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Ornatus und honor. Gründe für den Prachteinband

Die Verborgenheit des rituellen Texts und die Sichtbarkeit des Prachteinbands

1 Ornatus und honor. Gründe für den Prachteinband

Ganz im Sinne dieser letzten Beobachtung kreist mein Beitrag um das Wechselver-hältnis zwischen der Verborgenheit der Schrift und der Sichtbarkeit der kostbaren und künstlerisch aufwendig gestalteten Buchhülle – wobei ich mich auf den heiligs-ten Text, die vier Evangelien, konzentriere.6 Wenig erfährt man zu diesem Thema aus den schriftlichen Handlungsanweisungen der Liturgie. Ob gewöhnliches Messformu-lar oder Pontifikale, wir können hier zwar einiges darüber nachlesen, was alles mit dem Buch der vier Evangelien zu tun ist, von der äußeren Gestaltung der Kodizes ist nicht die Rede.7 Im Sinne der offiziellen Vorschriften für den korrekten Vollzug von Messe, Kirchweihe, Priesterweihe oder Prozession wäre es vollkommen ausreichend, wenn Evangeliare und Perikopenbücher allein aus Blattlagen mit den benötigten Texten bestünden.

Eine andere Sprache sprechen dagegen die Schatzverzeichnisse des Mittel-alters.8 Die liturgischen Bücher, die sie auflisten, sind meist nach zwei Kategorien

4 Eine eigene Spielart des Kontakts mit dem Buch eröffnete der an die Lesung anschließende, bereits im Ordo Romanus I (7. Jh.) erwähnte Kuss durch die anwesenden Kleriker. In diesem Zusammenhang wird manchmal das Vorrecht der Priester betont, das geöffnete Buch zu küssen, vgl. Durandus 1995–

2000, Bd. 1, 355f. (IV.24.32). Zeitweise wird auch das Volk zum Kuss zugelassen (Ordo Romanus V). Vgl.

Jungmann 1962, 575–577.

5 Zum Begriff des rituellen Texts: Quast 2005, 26–40.

6 Zur Gattung immer noch grundlegend: Steenbock 1965.

7 Handlungsanweisungen sind mir nur zum Buchkasten (capsa) bekannt, vgl. unten Anm. 27.

8 Bischoff 1967. Zu Büchern im Schatz vgl. Palazzo 1996; Giovè Marchioli 2004; Braun-Niehr 2010.

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unterschieden: Textgattung und Materialien der Außenseiten. „Zwei Vollevangelien, eines mit Silber ummantelt, das andere mit Gold, Silber und Steinen geschmückt.

Ein drittes durch Gold, Silber und Steine ausgezeichnet und mit mehreren in Bein geschnittenen Bildern äußerst angemessen ausgeschmückt“ lautet eine typische Passage dieser Art, hier im Schatzverzeichnis der Abtei Zwiefalten aus dem 12. Jahr-hundert.9 Während die Angaben zum Inhalt der Bücher kaum einmal über die Taxono-mie der Textsorten hinausgehen, ist das Äußere der Bücher Grundlage einer eigenen Klassifizierung, in der die verwendeten Materialien eine Wertehierarchie vorgeben:

Gold, Silber, andere Metalle, dazu Elfenbein, Edelsteine und kostbare Textilien.10 Liturgische Ordines und Schatzverzeichnisse nehmen den heiligen Text aus zwei verschiedenen Perspektiven in den Blick: hier das rituelle Dispositiv, die Aufführung, die in der Lesung kulminiert – dort das Buch-Objekt, ein Gegenstand, dem prinzipiell schon außerhalb oder vor dem Ritual Heiligkeit zukommt.11 Beide Seiten sind für den mittelalterlichen Bücherkult nicht getrennt zu denken, sondern eng miteinander ver-schränkt. Man kann das an den „Selbstaussagen“ ablesen, mit denen Stifter die von ihnen geschenkten Einbände zum Sprechen bringen. Mit der Ehre (honor), die dem textus evangelii gebührt, argumentiert ein Bischof namens Berthold, der um 1000 ein byzantinisches Elfenbeinrelief für einen Buchdeckel stiftet: „Im Auftrag des Bischofs Berthold wird das gesamte Evangelienbuch hier eingeschlossen, geschmückt mit angemessener Ehre“.12 Als Grund für den Prachteinband wird die Würde der heili-gen Schrift angeführt. Hingeheili-gen knüpft ein Gedicht, das Hrabanus Maurus in die Hülle eines Evangeliars eingravieren lässt, die Ehre an den liturgischen Gebrauch des Buchs. In dieser theca, so heißt es dort, „soll das Evangelium auf ehrenvolle Weise behandelt werden, wenn der Diakon sich bereit macht, es zu lesen.“13 Beides lässt an den titulus denken, der über die Bildseite des Raganaldus-Sakramentars geschrieben

9 Duo plenaria, unum argento circumdatum, alterum auro, argento et lapidis decoratum. Tertium auro, argento et lapidibus distinctum, diversis imaginibus ex ossibus insculptis decentissime perornatum.

Bischoff 1967, 117, Nr. 116.

10 Zu Prachteinbänden, aber auch zu Prachthandschriften als Wertobjekt vgl. McKitterick 1989, 135–164 (147f. zu den Einbänden) sowie Eberlein 1995, 254–290. Die Frage einer Rekonstruktion histo-rischer Materialsemantik von Einbänden kann im Rahmen dieser Studie nicht weiter vertieft werden, vgl. die Bemerkungen dazu bei Bandmann 1969, 88–94; Thunø 2006, 69–70; Cohen, 2010, 81–84.

11 In Anlehnung an Baudrillard unterscheidet Cordez 2007 zwischen „Instrumenten des Rituals“

und „Objekten“.

12 Presulis imperiis bertoldi clavditvr omnis textvs evangelii redimitvs honore decenti. Vgl. Cutler/North 2003. Ähnlich, wenn auch etwas allgemeiner auf die Buchstiftung als Werk zur „Ehre Gottes“ bezo-gen, ist es auf der Inschrift eines Buchkastens aus der Kirche St. Servatius in Maastricht nachzulesen (heute Paris, Musée du Louvre, Orf. 13): Beatrix me in honore dei o(mn)i potentis eivs fieri precepit et omniuscorum. Vgl. Steenbock 1965, 141, Nr. 56; Stork 2008, 301.

13 Evangelium sanctum gestetur honeste quando lecturus hoc diaconus erit. Hrabanus Maurus, carmen 73 (versus in theca evangelii conscripti), in: MGH Poetae 2 1889, 226. Zit. nach Beissel 1906, 293, Anm. 7.

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ist: „Es ist das Vorrecht des Bischofs, die Ehren der kirchlichen Ämter zu verleihen.“14 So wie die Geistlichen mit der Verleihung der sichtbaren Amtszeichen honor empfan-gen, tut dies auch das Buch über den Einband.

In eine ähnliche Richtung weist die Semantik des Ornats, das zweite große Begriffsfeld, das Inschriften zu Einbandstiftungen bemühen.15 „Mit einer Krone (einem Ehrenkranz) schmückt (ornat) König Heinrich die vollkommene Lehre“ lesen wir auf dem Deckel des Perikopenbuchs, das Heinrich II. der Kathedralkirche seiner neuen Bamberger Diözese schenkte.16 Dank ihres wertvollen Äußeren werden die liturgischen Bücher selbst Ornat für den Altartisch, wie es ein Mainzer Schatzver-zeichnis des 13. Jahrhunderts formuliert: „Es handelte sich um Bücher, die zur Zierde auf den Altar gelegt wurden, wie es die Evangeliare, die Epistolare oder Lektionare, die Benediktionale, die Kollektare sind, einige unter ihnen mit Elfenbeinschnitze-reien bekleidet, andere mit Silber, andere mit Gold und Edelsteinen verziert.17 Wenn dabei für das Bamberger Perikopenbuch das Bild der Krone (oder des Ehrenkranzes) aufgerufen wird, dann artikuliert sich darin ein Verständnis des Buchschmucks als Insignie der heiligen Schrift.

Nicht von ungefähr ist es ein König und mithin selbst ein gekrönter Herrscher, der so etwas schreiben lässt. Der Schmuck gebührt dem heiligen Buch-Objekt, er gebührt aber auch denen, die es stiften oder es beim Ritual in Händen halten. Die Kategorie des Ornats verknüpft gleichsam die Heiligkeit des Objekts mit dem sozialen Status der Akteure. Dass es hier genau definierte Anspruchsniveaus gab, geht aus einem der seltenen Berichte vom Misslingen eines Buchrituals hervor, den wir den Casus Sancti Galli Ekkehards IV. verdanken. Beim Besuch des Bischofs Petrus aus Verona bieten die Sankt Galler Mönche ihrem Gast ein Evangelium an, „das sie wohl für ein bes-seres Exemplar hielten. Jener aber war des Glaubens, man verachte ihn, denn da er Großes und Rühmliches von dem Kloster gehört hatte, nahm er an dem billigen Band im Stillen Anstoß.“18 Kurzentschlossen bereinigt der Bischof diesen inakzeptablen

14 Proprium est pontificum conferre per ordinem honores. Vgl. Bräm 2002, 142.

15 Der für die Mediengeschichte der Prachteinbände zentrale Themenkomplex ornatus/ornamentum kann hier nur angerissen werden. Eine gute neuere Diskussion bieten die ornamentgeschichtlichen Untersuchungen Jean-Claude Bonnes, vgl. insbesondere Bonne 1996, 73–78.

16 Ornat perfectam rex heinrih stemmate sectam. Zur Frage der Übersetzung vgl. Wolf 1995/97 gegen die ältere, u.a. in Källström 1951 vertretene Lesart, stemma wörtlich zu nehmen als Hinweis auf eine tatsächliche Krone, die in Gestalt der byzantinischen Emailplättchen auf den Rahmen montiert wor-den sei.

17 Erant libri qui pro ornatu super altere ponebantur, ut sunt evangeliorum, epistolare sive lectionarii, benedictionales, collectarii quidam vestiti ebore sculpto, alii argento, alii auro et gemmis. Zit. nach Bischoff 1967, 53, Nr. 45.

18 Fratres autem suscipientes illum, quod melius quidem habebant, ewangelium ei offerebant. Ille autem arbitratus se despici, quoniam famam loci magnam audiverat, de vilitate libri secum fluctuabat.

Ekkehard IV. 2002, 30f.

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Zustand: über geheime Boten lässt er Gold aus Verona kommen, aus dem eine neue Buchhülle geschaffen wird.19

Die Selbstaussagen der Bücher und andere Quellen des frühen Mittelalters belegen es übereinstimmend: eine materiell, aber auch künstlerisch aufgewertete Außenseite liturgischer Bücher galt in der zeitgenössischen Wahrnehmung als unver-zichtbar. Honor und ornatus waren der sichtbare Mehrwert, den sie den heiligen Texten zufügte. Die Aufwertung der Buchaußenseiten potenzierte noch die Unsicht-barkeit und Unzugänglichkeit des Geschriebenen.20 Schmuck und Ehre verliehen sie einem Schriftstück, dessen Text auch im kurzen Moment der Öffnung ein verborgener blieb. Deshalb führt der immer wieder gewählte Vergleich der Einbände mit einem

„Tor“ oder „Portal“ der Schrift an der Logik des Mediums vorbei.21 Der Einband mar-kierte nicht die Öffnung, durch die in den Text einzutreten war. Vielmehr war er die Schwelle, über welche die Verkündigung des Worts in den Kirchenraum hinein erfolg-te.22

Zeichen auf der Oberfläche des Einbands machen diesen zu einem Medium sui generis. Buchstaben treten dabei nur nachgeordnet in Erscheinung.23 Zuallererst ist die Buchhülle eine Domäne bildlicher Ordnungen: ornamentaler Muster, geometri-scher Schemata oder figürlicher Bilder.24 Eine erste Vermutung wäre daher, dass die Buchhülle mithilfe der Bilder einem doppelten Sichtbarkeitsdefizit der Schrift entge-gensteuert: einem Defizit des in den Seiten des Kodex Verborgenen, einem Mangel aber auch an Anschaulichkeit des Zeichensystems der Schrift. Hier möchte ich mit der Analyse von zwei Fallbeispielen ansetzen, die in ihrer Gegensätzlichkeit für das weite Spektrum der Möglichkeiten der Einbandgestaltung einstehen können.

19 Allatum est sancto Gallo grave pondus auri Veronensis. [...] Fit de auro Petri cavea ewangelii, fit calix, fit capsa. Ekkehard IV. 2002, 30–32. Vgl. Stork 2008, 292f.

20 Dass die kostbare Ausstattung den Blick auf den Inhalt der Bücher verstelle, ist ein bisweilen ge-äußertes Argument, das aber nie mit einer liturgischen Nutzung des Buches rechnet. Im 11. Jahrhun-dert schreibt Diakon Bebo in seinem Brief an Heinrich II.: dent admiranda visu, sensum fortasse tar-dantia, quia, dum hoc, quod foris est, diligentius intuetur, quod intus latet, minus admittitur. Zit. nach Hoffmann 1986, 517. Im 14. Jahrhundert bei Alvarus Pelagius, De planctu ecclesiae II, 76: Non habitat in auro scientia, quia nec ei comparatur aurum nec lapis pretiosus […]. Libros pulchros non audent fratres commodare, nec in eis studere; sed clausos eos tenent in suis studiis quatuor fibulis clausos, et pannis preciosis coopertos ex superbia at avaritia. Zit. nach Eberlein 1995, 424, Nr. 207.

21 Am entschiedensten vertreten von Kitzinger 1974. Vgl. auch Steenbock 1965, 58 oder Zanichelli 2004, 29. Eine Schwellenfunktion für ornamentierte Zierseiten im Inneren von Büchern vermutet El-bern 1971.

22 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Rainer 2011, 167–181, der den Türvergleich im Sinne einer Öffnung für den „transitierenden Blick“ modifiziert.

23 Zu Texten auf Einbänden (vom Mittelalter bis zur Gegenwart) vgl. Petrucci Nardelli 2007.

24 Das unterscheidet den mittelalterlichen Prachteinband vom schriftbasierten Paratext moderner Bucheinbände, zu letzterem vgl. Genette 2001, 29–36.

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2 Der Uta-Buchkasten. Die Buchhülle als Körper-Bild des verborgenen Texts

Grundzüge des Gefälles von restringierter Präsenz der Schrift und gesteigerter Präsenz des Buchs lassen sich am Buchkasten des Uta-Kodex erläutern (Abb. 2, 3).

Eine Regensburger Goldschmiedewerkstatt schuf den Kasten um 1020/30 im Auftrag von Uta von Schwaben, der Äbtissin des Regensburger Kanonissenstifts Niedermüns-ter. Das aus Holz gefertigte und mit Gold, Edelsteinen und Emails verkleidete Behält-nis sollte ein reich mit Miniaturen verziertes Evangelistar aufnehmen.25 Seine mediale Leistung lässt sich am besten als Verwandlung des in seinem Inneren geborgenen Buches beschreiben. Eingefasst von einem breiten, mit Edelsteinen und Filigran ver-zierten Rahmen wird auf dem Vorderdeckel die massive Gestalt des Himmelsherr-schers sichtbar, ausgestattet mit den Hoheitszeichen Mandorla, Thron und Buch.

Das Perikopenbuch wird so als medialer Ort inszeniert, an dem Christus körperlich anwesend ist. In forcierter Dreidimensionalität – schmal, aber den Rahmen oben und unten fast aufsprengend – beherrscht der Thronende die Vorderseite des Kastens und lässt so das Buch zum Akteur werden, der im Rahmen ritueller Handlungen als eine Art Mitspieler wahrgenommen werden kann.

Bestimmte Elemente der Messformulare des frühen Mittelalters unterstützen eine solche Lesart vom Buch als Handlungsträger: Introitus und Wortgottesdienst ent-lehnen Elemente des antiken Herrscherrituals – das Geleit durch Kerzen- und Weih-rauchträger in den Kirchenraum und später auf den Ambo, der Kuss durch Priester und Diakon, die ehrerbietige Anrede durch die Gemeinde im Moment der Lesung.26 Theologisch ausbuchstabiert finden wir diese Rolle des Buches als Stellvertreter Christi in den Messkommentaren des frühen Mittelalters, am konsequentesten bei Amalar von Metz.27

Kein Zweifel: der Regensburger Buchkasten verhilft dem Buch zu einer erhöh-ten Sichtbarkeit im Modus des Körperbildes. Für die Kanoniker und Kanonissen im Konvent Niedermünster war das Perikopenbuch als Stellvertreter des Himmelsherr-schers wahrnehmbar. Materialien mit intensiver Lichtwirkung – Gold, Email, Edel-steine – steigerten durch ihr Aufleuchten und Strahlen im Lichtschein der Kerzen noch die visuelle Aura um das Buch. Allerdings, so müssen wir annehmen, brachte

25 München, Staatsbibliothek, Clm 13601. Holz, getriebenes Gold, Edelsteine, Perlen, Email, 44,5 × 32,5 × 9 cm. Vgl. Steenbock 1965, 147–149, Nr. 59; Rütz 1995; Stork 2008, 300f.; Siede 2009, 482, Nr. 248.

Zur Biographie Utas und zum Kontext des Kanonissenstifts Niedermünster vgl. Cohen 2000, 9–23 und 183–196.

26 Vgl. Gussone 1995, 202–209; vgl. auch Lentes 2005, 136–138.

27 Vgl. Gussone 1995, 202f. und 209–216 zur Expositio antiquae liturgiae gallicanae (7. Jh.), zur Expo-sitio de celebratione missae Remigius’ von Auxerre (9. Jh.) und zum Liber Officialis Amalars von Metz (9. Jh.).

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Abb. 2: Christus als Himmelsherrscher, Buchkasten des Uta-Kodex, um 1020/30. München, Bayeri-sche Staatsbibliothek, Clm 13601

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die Hülle das Umhüllte keineswegs zum Verschwinden. Ihre Wirksamkeit beruhte nicht auf einer Operation der Substitution. Entscheidend war vielmehr das Zusam-menspiel von sichtbarem Bild und unsichtbarer Schrift. Das kann an dem kritischen Moment der Öffnung der capsa verdeutlicht werden. Bevor der Diakon zur Lesung auf den Ambo stieg, wurde der Kodex aus dem Kasten herausgenommen. Dieser – so meine Annahme – blieb leer auf dem Altar zurück.28 Für den Uta-Buchkasten kann man sich diese Situation als ein regelrechtes Aufbrechen des Bild-Körpers vorstel-len, welches den Kodex – eingebunden in eine schlichte, mit Pergament überzogene Schutzhülle – als primären Schriftträger zum Vorschein brachte. Keineswegs war damit eine Enthüllung der Schriftzeichen verbunden. Vielmehr war es im Moment der Lesung ein anderer Körper, derjenige des Diakons, der das Geschriebene rezitie-rend in den Klang des ausgesprochenen, des gesungenen Worts überführte und so die

28 Im Ordo Romanus I für die Papstmesse (7. Jh.) wird explizit erwähnt, dass das Evangelienbuch nach der Lesung und dem Kuss wieder in seine capsa zurückzulegen sei: Et post hoc praeparato aco-lyto […] cum capsa in qua subdiaconus idem ponit evangelium ut sigilletur. Acolytus autem […] revocat evangelium ad Lateranis. Andrieu 1931–61, Bd. 2, 89f. (I.65). Eine kurze Erwähnung findet der Buch-kasten im Ordo IV, einer fränkischen Kompilation des 8. Jahrhunderts: Inde retrudit in capsa sua.

Andrieu 1931–61, Bd. 2, 161 (IV.33).

Abb. 3: Buchkasten des Uta-Kodex (Schrägsicht), um 1020/30. München, Bayerische Staatsbiblio-thek, Clm 13601

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Präsenz des göttlichen Worts im Kirchenraum sicherstellte. Mit anderen Worten: der Buchkasten mit dem Bild-Körper blieb ein Hilfsmittel, eine Art Maske, deren medialer Status gerade auf dem Höhepunkt des Rituals zutage trat.29