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Das Theophanu-Evangeliar

6 Der Blick aus der Nähe

Wie bereits Adolph Goldschmidt erkannte, ist die Essener Tafel eine maßgleiche und detailgenaue Kopie eines etwas älteren Elfenbeinreliefs, das in den Brüsseler Musées Royaux d’Art et d’Histoire aufbewahrt wird (Abb. 10).53 Die von Theophanu beauftrag-ten Elfenbeinschnitzer müssen Gelegenheit gehabt haben, in direkter Anschauung dieses Vorbilds zu arbeiten.54 Nicht in allen Punkten jedoch sind sie diesem gefolgt.

52 Vgl. Raw 1990, 105f., die vier weitere Beispiele aus der Bildkunst des späten 10. und des 11. Jahr-hunderts aufführt, das Essener Elfenbein aber in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Zur Vorstel-lung von Maria als Buchproduzentin vgl. Schreiner 1971. Dort auch der Hinweis auf eine parallel sich ausbildende Tradition, Maria als Lesende zu betrachten, etwa bei Hrotswith von Gandersheim, Maria, 334f. (Schreiner 1971, 1442).

53 Vgl. Goldschmidt 1914–18, Bd. 2, Nr. 55; Van Noten 1999, 98f. (Sophie Balace).

54 Die Brüsseler Platte lokalisieren Balace und Jülich in die Maas-Region, die Essener in eine Köl-ner Werkstatt, vgl. Van Noten 1999, 98f. (Sophie Balace); Canossa 1077 2006, 380–382, Nr. 477 (Theo Jülich). Den Bildtransfer von der Maas an den Rhein denkt sich Jülich ausschließlich durch Zeich-nungen vermittelt, die die Kölner Künstler auf einer Reise anfertigten. Das halte ich nicht nur wegen der Maßgleichheit und zahlreicher Übereinstimmungen im Detail für wenig wahrscheinlich. Das Zi-tatverhältnis der beiden Platten erklärt sich besser, wenn man eine Beteiligung der Auftraggeberin Theophanu bei der Auswahl des „Vorbilds“ annimmt. Denn es erscheint mir wenig plausibel, dass Theophanu das Elfenbein vorgefertigt aus Kölner Beständen übernommen haben soll, wie dies neben Jülich auch Rainer Kahsnitz vermutet, vgl. Krone und Schleier 2005, 274, Nr. 155. Das ikonographische Programm beider Platten ist sehr elaboriert, die weiter unten aufgeführten Abweichungen des Esse-ner Reliefs lassen auf eine maßgeschneiderte Herstellung für Essen schließen. Es ist gut vorstellbar, dass sich das Brüsseler Relief mitsamt zugehörigem Buch um 1040/50 in Kölner Besitz befand und Theophanu über ihren Bruder Herimann, den Kölner Erzbischof, direkt zugänglich war. Auch die

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So ist die Gottesmutter unter dem Kreuz im Brüsseler Elfenbein ganz konventionell als Trauernde gestaltet, ein Buch führt sie nicht mit sich. In Verbindung damit ist wohl eine weitere Abweichung zu sehen: Der Griff des himmelfahrenden Christus gilt auf der Brüsseler Tafel einem Flügel der Himmelspforte, die inmitten kleiner Wol-kenwirbel auf dem Rahmen des Elfenbeins sichtbar wird. Auf dem Essener Elfenbein sind auch an dieser Stelle Bücher eingefügt: das Buch wird zur Pforte zum Jenseits, zur Schwelle eines Lebens, welches das Wort einst Fleisch werden ließ und seit der Himmelfahrt nur mehr als schriftlich aufgezeichnetes Realität besitzt.55

Noch in den jüngsten Diskussionsbeiträgen wird das Verhältnis der beiden Elfen-beinreliefs als Ergebnis eines gedankenlosen Kopistentums beschrieben, dessen Unzulänglichkeiten in verschiedenen „Missverständnissen“ zutage träten – zu letz-teren wird auch die Tür aus Büchern gerechnet.56 In Wahrheit haben wir es mit einem gezielten Zitat zu tun, in das mehrere Abweichungen eingebaut wurden. Theophanu muss das Brüsseler Elfenbein auf dem Deckel eines anderen Evangelienbuchs ken-nengelernt haben.57 Die für die Äbtissin arbeitenden Künstler haben dann wohlkalku-liert die Selbstbezüglichkeit des Buchdeckels gestärkt – die Gottesmutter als Quasi-Autorin, der Himmelfahrende als derjenige, der durch die Schrift in den Himmel eingeht.58 Noch die auffällige Entkleidung des Gekreuzigten, der auf der Brüsseler Tafel eine Tunika, im Essener Elfenbein dagegen nur ein perizonium trägt, passt zu dieser Strategie: die Entblößung des Christuskörpers, die diesen in eine prekäre Nähe zu den beiden Schächern geraten lässt, bekräftigt die Macht des Buches, die Fleisch-werdung des verbum immer wieder neu Realität werden zu lassen.59

Im Verhältnis der beiden Elfenbeinreliefs können wir einen ganz anderen, nah-sichtigen Blick auf die Bucheinbände greifen, der dem kennerschaftlichen Sehen der Kunstwissenschaft verwandt erscheint. Dass dieser Blick von Künstlern und Bestel-lern regelmäßig geübt wurde, kann durch zahlreiche subtile Bezugnahmen unter den Prachthandschriften wie unter den Werken der Schatzkunst generell als hinlänglich gesichert gelten. Eine solch eingehende Betrachtung gehörte zur Produktion der Prachthandschriften, sie stand außerhalb der Rituale, für welche die Bücher bestimmt

(fraglos nicht sehr weit zurückreichende) Provenienz der Brüsseler Platte, die 1865 aus einer Kölner Sammlung (der Kollektion Essingh) angekauft wurde, könnte darauf hindeuten, dass diese bereits im Mittelalter in Köln verwahrt wurde.

55 In der Apocalypsis Pauli befinden sich am Himmelstor zwei beschriftete goldene Säulen, in deren Schäfte die Namen der Gerechten eingetragen sind. Nur diejenigen, deren Namen dort geschrieben stehen, dürften das Himmelstor passieren. Vgl. Koep 1952, 76.

56 Vgl. Steenbock 1965, 153; Canossa 1077 2006, 382 (Theo Jülich).

57 Mehrere Bohrlöcher im Rahmen dürften von der Befestigung auf einem Buchdeckel stammen.

Wegen der vier Evangelisten kommt nur ein Evangelien- oder Perikopenbuch in Frage.

58 Dazu kommt ein weiteres Detail: die Evangelisten der Brüsseler Platte schreiben auf Tafeln, die im Essener Elfenbein durch Kodizes ersetzt wurden.

59 Vgl. Ganz 2012.

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waren. Ihr eigentliches Ziel war es, ein fein gesponnenes Netz aus Buch elementen und Buchverweisen um den Kodex zu legen, welcher die Abschrift des Evangeliars mit anderen, unsichtbaren Büchern kommunizieren ließ: mit den Ur-Schriften der Evan-gelien, mit dem verbum, das Fleisch geworden war, mit dem lebendigen Wort Christi, der im Himmel über das Schicksal der Menschheit Buch führt. Die vertikale Achse, die über die Elfenbeintafel hinweg von unten nach oben führt, ist eine Achse der Jen-seitshoffnung qua Buch: sie markiert jenen geheimen Kanal der Kommunikation, der das Buch in der Hand der Stifterin mit dem Buch des thronenden Himmelsherrschers verbindet. Von diesem, als Buch des Lebens verstanden, erhoffte sich Theophanu zweifellos, dass darin ihr Name geschrieben stehe. Wenn die Äbtissin diesen in die Abb. 10: Elfenbeinplatte mit Geburt Christi, Kreuzigung, Christi Himmelfahrt und den vier Evangelis-ten, um 1030. Brüssel, Musée d’Art et d’Histoire, Inv. Nr. 1483

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Tafel des pleonarius einritzen ließ – eine Technik, die nur an dieser Stelle verwendet wird –, dann sollte dies nicht nur die Memoria Theophanus innerhalb des Konvents dauerhaft gewährleisten, sondern auch den Eintrag ins himmlische Buch des Lebens sicherstellen.60

7 Kommunikation sichtbarer und verborgener