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Offene Forschungsfragen in der Domäne des Leistungssports

1.5 Offene Forschungsfragen in der Domäne des Leistungssports

die 2 × 2 Rahmenkonzeption kompetenzbezogener Ziele im Wettkampf- bzw. Leistungssport untersucht wurde. Jedoch war nicht nur im ambitionierten Wettkampfsport Forschungsbedarf hinsichtlich der jüngsten Elliotschen Konzeptionen zu sehen, sondern überhaupt im Bereich sportlicher Leistung („… the value of the expanded 2 × 2 model in sport and exercise contexts remains a relativly open empirical question, …“, Elliot & Conroy, 2005, S. 21). Letztlich wurde auch von Biddle, Wang, Chatzisarantis et al. (2003) gefordert, dass Antezedenzien und Konse-quenzen von Zielorientierungen im Bereich sportlicher Leistung elaborierter untersucht werden sollten („A more fine-grained analysis of the antecedents and consequences of goal orientations in sport and physical activities should ensure.“ S. 987). Im deutschsprachigen Raum ließen sich weder allgemein im sportlichen Sektor noch im akademischen Bereich Forschungsarbeiten re-cherchieren, die sich mit dem 2 × 2 Modell von Elliot auseinandergesetzt haben. Insgesamt wird an diesen Fakten ersichtlich, dass ein entsprechender Forschungsbedarf existierte (und weiter besteht). Dieser Sachverhalt bildete letztendlich den Anlass, den zentralen Rahmen der vorliegen-den Arbeit dem Konzept der 2 × 2 kompetenzbezogenen Ziele im Kontext des hierarchischen Modells der Annäherungs- und Vermeidungsleistungsmotivation (sensu Elliot) zu widmen.

◘ Subjektive Theorien/Kausalitätsüberzeugungen

In der vorliegenden Arbeit stehen interindividuelle Unterschiede bezüglich der subjektiven Theorien/Kausalitätsüberzeugungen in Bezug auf sportliche Leistungsfähigkeit im Blickpunkt.

Allgemeine Entwicklungstendenzen dieser Konzepte sollen nicht betrachtet werden. Einschlägige Befunde haben gezeigt, dass Kinder erst mit ca. 11 bis 12 Jahren in der Lage sind, die Konzepte Fähigkeit, Zufall und Anstrengung im Sportbereich systematisch und logisch stringent zu diffe-renzieren (Fry, 2000, 2001). Demzufolge wird im Rahmen der folgenden theoretischen Erörte-rungen vorausgesetzt, dass diese Abstraktionsfähigkeit vorliegt und nur noch individuelle Unter-schiede relevant sind (somit wurden auch bei der empirischen Überprüfung nur Sportschüler bzw. Sportler befragt, die mindestens 12 Jahre alt waren). Zur damaligen Konzeption der vorlie-genden Arbeit hatten Biddle, Wang, Chatzisarantis et al. (2003) gerade eine Studie veröffentlicht, im Rahmen derer die Autoren ein verbessertes Fragebogeninstrument zur Erfassung der Verän-derbarkeits- bzw. Unveränderbarkeitsüberzeugungen hinsichtlich sportlicher Fähigkeit (CNAAQ-2) vorstellten (siehe Abschnitt 1.2.4, S. 10(CNAAQ-2). Jedoch wurden diese subjektiven Überzeugungen im Zusammenhang mit dem dichotomen Zielorientierungsmodell von Nicholls untersucht. Entspre-chende Studien, bei denen Zusammenhänge zum 2 × 2 Modell kompetenzbezogener Ziele eru-iert wurden, ließen sich nicht recherchieren, was entsprechenden Forschungsbedarf signaliseru-ierte.

Weiterhin ist zur Untersuchung von Biddle, Wang, Chatzisarantis et al. (2003) festzuhalten, dass die entsprechenden Überzeugungen an englischen Schülern untersucht wurden und demzufolge nicht mit einer Untersuchungspopulation von ambitionierten Wettkampfsportlern oder Leis-tungssportlern gleichgesetzt werden kann. Dass sich Kausalitätsüberzeugungen von hochbegab-ten/hochleistenden Schülern von durchschnittlich begabten Schülern für eine Leistungsdomäne systematisch unterscheiden können, war beispielsweise im Kontext der Studie von Skinner, Schindler et al. (1990) zu verzeichnen. Demzufolge könnten die subjektiven Überzeugungen im Rahmen des CNAAQ-2 für jugendliche Leistungssportler differenzierter ausfallen, als für Schüler im Allgemeinen. Eine entsprechende Untersuchung, im Rahmen derer die strukturelle bzw. fakto-rielle Invarianz des CNAAQ-2 für Stichproben mit unterschiedlicher sportlicher Leistungsfähig-keit geprüft wurde, ließ sich nicht auffinden. Weiterhin waren im deutschsprachigen Bereich keine Studien zu recherchieren, bei denen der CNAAQ oder der CNAAQ-2 appliziert wurde. Wie be-reits angesprochen, hatte Buff (2004) zeigen können, dass es nicht belanglos ist, welche Refe-renznorm bei der Erfassung von subjektiven Leistungstheorien zum Einsatz kommt. Im Rahmen des CNAAQ-2 werden die jeweiligen Kausalitätsüberzeugungen mit Bezug auf die Allgemeinheit erfasst. Fraglich ist nun, ob sich systematische Unterschiede ergeben, wenn stattdessen beim CNAAQ-2 die eigene Person als Referenznorm verwendet wird. In dieser Hinsicht ließen sich keine relevanten Studien auffinden. Insgesamt wurde an dieser Sachlage offensichtlich, dass so-wohl hinsichtlich der Kausalitätsüberzeugungen selbst als auch in Bezug auf die Beziehungen zu den 2 × 2 kompetenzbezogenen Zielen Forschungslücken existierten (und bis dato noch nicht vollständig geschlossen sind).

◘ Annäherungs- und Vermeidungstemperament

Wie im Abschnitt 1.3 (S. 106) dargelegt wurde, konstituiere sich gemäß der theoretischen Vorstellungen von Elliot das Annäherungstemperament aus einem gemeinsamen Kern von BAS, PA und Extraversion und das Vermeidungstemperament werde durch die gemeinsame Basis von BIS, NA und Neurotizismus repräsentiert. Die jeweiligen Temperamente seien als „neurobiologi-sche Sensitivitäten“ für positive bzw. negative Stimuli aufzufassen, die von relativ hoher Erblich-keit, zeitlicher Stabilität über die Lebensspanne und von einer Domänenunabhängigkeit geprägt seien (Elliot & Pekrun, 2007, S. 59 f.). Demzufolge können beide Temperamente als stabile Per-sönlichkeitscharakteristiken aufgefasst werden. Nun stellt sich die Frage, ob und wie sich diese Temperamente auf leistungsthematische Konstrukte (z. B. kompetenzbezogene Ziele) und auf

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Zusammenhänge explizit eruiert wurden, waren nicht zu recherchieren, obwohl derartige For-schungsfragen bereits bei Browne und Mahoney (1984, S. 609) skizziert werden. Wie Conzelmann und Müller (2005) darlegen, gibt es im Rahmen der Sportpsychologie seit langem Bestrebungen, bestimmte Persönlichkeitsmuster von Sportlern/Leistungssportlern herauszustel-len, jedoch mit unterschiedlichen kausalen Annahmen (das Sporttreiben prägt die Persönlichkeit vs. die Persönlichkeit prägt das Sporttreiben). Entsprechende Forschungen haben bislang keine eindeutigen Ergebnismuster gezeigt. Demzufolge bietet die Temperamentskonzeption von Elliot eine neue Möglichkeit der „alten Frage“ nachzugehen, ob persönliche Dispositionen das Sport-treiben und die damit verbundene sportliche Expertise beeinflussen.

◘ Fähigkeitsselbstkonzepte

In der vorliegenden Arbeit werden speziell bezugsnormspezifische Fähigkeitsselbstkonzepte betrachtet, die von Dickhäuser et al. (2002) bzw. Schöne et al. (2002) vorgestellt wurden (vgl. Ab-schnitt 1.4.1, S. 120 ff.). Im Rahmen der Sportpsychologie sind hauptsächlich einschlägige In-strumente entwickelt worden, die das physische Selbstkonzept erheben sollen, wofür in der Ver-gangenheit recht unterschiedliche Begrifflichkeiten benutzt wurden (siehe dazu Stiller, Würth &

Alfermann, 2004, S. 243, Tabelle 1). Vereinzelt liegen auch Studien hinsichtlich des globalen Selbstkonzeptes vor (z. B. Heim, 1998). In Bezug auf ein Resümee hinsichtlich der sportpsycho-logischen Forschungen zum (Fähigkeits-)Selbstkonzept fordern Stiller und Alfermann (2005, S.

124) diesbezüglich theoretisch stringent hergeleitete Messverfahren. Bezugsnormorientierte Fä-higkeitsselbstkonzepte können diese Forderung erfüllen, jedoch fehlen bislang entsprechende Untersuchungen für den Bereich sportlicher Leistung. Weil bei der 2 × 2 Konzeption kompe-tenzbezogener Ziele sowohl intraindividuelle als auch interindividuelle (soziale) Vergleiche Rele-vanz besitzen, sind aus theoretischer Perspektive besonders die Zusammenhänge zum individuel-len sowie zum soziaindividuel-len Fähigkeitsselbstkonzept interessant. In dieser Hinsicht war ebenfalls Forschungsbedarf zu konstatieren.

Anhand der vergangenen Ausführungen sollte ersichtlich geworden sein, dass rein auf diffe-rential-psychologischer Konstruktebene Forschungsbedarf besteht, der entsprechende empiri-sche Untersuchungen im Sportbereich rechtfertigt. Im Folgenden soll auch unter einer sportpsy-chologisch-anwendungsorientierten Perspektive herausgestellt werden, dass zu diesen inhaltlichen Themen im Leistungssportbereich weitere Forschungsergebnisse notwendig sind. Diesbezüglich wird nur ein kleiner Ausschnitt von möglichen praxisrelevanten Fragen aufgeworfen.

Potentielle Fragen aus der Praxis des Leistungssports an die Psychologie bzw. Sportpsychologie

◘ Ist die globale Zielausrichtung, im Vergleich zu den eigenen Vorleistungen besser zu sein, für Leistungssportler förderlich?

Gemäß der Nichollschen Zielorientierungstheorie entspricht dieses Ziel der Aufgabenorien-tierung. Wie Biddle, Wang, Kavussanu et al. (2003, S. 12) feststellen, lassen sich für die Aufga-benorientierung fast ausschließlich „erwünschte“ (adaptive) Beziehungsmuster finden. Gemäß der Elliotschen Taxonomie fällt dieses Ziel in die MAP-Kategorie. Elliot und Conroy (2005, S.

20) verbinden mit dieser Zielkategorie ebenfalls nur positive bzw. adaptive Effekte, was im aka-demischen Bereich empirisch bestätigt werden konnte (Moller & Elliot, 2006). Demzufolge ist aufgrund der empirischen Forschungslage, die oben gestellte Frage im Allgemeinen mit einem

„Ja“ zu beantworten. Jedoch ließe sich auch argumentieren, dass sich junge Leistungssportler bei zu starker Fokussierung auf individuelle Leistungsfortschritte mental weniger mit der sportlichen Wettbewerbssituation auseinandersetzen, was langfristig gesehen negative Konsequenzen für das Betätigungsfeld des aktiven Leistungssports mit sich bringen könnte (zu dieser speziellen Prob-lematik liegen keine empirischen Befunde vor).

◘ Ist die globale Zielausrichtung, im Vergleich zu den eigenen Vorleistungen nicht schlechter zu sein, für Leistungssportler förderlich?

Nicholls hat in seiner Zielorientierungskonzeption Vermeidungsziele nicht explizit themati-siert, so dass sich aus den entsprechenden theoretischen Vorstellungen keine Vorhersagen ablei-ten lassen. Gemäß der 2 × 2 Konzeption von Elliot ist dieses kompeablei-tenzbezogene Ziel in die MAV-Kategorie einzuordnen. Conroy und Elliot (2004) konnten für den Bereich des Freizeit-sports belegen, dass sich MAV-Ziele durch die „Furcht vor Misserfolg“ vorhersagen lassen (und nicht umgekehrt). Demzufolge werden mit diesem Ziel maladaptive Effekte verknüpft, was im Kontext des akademischen Sektors empirische Bestätigung fand (Moller & Elliot, 2006). Jedoch halten es Elliot und Conroy (2005, S. 20) für möglich, dass beispielsweise perfektionistisch veran-lagte Athleten oder verletzte Sportler derartige Ziele aufweisen. Es ist dann von der entsprechen-den individuellen Selbstregulation abhängig, ob aus MAV-Zielen negative Konsequenzen hervor-gehen. Wenn im Vorfeld prophylaktische Maßnahmen getroffen werden und im eigentlichen Leistungsvollzug dieses Ziel keine Rolle spielt, lassen sich positive Effekte vermuten. Falls jedoch während der Leistungserbringung MAV-Ziele salient sind, dann ist mit steigender Nervosität (Konzentrationseinschränkung) zu rechnen, so dass die Leistungsergebnisse negativ beeinflusst

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werden. Insgesamt lässt sich die oben gestellte Frage nur mutmaßlich mit einem „eher Nein“

beantworten, weil diesbezüglich kaum empirische Befunde vorliegen.

◘ Ist die globale Zielausrichtung, anderen in der Leistung überlegen zu sein, für Leistungs-sportler förderlich?

Nach Nicholls entspricht dieses Ziel der Ichorientierung, deren Effekte als zwiespältig ein-geschätzt werden (Elliot & Conroy, 2005, S. 22). Beispielsweise zeigen Befunde, dass mit einer hohen Ichorientierung unsportliches Verhalten und zweifelhafte moralische Einstellungen zum Sport verbunden sind. Weiterhin ist unklar, ob die Ichorientierung mit adaptiven leistungsbezo-genen Strategien assoziiert ist (Biddle, Wang, Kavussanu et al., 2003, S. 12 f.). Demzufolge lässt sich die Frage anhand der Nichollschen Theorie bzw. der einschlägigen Befunde weder mit „Ja“

noch mit „Nein“ beantworten. Gemäß der theoretischen Konzeption von Elliot, gehört das oben genannte Ziel in die PAP-Kategorie. Elliot und Conroy (2005, S. 23) scheinen in Bezug auf den Wettkampfsport nicht sicher zu sein, ob mit PAP-Zielen theoretisch positive oder negative Pro-zesse verbunden sind. Einerseits lässt sich annehmen, dass PAP-Ziele durch den inhärenten Cha-rakter des Wettkampfsports situativ so dominant sind, dass individuelle Unterschiede hinsichtlich dieser Zielkategorie nicht zum Tragen kommen. Infolgedessen würden nur individuelle Unter-schiede hinsichtlich der MAP-Ziele Relevanz bezüglich der Leistungen besitzen. Andererseits ließe sich argumentieren, dass interindividuelle Vergleiche das Wesen des ambitionierten Wett-kampfsports abbilden, wodurch PAP-Ziele einen adaptiven Charakter erhalten („context-goal match hypothesis“) und MAP-Ziele somit weniger bedeutungsvoll sind. Dass PAP-Ziele in eher leistungsbezogenen Kontexten positive Leistungen zur Folge haben (im Vergleich zu eher lernbe-zogenen Kontexten), konnte für den akademischen Bereich herausgestellt werden (Elliot & Mol-ler, 2003). Somit kann die oben gestellte Frage auch nicht aus der theoretischen Perspektive von Elliot eindeutig beantwortet werden (entsprechende empirische Befunde fehlen noch).

◘ Ist die globale Zielausrichtung, nicht als Schlechtester abzuschneiden, für Leistungssportler förderlich?

Wie bereits weiter oben erwähnt, hatte Nicholls Vermeidungsziele nicht explizit in seiner Zielorientierungskonzeption aufgegriffen, so dass aus dieser einschlägigen theoretischen Perspek-tive die Frage nicht beantwortet werden kann. Im Sinne der 2 × 2 Konzeption von Elliot fällt dieses Ziel in die PAV-Kategorie. Für den akademischen Bereich wurden für PAV-Ziele

haupt-sächlich negative bzw. maladaptive Zusammenhänge zu leistungsrelevanten Variablen registriert (Finney, Pieper & Barron, 2004, S. 378; Moller & Elliot, 2006). Elliot und Conroy (2005, S. 23) stellen für PAV-Ziele im Wettkampfsport heraus, dass theoretisch positive und negative Bezie-hungen zu leistungsbezogenen Indikatoren konstruierbar sind. Beispielsweise ist es für Novizen in einer entsprechenden Leistungsklasse (für ein gewisses Stadium) schon ein Erfolg, nicht als Schlechteste abgeschnitten zu haben, so dass eine PAV-Zielstellung adaptiv erscheint. Weiterhin mag sich selbst bei favorisierten Sportlern weniger Erfolgsdruck (Nervosität) aufbauen, wenn sie mit der Zielstellung, „Hauptsache nicht Letzter werden“ (PAV-Ziel), an den Start gehen, im Ver-gleich zu dem Ziel, als bester Akteur abschneiden zu wollen (PAP-Ziel). Somit lassen sich für den Leistungssportbereich Szenarien konstruieren, die PAV-Zielen einen anscheinend funktionalen Charakter geben. Auf der anderen Seite sind mit einer Vermeidungsregulation eine Reduzierung von positiver Affektivität und intrinsischer Motivation verbunden, was langfristig negative Kon-sequenzen zur Folge haben sollte (Elliot & Conroy, 2005, S. 23). Somit kann die oben gestellte Frage nur mutmaßlich mit einem „eher Nein“ beantwortet werden, weil diesbezüglich keine si-chere empirische Befundlage existiert.

◘ Ist es für Leistungssportler förderlich, wenn sie aus subjektiver Sicht dem Talent eine hohe Bedeutung hinsichtlich sportlicher Leistungsfähigkeit beimessen?

Wenn im Kontext des Leistungssports von Talentsichtungen und Talentförderungen die Re-de ist, erwecken diese Bestrebungen bei allen Beteiligten Re-den Eindruck eines normalen und ob-jektiven Vorgehens. Falls jedoch genauer rekapituliert wird, was hinter dem theoretischen Kon-zept des sportlichen Talentes liegt, fallen die entsprechenden Vorstellungen weniger einheitlich bzw. vage aus. Dieser Sachverhalt ist nicht nur bei sportlichen Laien, sondern auch im Rahmen der Sportwissenschaften zu finden (Joch, 1998, 2001). Die Ambiguität des Talentkonzeptes ist auch darauf zurückzuführen, dass einerseits damit eine aktuelle überdurchschnittliche Leistungs-fähigkeit assoziiert wird (ein Status) und andererseits zukünftig enorme Leistungssteigerungen erwartet werden (eine Entwicklung), sofern gute Förderbedingungen existieren. Talent beinhaltet demnach sowohl einen dispositionalen Aspekt, der als genetisch bedingt und somit nicht verän-derbar angesehen wird, als auch einen durch die Lebensumwelt prägbaren (veränverän-derbaren) As-pekt. Demzufolge kann die eigene Talententwicklung bis zu einem gewissen Ausmaß durch be-stimmte Rahmenbedingungen selbst beeinflusst werden, wodurch dieser Prozess als subjektiv kontrollierbar erlebt werden kann (was letztendlich aber auch von den Leistungsfortschritten

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sich als zweischneidiges Schwert betrachten. Falls Leistungssteigerungen ausbleiben und best-mögliche sportliche Rahmenbedingungen bestehen, liegt der subjektive Schluss nahe, dass das eigene Talent nicht ausreichend ist, um Spitzensport zu betreiben (was als unkontrollierbar erlebt wird und zum Rückzug aus dem Leistungssport führen kann). Bei dieser Konstellation würden die „Talentsüberzeugung“ und die „Stabilitätsüberzeugung“ (^ die sportliche Fähigkeit kann kaum verändert werden) sehr ähnlich ausfallen, was von Biddle, Wang, Chatzisarantis et al. (2003) für Schüler in Bezug auf sportliche Leistung festgestellt wurde (Stabilitäts- und Talentsüberzeu-gung konstituieren sich aus einem gemeinsamen Sekundärfaktor – der „Unveränderbarkeitsüber-zeugung“). Wenn sich jedoch Leistungssportler in ihrer Leistungsklasse behaupten können, erle-ben sie Leistungsfortschritte und letztlich ihre Leistungsentwicklung als kontrollierbar bzw.

veränderbar. Folglich sollten sie mit dem Begriff Talent auch veränderbare Aspekte assoziieren (z. B. das Lernen für sportlichen Erfolg wichtig ist), was konträr zu einer Stabilitätsüberzeugung steht, bzw. nicht vereinbar mit einer übergeordneten Unveränderbarkeitsüberzeugung ist. Ähnlich interpretierbare Ergebnisse berichten Duda und White (1992), danach sind Elitesportler der Ü-berzeugung, dass sowohl Lernen/Anstrengung als auch Talent für sportlichen Erfolg wichtig sind. Beide Überzeugungen waren positiv mit der Aufgabenorientierung assoziiert. In diesem Zu-sammenhang hat eine Talentsüberzeugung positive Konsequenzen. Insgesamt stellt sich demnach die Frage, ob die Überzeugung, dass Talent für sportlichen Erfolg wichtig ist, positive oder nega-tive Konsequenzen im aknega-tiven Leistungssport nach sich zieht. Einschlägige empirische Studien ließen sich zu diesem Thema nicht ermitteln.

◘ Unterscheiden Leistungssportler für sich persönlich zwischen einem individuellen und sozia-len Fähigkeitsselbstkonzept hinsichtlich ihrer Hauptsportart?

Wie bereits besprochen wurde, existiert innerhalb der Sportpsychologie ein beträchtliches Ausmaß an Forschungen zum (Fähigkeits-)Selbstkonzept (Stiller & Alfermann, 2005). Im Rah-men dieser Untersuchungen ist jedoch der jeweiligen Bezugsnorm explizit weniger Aufmerksam-keit geschenkt worden. Wie im Kontext der allgemeinen Entwicklungspsychologie gezeigt werden konnte, entwickelt sich ontogenetisch zuerst die individuelle Bno und später die koexistente so-ziale Bno. Holodynski und Oerter (2002, S. 571) gehen davon aus, dass beide Bezugsnormen im weiteren Entwicklungsverlauf durch eine individuelle Synthese zu einem Fähigkeitsselbstkonzept führen. Empirische Untersuchungen hatten jedoch gezeigt, dass sich mindestens zwei bezugs-normorientierte Fähigkeitsselbstkonzepte im akademischen Bereich differenzieren lassen (z. B.

Sparfeldt et al., 2003). Fraglich ist nun, ob Leistungssportler zwei eigenständige

bezugsnormori-entierte Fähigkeitsselbstkonzepte bezüglich ihrer Hauptsportart aufweisen: ein individuelles sowie ein soziales Fähigkeitsselbstkonzept. Falls ja, welche Konsequenzen und Ansatzpunkte ergeben sich daraus für Leistungssportler? Einschlägige empirische Untersuchungen waren nicht zu re-cherchieren.

◘ Ist es sinnvoll, bei Talentsichtungen das generelle Annäherungs- und Vermeidungstempera-ment zu erheben bzw. zu berücksichtigen?

Bislang konnten im Rahmen sportpsychologischer Forschungen keine globalen Persönlich-keitseigenschaften oder Temperamentsmerkmale herausgestellt werden, welche generelle Einflüs-se auf die sportliche Leistungsfähigkeit ausüben würden. Aufgrund der Sportartenvielfalt und der damit verbundenen differentiellen Anforderungen an Sportler ist Skepsis geboten, dass derartige Zusammenhänge überhaupt aufzufinden sind. Beispielsweise werden von Mannschaftssportlern (insbesondere von Spielführern) mehr sozial-interaktive Fertigkeiten verlangt, als von Individual-sportlern. Selbst wenn nur Individualsportarten betrachtet werden, ist es ein Unterschied, ob sportliche „Gegner“ direkt bezwungen werden müssen (wie z. B. beim Boxen) oder ob die jewei-ligen Konkurrenten durch die erbrachte Leistung indirekt übertroffen werden müssen (wie z. B.

beim Sportschießen). Demzufolge durfte man aus anwendungsbezogener Sicht gespannt sein, welche Befunde durch die theoretische Verankerung der vorliegenden Arbeit zu dieser Fragestel-lung erarbeitet werden konnten.

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