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le Deutsche schwer zu ertragen, er wirft Schat-ten über die eigene Familiengeschichte. In der Studie „Opa war kein Nazi“ zeigt Harald Wel-zer, dass über drei Generationen hinweg die Be-schönigungen nicht etwa ab-, sondern zunah-men. War die Elterngeneration schon nicht im Bilde über die Beteiligung der Großeltern, wur-de die Familiengeschichte in wur-der Enkelgenerati-on noch einmal verzerrt.6

Die Vermeidung der Auseinandersetzung mit den Täter*innen steht im Gegensatz zu der verbreiteten Vorstellung, dass die 68er das Schweigen ihrer Eltern konfrontiert, sie zur Rede gestellt hätten. Insbesondere zur Wiederverei-nigung wurde diese Erzählung Teil einer staats-tragenden Politik, die der Welt ein geläutertes Deutschland präsentieren wollte. Diese

Vorstel-6 Vgl. Welzer u.a., Opa war kein Nazi.

Mahnmale, Gedenkstätten, Orte der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus.

© (v.l.) Eybe + Eybe; Beate Ney-Janßen; Nikodem Nijaki / Wikimedia;

Yonatan Sindel / Flash90; A. Leschek / Wikimedia; Guido Ostermann.

lung hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede 1985 programmatisch eingeprägt: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Der Satz stammt von Baal Schem Tov, dem Gründer des Chassidis-mus. Vollständig heißt er: „Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.” Gemeint ist also ein religiöses Er-innern an das Heilige Land und den zerstörten Tempel. Die Übertragung auf die deutsche Er-innerungskultur ist falsch, denn die Erinnerung an die Opfer wird niemanden erlösen.

Die Selbsterlösung der Deutschen lässt sich empirisch kaum belegen. Vielmehr herrschten das Schweigen, die Dethematisierung vor. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nationalsozialisti-sche und antisemitinationalsozialisti-sche Ressentiments mit die-ser hartnäckig schweigenden Generation ver-graben worden wären. Im Gegenteil: Wie der

Historiker Werner Bergmann beobachtete, ent-stand dadurch der sogenannte „sekundäre An-tisemitismus“ (2010). Die Juden werden hier nicht trotz, sondern wegen Auschwitz gehasst.

Es handelt sich um eine transformierte Form der Judenfeindschaft, die aus der Diskrepanz zwi-schen dem Wunsch zu vergessen bzw. nicht er-innert zu werden und der beständigen Konfron-tation mit den deutschen Verbrechen entsteht.

Mit dieser Analyse soll die in den letzten Jahr-zehnten geleistete Erinnerungsarbeit nicht ab-gewertet werden. Es soll aber reflektiert und diskutiert werden, wo die Leerstellen der Erinne-rungsarbeit liegen. Bei aller Kritik sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass derzeit die Stim-men lauter werden, die selbst diese ritualisier-ten Formen des Gedenkens abschaffen wollen.

Geschichtsrevisionismus

„Hitler und die Nationalsozialisten sind nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deut-scher Geschichte“, sagte der damalige AfD-Bundessprecher Alexander Gauland. Der thü-ringische AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke sagte: „Wir sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz sei-ner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Mit solchen Grenzverletzungen kämpft die Neue Rechte ihren Kampf um kulturelle Hegemonie – und die Deutungshoheit über die jüngere Geschich-te. Im Grundsatzprogramm der AfD heißt es:

„Die aktuelle Verengung der deutschen

Erinne-rungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbe-trachtung aufzubrechen, die auch die positi-ven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Ge-schichte mit umfasst.“7 Die zitierte Stelle enthält verknappt mehrere Elemente, die typisch sind für die geschichtspolitischen Vorstellungen der AfD: Es wird eine vermeintliche Verengung der Erinnerungskultur auf die NS-Zeit behauptet und kritisiert. Diese Form der Auseinanderset-zung, heißt es, sei nicht „identitätsstiftend“, hierfür wäre die Betonung anderer Epochen der deutschen Geschichte dienlich. Der Nati-onalsozialismus wird aber zugleich ex negativo als ein nicht positiver „Aspekt“ der deutschen Geschichte gefasst, also nicht verherrlicht, aber relativiert.

Man muss dafür aber nicht nach ganz rechts blicken. Die verbreitete Erzählung von den „bei-den deutschen Diktaturen“ stellt ebenfalls eine Verharmlosung des Nationalsozialismus dar – ebenso wie die heute maßgebliche Erzählung, der Fall der Berliner Mauer habe zu Freudentau-mel und einer neuen Brüderlichkeit geführt. Die mit der Wende verbundenen Ausbrüche von rechter und neonazistischer Gewalt gegen je-ne, die von der neuen „Einheit“ ausgeschlossen waren, bleiben unerwähnt. Auch der Bezug auf die „heldenhaft kämpfenden“ deutschen Sol-daten in zwei Weltkriegen, wie beispielsweise beim Volkstrauertag, ist ein Ausdruck der Ge-schichtsverharmlosung.

7 AfD 2016, 48.

© Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft”

auch darin herauszufinden, welche Bedeutung diese Welt- und Selbstsicht hat – gerade für Ju-gendliche.

Diesen Stimmen entgegentreten kann nur, wer heute gegen Antisemitismus und Rassismus kämpft. Wenn seitens der völkischen Rechten die Täter-Opfer-Umkehr bedient wird, wenn be-hauptet wird, die Deutschen würden heute un-ter dem Vorwurf einer kollektiven Schuld leiden, dann ist das sozusagen eine vorausgeschickte Entschuldigung: Ihre Schuld besteht eben nicht darin, dass ihre Eltern oder Großeltern Nazis wa-ren, sondern dass sie heute rassistische und an-tisemitische Ideologie verbreiten.

Um die Ideologie der Volksgemeinschaft heute zu kritisieren, bedarf es der Analyse der Leerstellen unserer Erinnerungskultur. Die Idee einer moralisch geläuterten Bundesrepublik gibt heute denjenigen Auftrieb, welche die Rückkehr zur Größenfantasie der Volksgemeinschaft pre-digen. Es gilt immer wieder danach zu fragen, was allzu bequeme Formen des Gedenkens so attraktiv macht. Eine zeitgemäße Erinnerungs-arbeit darf es sich nicht gemütlich einrichten in der „Erfolgsgeschichte“ der vergangenen vier-zig Jahre. Sie muss sich den Brüchen, Widersprü-chen und Abwehrmechanismen offen stellen.

Mit dem wachsenden zeitlichen Abstand und der zunehmenden Heterogenität der bun-desdeutschen Gesellschaft wird Geschichte nur dann relevant bleiben, wenn sie zu aktuellen Er-eignissen ins Verhältnis gesetzt wird. Im Zent-rum der Auseinandersetzung mit der Geschich-Geschichtsrevisionismus ist auch

kein neues Phänomen: Rufe nach einem Schlussstrich sind nur unwesentlich jün-ger als die NS-Zeit selbst. Mit dem Er-starken rechtspopulistischer Kräfte in den vergangenen Jahren und dem Ein-zug der AfD in den Bundestag werden geschichtsrevisionistische Positionen auch in der Öffentlichkeit zunehmend prominenter geäußert – und über Talk-shows und soziale Medien an ein Milli-onenpublikum verbreitet.

Eine wichtige Antriebskraft hinter der Verbreitung von völkischer und ge-schichtsrevisionistischer Ideologie ist seit ihrer Gründung 2017 die AfD-nahe De-siderius-Erasmus-Stiftung. Die ehemali-ge CDU-Bundestagsabehemali-geordneten Erika Steinbach, die den Vorsitz der Stiftung innehat, schrieb in Dezember 2018 auf Twitter: „Kinder von AfD-Mitgliedern sind die neuen ,Judenkinder‘“. Stein-bach inszeniert sich und ihre Glaubens-genossen gerne als Opfer – und ver-harmlost dabei die Ermordung 1,5 Millionen jüdischer Kinder während der Shoa.

Der Vorsitzende des Kuratoriums der Stif-tung, der Investmentberater Max Otte, beklag-te nach den rassistischen und antisemitischen Ausschreitungen in Chemnitz die „offizielle Ver-folgung“ von, wie er es nennt, „politisch An-dersdenkenden“. Der rechte Mob, der in Chem-nitz auf die Jagd nach Flüchtlingen gegangen ist und das jüdische Restaurant Schalom demoliert hat, wird von Otte als Opfer der Merkelregie-rung und der Lügenpresse dargestellt. Ein klas-sisches Beispiel für Täter-Opfer-Umkehr.

Im Geschichtsrevisionismus lebt auch das an-tisemitische Ressentiment weiter. Dabei werden Jüd*innen nicht direkt benannt, sondern codiert, mit Begriffen wie etwa „Kosmopoliten“ oder

„Finanzelite“. Sie sollen der Gegensatz zu hei-matverbundenen Deutschen sein. Der Autor Jo-nas Fedders sieht, dass für die Neue Rechte das Judentum „in der Sezession für Universalismus, Kosmopolitismus und Modernität steht“, und deshalb von der „intellektuellen“ Neuen Rech-ten als Bedrohung für die „deutsche Identität“

wahrgenommen wird. Nicht, weil Juden eine an-dere, konkurrierende Identität hätten, sondern weil ihre Nicht-Identität das Konzept ethnischer Identität schlechthin aufzulösen drohe.8

Unsere Herausforderung besteht nicht nur in der Aufklärung über Geschichte und der Rich-tigstellung der historischen Fakten. Sie besteht

8 Vgl. Fedders, Antisemitismus in der Neuen Rechten.

Gedenkstätte zur Erinnerung an die 1938 niedergebrannte Synagoge in Freiburg.

Die bronzene Gedenktafel vorne links zu Füßen der beiden jungen Männer ist kaum sichtbar.

© Markus Wolter / Wikimedia

Bergmann, Werner: Sekundärer Antisemitismus, in:

Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitis-mus, Judenfeindschaft in Geschichte und Gegen-wart (3), Berlin 2010, 300-302

Fedders, Jonas: Antisemitismus in der Neuen Rech-ten – (k)ein Problem?, in: Gegneranalyse, Zent-rum für die liberale Moderne, Berlin 2019 Hilberg, Raul: Die Quellen des Holocaust.

Entschlüs-seln und Interpretieren, Frankfurt am Main 2009 Mendel, Meron / Messerschmidt, Astrid (Hg.): Fragi-ler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft, Frankfurt am Main 2002

Röderer, Joachim: Freiburgs neue Mitte: Der Platz der Alten Synagoge ist freigegeben, in: Badische Zeitung, Freiburg 2017

Schäfer, Franz-Martin / Schmidt, Andreas: Vielfalt Wirkt! Report über wirkungsvolles zivilgesell-schaftliches Engagement gegen Rechts, in: Phi-neo, Berlin 2013

Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karo-line: „Opa war kein Nazi”. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002

Zick, Andreas u.a.: Multidimensionaler Erinnerungs-monitor (MEMO) Studie III, in: Institut für inter-disziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG).

Bielefeld 2020 te soll die Frage stehen, wie vor etwa hundert

Jahren eine moderne westliche Gesellschaft sich in kürzester Zeit in eine radikale Ausgrenzungs-gesellschaft verwandeln konnte. Auch heute ha-ben wir es mit einem rapiden gesellschaftlichen Wertewandel zu tun. Auch 1933 hielten es die meisten Bürger*innen für völlig undenkbar, dass nur wenige Jahre später die Jüd*innen nicht nur ihrer Rechte beraubt, sondern zur Tötung ab-transportiert würden.

Auch wenn kein zweiter Holocaust bevor-steht, sollen wir uns diese Frage erlauben: Was kann, was wird passieren, was wir heute noch

für undenkbar halten? ◆

Literatur

Alternative für Deutschland: Programm für Deutschland, Das Grundsatzprogramm für Al-ternative für Deutschland, Stuttgart 2016 Assmann, Aleida: Weltmeister im Erinnern? Über

das Unbehagen an der Deutschen Erinnerungs-kultur, in: Vorgänge, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik (51) 2012, 24-32 Adorno, Theodor W: Erziehung nach Auschwitz, in:

Kadelbach, Gerd (Hg.): Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969, Frankfurt am Main 1970, 92–109

DR. MERON MENDEL ist Erziehungs wissen-schaftler, Historiker und seit 2010 Direktor der Bildungs stätte Anne Frank in Frankfurt und Kassel.

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