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2. THEORETISCHER HINTERGRUND

2.2. P ERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN

„Eine Persönlichkeitsstörung stellt ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten dar, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, tiefgreifend und unflexibel ist, seinen Beginn in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter hat, im Zeitverlauf stabil ist und zu Leid oder Beeinträchtigungen führt.“

(Saß et al., 2003, p. 749)

Persönlichkeitsstörungen (PS) stellen eine häufige, aber schwierig zu diagnostizierende und zu behandelnde psychische Erkrankung dar (Tyrer et al., 2015). In ihrem Verlauf zeigen sie ein stabiles Symptombild, klingen aber im fortgeschrittenen Alter ab, wobei jede PS unterschiedliche Verlaufsformen vorweist. Bei allen PS ist festzustellen, dass die Betroffenen Schwierigkeiten in Beruf und Familie haben, häufiger wegen Krankheiten zum Arzt gehen und länger ohne feste Partnerschaften leben. Das Suizidrisiko der Betroffenen ist höher als bei anderen psychischen Störungen und liegt zwischen 2 und 6 %. PS sind laut der AWMF S2-Leitlinie für PS (Renneberg et al., 2010) grundsätzlich auch schon in der Kindheit diagnostizierbar, allerdings sollte hier von Persönlichkeitsentwicklungsstörungen gesprochen werden, um die Gefahr von zu früher Festlegung von maladaptivem Verhalten zu vermeiden. Außerdem ist die Diagnostik von PS in jungen Jahren häufig instabil und es wird daher empfohlen vor dem 15. Lebensjahr keine Diagnose PS zu vergeben. Im DSM-IV müssen Persönlichkeitszüge mindestens ein Jahr lang anhalten, damit bei Personen unter 18 Jahren eine PS diagnostiziert werden darf (Saß et al., 2003).

PS sollten immer in Abhängigkeit der jeweiligen Kultur betrachtet werden und nur in Anbetracht des soziokulturellen Kontextes des:r Patient:in diagnostiziert werden. Zu kulturspezifischen Aspekten gehören eine große sprachliche und somatische Variationsbreite in der Affektäußerung, ethnographische Unterschiede des kulturellen Kontextes und der Einfluss der Persönlichkeit auf kulturspezifische Ausdrucksformen. Zum Beispiel kann die Borderline PS sowohl in Japan als auch in den USA diagnostiziert werden, wobei die japanischen Patient:innen häufiger unter Derealisations- und Depersonalisationserleben leiden. In traditionellen Kulturen des Mittleren Osten kommen normalerweise hervorstechende Symptome der Borderline PS wie z.B.

selbstverletzendes Verhalten störungsassoziiert nicht vor (Sieberer, 2014).

Die epidemiologische Studie von Maier und Kolleg:innen (1992) zeigt eine Prävalenz von 9,4% in der Allgemeinbevölkerung. Unter psychiatrischen Patient:innen liegt allerdings die Prävalenz mit 39.5% deutlich höher. Diese groß angelegte Studie der WHO zeigt, dass die ängstlich

(vermeidende) PS mit 15.2% am häufigsten und die Paranoide (2.4%) und Schizoide (1.8%) PS seltener diagnostiziert wurden.

Erst seit Entwicklung des DSM-III sind PS auf der Achse II zu finden. Diese separate Abgrenzung gegenüber den restlichen psychischen Störungen, soll den Diagnostizierenden deutlich machen, dass die Diagnose einer PS besonders überprüft werden muss und das Vorhandensein nicht aufgrund der Achse I-Diagnose in den Hintergrund oder gar in Vergessenheit gerät. Es werden elf PS beschrieben, welche aufgrund ihrer Ähnlichkeiten in drei Cluster, Cluster A, B und C, unterteilt werden. In der ICD-10 sind PS unter den Nummern F60-61 - unter F60 die spezifischen PS und unter F61 die kombinierten und anderen PS - zu finden. Zwischen den beiden Diagnosesystemen DSM-IV und ICD-10 gibt es einige Unterschiede bei der Einteilung der PS.

Diese Unterschiede erschweren die routinierte Diagnostik in der Praxis und führen zu Schwierigkeiten bei der Vergleichbarkeit von Studien (Renneberg et al., 2010).

Der Cluster A beschreibt Personen, die sonderbar und exzentrisch erscheinen und umfasst die Paranoide, Schizoide und Schizotypische PS. Patient:innen mit einer Cluster A – PS haben typischerweise keine Krankheitseinsicht, sind selten in Behandlung und wenn, dann häufig aufgrund einer komorbiden psychiatrischen Störung der Achse I (Doering & Sachse, 2017).

Personen mit einer Paranoiden PS können sich nur schwer auf Beziehungen einlassen, begegnen ihrem Gegenüber mit Distanz und Misstrauen, wobei der Interaktion ein Wunsch nach Bestätigung und Verständnis zugrunde liegt. Außerdem haben sie Angst vor Kontrollverlust und dem Verlust der Selbstbestimmung (Doering & Sachse, 2017). In der ICD-10 findet sich die Paranoide PS unter F60.0.

Betroffenen mit einer Schizoiden PS, in der ICD-10 die Nummer F60.1, fällt es schwer Beziehungen aufzunehmen, sie halten extreme Distanz zu ihrem Gegenüber. Es erscheint als hätten sie weder Wünsche noch Ängste in Bezug auf andere Menschen und als wären sie unfähig, die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen.

Die Schizotypische PS (ICD-10 Schizotype Störung F21) zeichnet sich durch bizarres und seltsames Verhalten aus. Die betroffenen Personen weisen häufig magisches Denken und kognitive Auffälligkeiten auf. Beziehungen sind durch Misstrauen geprägt und die Angst vor Angriff und Unterwerfung lässt sie sich zurückziehen. Nur im DSM-IV wird die schizotypische Störung als PS benannt, wohingegen sie in der ICD-10 den Schizophrenien auf Achse I dem Kapitel F2 Schizophrenie, Schizotype und Wahnhafte Störung (ICD-10: F21) zugeordnet wird.

Der Cluster B beschreibt Personen, die dramatisch, emotional oder launisch wirken und umfasst die Antisoziale, Borderline, Histrionische und Narzisstische PS. Patient:innen mit einer Cluster B PS erleben einen subjektiv hohen Leidensdruck, auf Grund starker begleitend auftretender affektiver Symptome. Diese entstehen häufig durch die Frustration eines

übertriebenen Wunsches nach Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung. Bei Personen, die einen stabilen und erfolgreichen Lebensstil führen, kann dieser Leidensdruck nicht vorhanden sein, jedoch ist meistens das Umfeld aufgrund der rivalisierenden oder entwertenden Lebenseinstellung des Betroffenen beeinträchtigt (Doering & Sachse, 2017).

Die Antisoziale PS wird im ICD-10 als Dissoziale PS (ICD-10: F60.2) benannt. Betroffene mit dieser Symptomatik zeichnen sich durch Missachtung sozialer Normen und Verantwortungslosigkeit aus. Häufig geht delinquentes Verhalten mit dieser PS einher. Die Betroffenen zeigen keine Reue, haben kein Einfühlungsvermögen für andere und zeigen aggressives Verhalten.

Die Borderline PS findet sich im ICD-10 unter der emotional instabilen PS F60.3 und wird dort zwischen dem impulsiven Typ F60.30 und Borderline-Typ F60.31 aufgeteilt. Diese Unterteilung der Borderline PS in einen Borderline- und impulsiven Typus findet sich allerdings nur in der ICD-10 und nicht im DSM-IV. Diese PS bringt eine vielfältige Symptomatik mit sich, die sich zentral durch eine massive Störung der Affektregulation und interpersonelle Interaktionsprobleme auszeichnet. Betroffene zeigen häufig selbstschädigendes und suizidales Verhalten. Menschen mit einer BL PS führen meist ein chaotisches Leben, welches durch negativen Selbstwert und wiederkehrende komplizierte Beziehungen geprägt ist (S. Herpertz et al., 2017).

Personen mit einer Histrionischen PS (ICD-10: F60.4) wollen gerne im Mittelunkt stehen, sind bedürftig und haben ein großes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Ihr Auftreten wirkt häufig gekünstelt, aufgesetzt und sexualisiert, kann aber je nach Umgebung sozial erfolgreich sein. Meist fällt die Anerkennung durch das Umfeld im fortgeschrittenen Alter ab, was die Betroffenen in depressive Krisen stürzen lassen kann.

Personen mit einer Narzisstischen PS, in der ICD-10 in der Unterkategorie Sonstige spezifische PSen F60.8 zu finden, sind extrovertiert, fordern ein hohes Maß von Bestätigung und Bewunderung ein und sind beherrscht von Größenideen zur Abwehr einer inneren Bedrohung von Schwäche und Abhängigkeit. Häufig werten sie andere ab, nutzen sie aus, sind arrogant und wenig empathisch. Die Narzisstische PS bekommt nur im DSM-IV eine eigene Kategorie.

Im Cluster C werden ängstliche oder furchtsame Personen beschrieben und umfasst die Vermeindend-Selbstunsichere, Dependente und Zwanghafte PS. Auch Cluster C Patient:innen kommen wie die Cluster A Patient:innen häufig wegen einer komorbiden Achse I Störung in Behandlung, da sie ihr eigenes Erleben und Verhalten nicht als veränderungswürdig und störend erleben (Renneberg, 2017).

In der ICD-10 befindet sich die ängstlich vermeidende PS unter F60.6 und wird im DSM-IV als Vermeidend-Selbstunsichere PS benannt. Menschen mit einer ängstlich-vermeidenden PS haben extreme Angst vor Kritik sowie Zurückweisung und ein sehr negatives Selbstbild. Sie

vermeiden aufgrund von Selbstunsicherheit soziale Situationen und verhalten sich in persönlichen Beziehungen gehemmt und zurückhaltend. Der Leidensdruck nimmt durch sozialen Kontakt zu und in besonders schweren Fällen spielt Suizidalität eine Rolle.

Die Dependente PS (ICD-10. Abhängige PS F60.7.) zeichnet sich durch unterwürfiges und konfliktvermeidendes Verhalten aus. Betroffene können Entscheidungen nicht eigenständig treffen und sind in hohem Maß von Bezugspersonen abhängig. Sie verhalten sich sozial erwünscht und angepasst. Häufig gehen Verlustängste mit dieser Störung einher.

Die Zwanghafte PS wird in der ICD-10 als anakastische PS betitelt und trägt die Nummer F60.5. Personen, die von einer Zwanghaften PS betroffen sind, wirken meist rigide, perfektionistisch sowie gewissenhaft und haben Angst davor, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen.

Sie orientieren sich stark an Normen und Regeln und haben ein sehr hohes Bedürfnis an Sicherheit.

Die hohen Ansprüche an sich selbst und an ihre Leistung können teilweise dazu führen, dass sie sich selbst im Weg stehen und sie Dinge nicht zu Ende bringen können.

Der Ansatz, dass verschiedene Persönlichkeitstypen strikt voneinander abgrenzbare Kategorien bilden, stellt sich als wenig zutreffendes Konzept dar: Vielmehr ist es möglich, dass Personen, die eine Störung im Cluster B diagnostiziert bekommen auch Merkmale der Störungen in Cluster C aufweisen (Cloninger, 2000).

Eine zusätzliche Herausforderung, die das richtige Diagnostizieren von PS erschwert, ist die Wahl der Diagnoseinstrumente. Es gibt kaum Instrumente, die schnell und genau diagnostizieren. Die vielen Kriterien der PS in den großen Diagnosemanualen sind oft abschreckend und die Schwierigkeit, Persönlichkeit in Abgrenzung von der inneren Befindlichkeit zu beurteilen, stellt oft Hürden dar, eine solche Diagnose zu vergeben (Tyrer et al., 2015).

Das diagnostische Vorgehen zur Diagnose einer PS ist ausschlaggebend für die Diagnose-Genauigkeit: Es wird empfohlen, strukturierte oder halbstrukturierte Interviews zu verwenden, da diese standardisiert und gut vergleichbar sind (Zimmerman et al., 2005). Am häufigsten werden das International Personality Disorder Examination (IPDE) und das Strukturierte Klinische Interview zur Diagnostik von PS (SKID-II) durchgeführt (Renneberg et al., 2010).

Eine weitere Herausforderung bei der Diagnostik der PS ist, dass Persönlichkeitsmerkmale, die die Grundlage der Diagnostik für PS bilden, auch bei Menschen vorkommen, die nicht alle Kriterien einer PS erfüllen. Daher wird diskutiert, das kategoriale Störungsmodel in eine kontinuierliche dimensionale Einteilung von Persönlichkeitsstil bis hin zur Störung zu ändern (Davison et al., 2016).

So werden im DSM-V bereits beide Konzepte nebeneinander dargestellt, um dem:r Kliniker:in eine personalisiertere und genauere Diagnosemöglichkeit anzubieten. Die Klassifikation erfolgt allerdings noch anhand des DSM-IV Systems. Betrachtet man die Entwicklung der PS in

DSM III bis DSM V, so zeigen sich von Ausgabe zu Ausgabe erhebliche Unterschiede bei der Klassifikation und Konzeptualisierung der PS. Dies zeigt deutlich, dass das Gebiet der PS ein aktiv beforschtes und diskutiertes Feld innerhalb der Psychiatrie darstellt.

Diese Änderungen in Konzeptualisierung und Diagnostik spiegeln sich natürlich auch in der Entwicklung der Behandlungen für PS wider. Der äthiologische Ursprung der PS wird in der Kindheit und Jugend gesehen. Er wird durch das Konzept des lebenslangen Lernens in der neuronalen Plastizität des Gehirns verankert. In Verbindung mit der Erforschung der biopsychoszialen Grundlagen von PS wird eine Behandlung von PS als möglich gesehen (Euler et al., 2018). Dabei stellt Psychotherapie in Form von spezifischen Behandlungsansätzen den zentralen Behandlungsansatz der PS dar (Renneberg et al., 2010):

Empirisch überprüft und als wirksam befunden, sind zwei verhaltenstherapeutische Therapien: Die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) und die Schematherapie (S. Herpertz et al., 2017). Außerdem gehören zu den evidenzbasierten Therapieverfahren die Tiefenpsychologische Übertragungsfokussierte Therapie nach Kernberg (TFP) und die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT). Diesen vier Therapieformen liegen, trotz verschiedener theoretischer Grundannahmen, eine aktive, klärende Haltung des Therapierenden, umfassende Diagnostik und Therapieziele im Hier und Jetzt zugrunde (Euler et al., 2018).

Die Verbindung aus komplexen und heterogenen Konzepten der PS in Verbindung mit spezifischen psychotherapeutischen Behandlungskonzepten unterstreicht dabei die Erfordernis einer genauen Diagnostik der Patient:innen und einer Fortsetzung der Forschungsbemühungen in diesem Bereich.