• Keine Ergebnisse gefunden

Christologie als Theologie im Johannesevangelium Olivia Rahmsdorf und Ruben Zimmermann

1. Aufforderung zum Tanz

Der „Pas de deux“ ist ein Höhepunkt im Ballett. In dem „Solotanz zu zweit“ bewegen sich die beiden Tänzer (in der Regel Mann und Frau) in einer gleichförmigen Schrittfolge, die das Paar bald wie einen einzelnen Tänzer erscheinen lässt, bald Raum für Variationen und Eigenständigkeit lässt, aber ohne die innige Einheit zu unterwandern. Der Pas de deux eignet sich unserer Meinung nach deshalb als Metapher, um der eigen-artig intimen Verschränkung der Gottesrede im Johannesevangelium mit der Christologie Ausdruck zu verleihen.1 Die klassischen Teile des Pas de deux geben die Struktur des Beitrags vor: ImEntréewerden wir nach den johanneischen Möglichkeiten fragen, sich Gott zu nähern. Im lang-samen Teil des Tanzes, derAdage, steht die gemeinsame Bewegung von Vater und Sohn im Johannesevangelium im Mittelpunkt. Im Anschluss kommen dieVariationen der Tänzerzur Aufführung und im Schlusssatz, derCoda, wird es darum gehen, mit Joh 17,21 den Pas de deux in eine Polonaise zu überführen.

2. Entrée

Den Einstieg zum Pas de deux weist uns eine der großen Fragen der jüdisch-christlichen Theologie: Wer darf sich überhaupt ein Bild von dem einen Gott machen? Oder spezifischer: Wer kann sich gemäß des

1Besondere Umstände haben dazu geführt, dass der Titel eine ungeahnte Doppelsemantik erlangt hat. Denn die folgende Choreographie ist letztlich aus einem Pas de deux zwischen Doktorvater und Doktortochter entstanden. Die Gedanken und Formulierungen beider sind in den folgenden Überlegungen zusammengeflossen.

82 Olivia Rahmsdorf und Ruben Zimmermann

Johannesevangeliumsein Bild von dem einen Gott machen? Naturgemäß allein derjenige, der ihn auch gesehenhat. Das Schauen Gottes ist aller-dings nicht jedem vergönnt, wie der Prolog gleich zu Beginn zu verstehen gibt (Joh 1,18): „Niemand hat Gott jemals gesehen.“ Diese besonders nachdrückliche Verneinung (οὐδείς;πώποτε) wird im Folgesatz positiv umgelenkt:2„Der einziggeborene Gott, der im Schoß des Vaters ist, jener hat ihn ausgelegt.“ Während in den meisten Auslegungen von V. 18 die Göttlichkeit, derµονογενήςθεός, im Zentrum des exegetischen Interesses steht, soll hier der räumlichen Dimension Aufmerksamkeit geschenkt werden: Der Einziggeborene befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Vater, in seinem Schoß (ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρός). Der Vater ist da-mit auch inSichtweitedes Sohnes. Man möchte fast sagen: „Niemand hat Gott jemals gesehenaußerdem Einziggeborenen, der im Schoß des Vaters ist, jener hat ihn ausgelegt.“ Dem monotheistischen Gottesbild entspricht nach Johannes ein monogenetischer Gottesbetrachter. Der einziggebo-rene Sohn ist es, der seinen Vater gesehen hat und ihn deshalb für uns auslegen kann, ihn aus der Unsichtbarkeit ans Licht hinausgeführt hat (ἐξηγέοµαι).

Die Vater-Metapher ist die erste und übergeordnete Metapher, mithilfe derer das Johannesevangelium Gott zu beschreiben trachtet. Schon von dort aus ist zu erkennen: Die johanneische Theologie ist primär und eigentlich relationaler Art.3

Wie wird diese Relation zwischen Vater und Sohn im Prolog beschrie-ben? Der Einziggeborene muss sich seinem Vater nicht erst nähern, um die gemeinsame Bewegung zu vollführen, um den Tanz zu eröffnen. Er war bereits im Anfangπρὸς τὸν θεόν(Joh 1,1)4, eristim Schoß des Vaters (Joh 1,18:ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς). Mit diesen noch recht abstrakten

2Vgl. auch Catrin H.Williams, (Not) Seeing God in the Prologue and Body of John’s Gospel, in: Jan G. van der Watt/R. Alan Culpepper/Udo Schnelle (Hg.), The Prologue of the Gospel of John. Its Literary, Theological, and Philosophical Contexts: Papers read at the Colloquium Iohanneum 2013 (WUNT 359), Tübingen 2016, 79–98: 82: „(...) the phrasing of its first clause (‚no one has ever seen God‘) encourages the reader to interpret the central thrust of the second part as stating that God is ‚seen‘ in Jesus.“

3Vgl. Craig R.Koester, Jesus as the Way in the Fourth Gospel, in: Gilbert van Belle/Jan G. van der Watt/Petrus Maritz (Hg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel. Essays by the Members of SNTS Johannine Writings Seminar (BETL 184), Leuven 2005, 117–133:

121; Francois D.Tolmie, The Characterization of God in the Fourth Gospel, JSNT (1989) 57–75: 60 f.

4Vgl. zu den Bedeutungsmöglichkeiten von πρὸς τὸν θεόν Jan G. van der Watt, John 1:1 – A „Riddle“ Grammar and Syntax Considered, in: Jan G. van der Watt/R. Alan Culpepper/Udo Schnelle (Hg.), The Prologue of the Gospel of John. Its Literary, Theological, and Philosophical Contexts: Papers read at the Colloquium Iohanneum 2013 (WUNT 359),

Pas de deux 83 Informationen werden wir als Leser des Evangeliums vom Prolog in die Narration entlassen, wir dürfen nun das konkrete Wirken des Sohnes in der Welt beobachten. Aber wir sehen jetzt alles durch die Brille dieser hermeneutischen Eichung des Prologs: Die Bewegung Jesu lässt zugleich die Bewegung Gottes erkennen.

Wie im Auftakt Jesu öffentlichen Wirkens, so wird auch am Ende noch einmal seine Erschließungsfunktion5 in der Gottesschau betont: „Wer mich sieht,“ oder vielleicht besser: „beobachtet (θεωρεῖν), der beobachtet den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45).6

Jene Funktion wird dann in den Abschiedsreden auf Philippus’ Bitte hin, ihm und den übrigen Jüngern den Vater zu zeigen, noch einmal in ähnlichem Wortlaut bestätigt (Joh 14,8 f.). Statt des Präsens vonθεωρεῖν wird nun im Hinblick auf Jesu baldigen Fortgang das Perfekt von ὁρᾶν verwendet: „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen.“ Das Per-fekt verstärkt das exklusive Moment dieser Schlüsselfunktion Jesu; wie Ludger Schenke es ausdrückt: „das menschliche Handeln Jesu (war) das entscheidende und letztgültige Handeln Gottes“7. Es wird keine weitere menschliche, jafleischlicheManifestation des Gotteswortes wie den Sohn mehr geben8und es hat auch davor keinen wie den Sohn gegeben. So legt es dasἀπ᾽ ἄρτι(Joh 14,7) des Vordersatzes nahe: „von jetzt an“, nämlich in der Gegenwart des Sohnes. Hier wird zugleich die epistemologische

Tübingen 2016, 57–78: 63–67 (u. a. „in movement toward“; „in familiar intercourse with“;

„in converse with“; „alongside with“).

5Es wird bewusst auf den Begriff der „Mittlerschaft“ verzichtet, weil einer räumlichen Distanz zwischen Gott und Jesus bzw. Gott und Welt widersprochen wird, die in der Rede von einem Mittler oder Zwischenglied mitschwingt. Im Blick auf Jesus schaut der Betrachter Gottdirekt. Der Begriff der Mittlerschaft wird also v. a. in Bezug auf dievisuelle Gottesbe-gegnung vermieden. Im Bitten und Gebet alsverbaleBegegnung mit Gott kann Jesus aber sehr wohl die Rolle desFürbitters übernehmen (Joh 17,9: vgl. auch 5,16; 16,23 f.).

6Jesu Erschließungsfunktion wird im Zusammenhang des jesajanischen Verstockungsbe-fehls angesprochen, der nicht nur Ohren sondern auch Augen des Volkes verschließen sollte.

Allein aus demheiligen Samen, der bei der Verstockung übrig bleibt, soll Neues entstehen (Jes 6,9–13).

7LudgerSchenke, Christologie als Theologie. Versuch über das Johannesevangelium, in:

Rudolf Hoppe (Hg.), Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS Paul Hoffmann) (BZNW 93), Berlin 1998, 445–465: 460; vgl. ferner JörgFrey, „Wer mich sieht, der sieht den Vater“. Jesus als Bild Gottes im Johannesevangelium, in: Andrea Taschl-Erber/Irmtraud Fischer (Hg.), Vermittelte Gegenwart. Konzeptionen der Gottespräsenz von der Zeit des Zweiten Tempels bis Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. (WUNT 367), Tübingen 2016, 179–208: 201.

8Der Paraklet hat die Aufgaben zu lehren, zu erinnern, zu bezeugen und aufzudecken /zu erhellen, in Wahrheit zu leiten (Joh 14,16–17.26; 15,26; 16,7.13). Damit ist er nicht selbst fleischliche Manifestation, sondern erleichtert und gewährt den Blick auf die einmalige Manifestation Gottes in seinem Sohn.

84 Olivia Rahmsdorf und Ruben Zimmermann

Dimension dieses Sehens expressis verbis ausgesprochen: „Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch den Vater erkennen. Von jetzt an erkennt ihr ihn und habt ihn gesehen“ (Joh 14,7). Im Sehen des Sohnes wird zugleich der Blick auf den Vater freigegeben. Umgekehrt gilt dann aber auch für uns Exegeten (wie für die übrigen Protagonisten des Johan-nesevangelium): Der einzige Gott kann nur durch den einziggeborenen Sohn, den wahren Exegeten, geschaut werden (vgl. Joh 1,12). Nur über die Christologie gelangen wir zur Theologie des Johannesevangeliums. Feld-meier /Spieckermann sprechen hier folgerichtig vom „Verweisungsgefüge von Christologie und Theologie“.9

Wenn wir Gott-Vater ins Zentrum rücken wollen, wie es die Einladung zu diesem Symposion vorgeschlagen hat, so müssen wir uns vom Gottes-sohn dabei helfen lassen, oder johanneisch gesagt: dabei die Augen öffnen lassen.10

3. Adage

3.1 Grundschritt: Seins- und Handlungseinheit

Die einzigartige Erschließung des Vaters durch seinen Sohn soll nun noch genauer nachvollzogen werden. Wie genau gelangt man durch den Sohn hindurch zum Vater? Philippus möchte ja von Jesus zum Vater geführt werden: „Zeige uns den Vater. Das genügt uns“ (Joh 14,9). Diese Formu-lierung des Philippus impliziert ein räumliches Getrenntsein von Vater und Sohn11 (vgl. Joh 8,19 „Wo ist dein Vater?“). Doch für das Zeigen braucht der Sohn keinen ausgestreckten Arm oder Finger: „Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir“ (Joh 14,11). Neben solchen abstrakten – und zugegebenermaßen – schwer nachvollziehbaren dekla-rativen Sprechakten bemüht sich das vierte Evangelium um Konkretion und Anschaulichkeit. Der vierte Evangelist wird nicht umsonst der

„Op-9ReinhardFeldmeier/HermannSpieckermann(Hg.), Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (TOBITH 1), Tübingen 2011, 6. Mit Recht wird hierbei auch z. B. auf ein Wort der Logienquelle (Lk 10,22/Mt 11,27) verwiesen, das aber nicht zufällig als das sogenannte „johanneische Logion“ bezeichnet wird.

10Vgl.Tolmie, Characterization (Anm. 3) 64: „If we turn to the question as to how God is characterized in these chapters (i.e. Joh 1–12, OR/RZ), it should be pointed out immediately that God is characterized primarily in terms of the relationship between him and Jesus.“

11Vgl.Frey, „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Anm. 7) 201.

Pas de deux 85 tiker“12unter den Evangelisten genannt. Das Zeigen bzw. entsprechende Sehen des Vaters erfolgt durch ein wahres Feuerwerk der Farben und Bilder. Als ob, in unserer Leitmetapher ausgedrückt, die Tänzer mit ihren Kleidern, Bühnenbild und Beleuchtung ständig in neue Rollen schlüpfen.

Das bunte Mosaik der Bilderchristologie ist zugleich eine farbenfrohe Bildertheologie. Blicken wir exemplarisch auf Joh 10, ein Kapitel, das nicht zufällig im Zentrum des Evangeliums steht.

Es ist das Kapitel, in dem nicht nur die Christusfrage explizit gestellt wird (Joh 10,24), sondern auch christo-theologische Spitzenaussagen wie

„Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) formuliert werden.13Aber im Sinne der Bildertheologie des Evangeliums wird das Ineinander von Vater und Sohn vor allem auch durch das einleitende Tür- und Hirtengleichnis entfaltet. Hier verdeutlicht Jesus, dass jeder, der nicht durch die Tür in den Stall hineingeht, ein Dieb und ein Räuber ist, wohingegen derjenige, der durch die Tür geht, der Hirte ist. Dieses Bild funktioniert in zwei Richtungen und wird von Jesus auch in beide Richtungen ausgelegt: Je-sus identifiziert sich in einer Art surrealistischer Clustertechnik14in den folgendenἐγώ εἰµι-Worten (Joh 10,7.9.11.14) sowohl mit der Tür, als auch mit dem Hirten. Er ist die Tür, durch die hindurchzugehen für die Schafe Rettung bedeutet und einen Weideplatz verspricht. Zugleich ist er der Hirte, der nun anstelle der Diebe und Räuber zu seinen Schafen gelangt und auf den die Schafe hören. Nurer als Hirte gelangt durch die Tür zu den Schafen. Ein Türhüter, mit dem sich Jesus nicht unmittelbar durch einἐγώ εἰµι-Wort identifiziert, gewährt ihm Einlass (Joh 10,3). Wer dieser Türhüter ist, lässt das Gleichnis offen. Ist es sein Vater? In Joh 10,29 wird zumindest gesagt, der Sohn erhalte die Schafe aus der Hand des Vaters.

Die gehäuften Possessivpronomina in Joh 10,1–18 lassen keinen Zweifel, dass Jesus hier nicht nur als Auftragshirte, sondern zugleich als Herden-besitzer („meine Schafe“ [...]) auftritt. Dieses Bilddetail ist wesentlich.

Während in Israels Bildfeldtradition die Hirtenmetapher für viele Könige und religiöse Führungsgestalten verwendet wurde, ist es vor allem diese Zu- und Aneignung, mit der sich der Christus-Hirte in den Bereich Gottes

12Vgl. OttoSchwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den jo-hanneischen Schriften (HBS 5), Freiburg 1995, 397; ähnlich RomanoGuardini, Das Bild von Jesus Christus im Neuen Testament, Würzburg 1953, 53: „Mann des Auges“.

13Zum inneren Zusammenhang und zur wohlkomponierten Struktur des Kapitels mit zwei Redekomplexen (Joh 9,39–10,21; 10,22–42) und vier Redegängen (Joh 9,39–10,6; 10,7–21;

10,22–31; 10,32–42); vgl. RubenZimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevan-gelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004, 254–276.

14Vgl. dazuZimmermann, Christologie (Anm. 13) 412–414.

86 Olivia Rahmsdorf und Ruben Zimmermann

stellt. Nur Gott allein ist der Herdenbesitzer, wie etwa Regine Hunzi-ker-Rodewald in ihren Untersuchungen zum Hirten im Alten Testament gezeigt hat.15 Die vermehrt hörbaren Anspielungen der johanneischen Hirtenrede an die alttestamentliche Hirtenmetaphorik (insbesondere an Ps 94 LXX und Ez 34) entstammen denn auch fast durchweg der Bild-feldtradition des JHWH-Hirten.16Nicht erst die spätere Immanenz-Aus-sage, sondern bereits die metaphorische Beschreibung lassen Christusbild und Gottesbild ineinander fließen und führen folgerichtig zum Blasphe-mie-Verdacht (Joh 10,33).

Der Bildersprache korrespondieren die Aussagen über die Einheit und Immanenz von Vater und Sohn (Joh 10,30.38), zunächst in V. 30:ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσµεν. Gegen diese Seinsaussage Jesu erhebt sich augenblicklich Empörung bei den Juden (Joh 10,31). Jesus reagiert darauf mit einer doppelten Verteidigung. Zunächst verweist er auf seine guten Werke, die er aus dem Vater heraus (ἐκ τοῦ πατρός) vollbracht hat (Joh 10,32).

Doch nicht die Werke interessieren seine Kontrahenten, sondern allein sein Seinsanspruch, dieser klingt in ihren Ohren wie pure Blasphemie.

Er macht sich selbst zum Gott (Joh 10,33 vgl. 5,17 f.; 19,17). In seinem zweiten Einwand versucht Jesus sie mit ihren eigenen Mitteln zu schla-gen: der Schrift. Hier würden bereits die Menschen, die das Wort Gottes hören, Götter genannt (Joh 10,34 f. | Ps 81,6 LXX). Wie viel mehr sei dann der Gesandte und Heilige Gottes, der Gott gesehenhat, würdig, Gottes-sohn genannt zu werden?17Doch zu diesem Zeitpunkt und im Angesicht dieser Kontrahenten kann Jesu Argumentation nicht tragen. Jesus weiß um die immense Bedeutung des monotheistischen Bekenntnisses für die jüdische Identität.18Deshalb wiederholt er den Verweis auf seine Werke:

15Vgl. RegineHunziker-Rodewald, Hirt und Herde. Ein Beitrag zum alttestamentlichen Gottesverständnis (BWANT 155), Stuttgart 2001, 73–106.

16Vgl. dazu ausführlich Ruben Zimmermann, Jesus im Bild Gottes. Anspielungen auf das Alte Testament im Johannesevangelium am Beispiel der Hirtenbildfelder in Joh 10, in:

Jörg Frey/Udo Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive (WUNT 175), Tübingen 2004, 8–116, sowieders., Christologie (Anm. 13) 336–342.

17Es handelt sich folglich nicht um eine ironische Relativierung, sondern um einen Schluss a minore ad maiusund dabei um eine mehrfache Zuspitzung und Überbietung: Vom Kollek-tiven (Götter) zum Einzelnen (Gottes Sohn), vom Allgemeinen (jene) zum Speziellen (der-jenige, der geheiligt ist), von der Fremdprädikation (Gott als Subjekt) zur Selbstprädikation (Jesus als Subjekt) und von der Logosrede (an die das Wort erging) zur Logosidentifikation (der Sohn als Logos mit Joh 1,1); vgl. Einzelheiten zur Argumentation in Joh 10,34 f. bei Zimmermann, Christologie (Anm. 13) 349–351.

18Vgl. ThomasSöding, „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Die johanneische Chris-tologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4 f), ZNW (2002) 177–199: 185.

Pas de deux 87

„Glaubt den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt“ (Joh 10,38). Denn so werden sie zur Erkenntnis gelangen, dass der Vater im Sohn und der SohnimVater ist (ἐν ἐµοὶ ὁ πατὴρ κἀγὼ ἐν τῷ πατρί). Die blasphemische Einheitsaussage wird also in einer doppelten Erweiterung von Jesus aus-gelegt: Die Seinseinheit von Vater und Sohn wird einerseits erkennbar an derenHandlungseinheit, der gemeinsamen Bewegung von Vater und Sohn. Andererseits erfährt der ontologische Anstoß, den die Juden an Jesu Aussage nehmen, Milderung durch die Metapher der Immanenz, demIn-SeinGottes in Jesus und vice versa. Der ungeheure Anspruch auf ὁµουσίαwird durch die metaphorische Beschreibung derἐνουσία schein-bar entschärft. Doch der auf Erzählebene vorgeführte andauernde Protest der Juden zeigt, dass im jüdischen Denken offenbar die Kraft der Bilder keineswegs der der abstrakteren, philosophisch wirkenden Seinsaussagen untergeordnet ist.

Im Wissen um die Seinseinheit von Vater und Sohnals Handlungsein-heit und reziproke Immanenz19kann die Bitte des Philippus’ wiederum nur zurückgewiesen werden. Dieser möchte ja, dass Jesus ihm den Vater zeigt, dass er ihm den Weg zu ihm weist, als sei der Vater an einem anderen Ort als Jesus selbst. Genau hier liegt das Missverständnis des Philippus begründet. Der Vater steht nichtam Ende eines Wegesauf dem Jesus Wegbegleiter ist; der Vater steht nicht als Sprecherhinter Jesus als Sprachrohr;20der Sohn vertritt den Vater nicht vor Ort während dessen Abwesenheit,21 sondern Jesus selbst ist das Ziel des Weges zu Gott, er selbst ist der Sprecher der Stimme Gottes,inseinen Werken werden die Werke seines Vaters offenbar (vgl. auch Joh 5,17), weil Gott jeweils in ihm präsent ist.22 Oder wie Klaus Scholtissek es treffend ausgedrückt hat: „Jesus repräsentiert nicht den Vater, er präsentiert ihn.“23Der Vater steuert den Sohn nicht via remote control, er spricht und wirkt nicht aus der Ferne durch ihn, sondern aus der Präsenz in ihm. Diese Prä-senz wird nicht spürbar, indem man über die Logik der ontologischen Identität von Vater und Sohn nachsinnt. Die ontologische Seinsaussage gibt uns, wie Ludger Schenke feststellt, notwendigerweise ein Paradoxon

19Wie Reinhard Feldmeier in seinem Vortrag auf dem Symposion veranschaulicht hat, kann diese reziproke Immanenz nur in der gegenseitigen Liebe Verwirklichung finden. Nur in der Liebe gibt es keinen Unterschied zwischen Inhalt und Behältnis – die Immanenz wird zur Perichorese (vgl. Aufsatz S. 158 im Tagungsband).

20Vgl.Schenke, Christologie (Anm. 7) 454.

21GegenSchenke, Christologie (Anm. 7) 453.

22Vgl. Marianne M.Thompson, The God of the Gospel of John, Grand Rapids 2001, 233.

23KlausScholtissek, „In ihm sein und bleiben“. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften (HBS 21), Freiburg 2000, 256.

88 Olivia Rahmsdorf und Ruben Zimmermann

auf,24denn neben den Seinsaussagen kennen wir zugleich die Sendungs-aussagen (ἀπο-στέλλειν Joh 3,17; 3,34; 5,36; 6,29.52; 7,28 f.; 8,42; 10,36;

11,42; 17,3.8.18.21.23.25; 20,21), die Auskunft über das Herabsteigen und Hinaufsteigen des Sohnes (ἀνα-βαίνεινJoh 3,13; 6,62; 20,17 |κατα-βαίνειν Joh 3,13; 6,38; 6,51), sein In-die-Welt-Kommen (Joh 1,9; 3,31; 9,39; 12,46;

16,28; 18,37) bzw. Ausgehen (ἐξ-ἔρχεσθαιJoh 17,8; 16,28) geben. In un-seren Raum-Zeitkategorien widersprechen sich Präsenz, als Anwesenheit (παρουσία) und zeitliche oder räumliche Distanz durch Wegbewegung, wie sie die Präpositionenἀνά,κατά,ἀπό,ἐκausdrücken. Dieser Wider-spruch kann nur aufgelöst werden, indem die Seins- und Immanenzaus-sagen, ebenso wie die Fortbewegungenmetaphorischaufgefasst werden.

In den Aussagen über Gott und seinen Sohn wird etwas mit der Sprache dieser Welt auszudrücken versucht, was nun einmal nicht Gegenstand dieser Welt ist.25Deshalb sind die Aussagen, wie Ludger Schenke richtig herausgestellt hat, nur im übertragenen Sinne zu verstehen. Eben dies lehrt uns das vierte Evangelium: Der Vater ist nur über den Sohn zu erkennen, die Theologie nur über die Christologie, der Logos nur über den Mythos,26das Sein nur über das Wirken. Die göttliche Präsenz wird also nur dann spürbar, wenn man des Sohnes Werke sieht und darin die Handlungseinheit von Vater und Sohn in ihrer Dynamik wahrnimmt. Es hilft dabei nicht weiter, das Werk des einen von dem Werk des anderen logisch-ontologisch zu unterscheiden und der Urheberschaft des einen oder anderen zuzuordnen, beide tanzen kongruente Schritte.

Die Einheitsaussage zwischen Vater und Sohn strebt nach metapho-risch-mythischer Veranschaulichung, weil sie in innerweltlichen Sprach-kategorien nicht aufgeht. So ist es auch legitim, sie in über das Evangelium hinausgehenden Metaphern weiter auszulegen. Während die Vatermeta-pher, wie Paul W. Meyer gezeigt hat, Gott v. a. in seiner Rolle als Autori-sierungsinstanz veranschaulicht,27kann die Metapher des gemeinsamen Tanzes, des Pas de deux, etwas über die Art der Ausführung des vä-terlichen Auftrages durch den Sohn preisgeben. In diesem Tanz werden die Tanzpartner eins, ohne vollständig ineinander aufzugehen, ohne ihre

24Vgl.Schenke, Christologie (Anm. 7) 459.

25Vgl. ebd., 457 f.

26Selbstverständlich kommt in diesem Mythos einhistorischesEreignis zur Anschauung.

Mythographie wird hier nicht als Gegenteil der Historiographie verstanden, sondern als eine besondere Sprachform des geschichtlichen Erzählens.

27Vgl. Paul W.Meyer, „The Father“: The Presentation of God in the Fourth Gospel, in:

R. Alan Culpepper (Hg.), Exploring the Gospel of John. In Honor of D. Moody Smith, Louisville 1996, 225–273: 265; ähnlichThompson, God (Anm. 22) 231.

Pas de deux 89 jeweilige Identität aufzugeben. Sie stehen in engster Verbindung, ihre jeweils eigenen Schritte bilden eine gemeinsame Schrittfolge. Der eine lässt sich vom anderen führen, führt die Schritte aber gleichsam selbst aus.

An diesem etwas ausführlicheren Beispiel von Joh 10 lassen sich

An diesem etwas ausführlicheren Beispiel von Joh 10 lassen sich