu verantwortenden „präst“ und der Tatsünde. So nämlich fährt Haller fort: „ ...

Was in uns Blindheit ist, ist in Dir [Gott] keine Schuld.“ Die „Blindheit“ ist die Unkenntnis des Gesetzes z.B. bei Kindern, die bei Zwingli nicht unter die Erbschuld fallen, solange sie das Gesetz nicht kennen oder begreifen (Pfister S. 38); andererseits stellt sich Haller damit gegen Calvin, der die Sündenschuld auch der Kinder lehrt12, und Haller selbst hat in seiner Replik gegen Voltaire auf seine Erfahrungen als Vater hingewiesen, der täglich sieht, dass Kinder um „Spielwerk“ heftig streiten: Hallers Einstellung zum peccatum orginale ist über die Länge seines Lebens nicht konstant.

Auch die Apokatastasis des Origenes (s. Kapitel Briefe über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung, dort Anm. 51) scheint bei Haller durch, wenn er sich Gedanken über das Schicksal des Lasterhaften macht, der durch das Erkennen der göttlichen Wahrheit einen

„umgegoßnen Geist“ der Reue entwickelt: „ ... Daß Gott die späte Reu sich endlich läßt gefallen, / und Alle zu sich zieht, und alles wird in Allen: / Denn seine Güte nimmt, auch wenn sein Mund uns droht, / Noch [weder] Maaß noch Schranken an, und hasset unsern Tod.“

(S. 24) Die Formulierung „alles wird in Allen“ kann ein Bezug auf 1 Kor 12,6 sein; dieses Paulus-Zitat wurde zur Begründung der Apokatastasis-Theologie herangezogen.

Baggesen betont mit Haller, dass Gott der Handelnde ist, der den Reuigen zu sich zieht – ohne irgendein Verdienst. – Baggesen zitiert Hallers eigenen Kommentar zu diesem Gedicht, den er im Alter verfasst hat: „Jetzt, da mir die nahe Ewigkeit Alles in einem ernsthaften Lichte zeigt, finde ich, die Mittel [der Gnade Gottes] seien unverantwortlich verschwiegen worden, die Gott zur Wiederherstellung der Seelen [vgl. Apokatastasis als Allversöhnung] angewandt hat: die Menschwerdung Christi, sein Leiden, ... sein Genugthun für unsere Sünden, das uns ...

[die] Begnadigung eröffnet: Alles hätte gesagt werden sollen. ... Ich fühle, ... daß in einem ---.

chen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben [mit Gott] zu! Was die Auserwählten betrifft, so halten wir ... dafür, daß die Berufung das Zeugnis der Erwählung ist. Ein zweites Merkmal der Erwählung ist dann die Rechtfertigung, ... Wie aber der Herr seine Auserwählten durch die Berufung und Rechtfertigung kenntlich macht, so gibt er den Verworfenen durch ihren Ausschluß von der Erkenntnis seines Namens und der Heiligung seines Geistes durch Zeichen bekannt, was für ein Gericht ihrer wartet. ...“

12 Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion5, Buch II, 1, 5 , S. 137. Dort heißt es: „ Denn wir alle, die wir aus unreinem Samen herstammen, werden, befleckt von der Ansteckung der Sünde, geboren, ja, ehe wir das Licht der Welt erblicken, sind wir vor Gottes Augen bereits verdorben und befleckt.“

Gedichte, dessen Verf.[asser] Gottes Gerechtigkeit und Güte verteidigen wollte, Alles [das]

hätte gesagt werden sollen, ...“: Haller sieht, dass die Absicht dieses Gedichtes, das er

„allemal mit einer vorzüglichen [besonderen] Liebe angesehen“ habe, wie Versuche anderer Gelehrter, Gott wegen des Übels in der Welt zu rechtfertigen, scheitern musste.

Baggesen zitiert Hallers Ode auf den Tod seiner Frau Marianne (28) kurz nach der Ankunft in Göttingen (s. Biographie S. 120): Selbstvorwürfe, weil er Bern verlassen habe, Dank an Gott

Baggesen zitiert Hallers Ode auf den Tod seiner Frau Marianne (28) kurz nach der Ankunft in Göttingen (s. Biographie S. 120): Selbstvorwürfe, weil er Bern verlassen habe, Dank an Gott