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4. Namen als geistige Räume

»Es wird zu wenig beachtet, daß nur ein genialer Dichter die Fähigkeit besitzt, seine Geschöpfe mit Namen auszustatten, in denen diese Geschöpfe ihren Ausdruck finden, die ihnen ganz entsprechen. Der Name muß die Gestalt sein. Ein Dichter, der das nicht weiß, weiß gar nichts.«124

Auffällig ist die Häufung der Eigennamen, die sowohl den gesamten Gedichtzyklus als auch einzelne Gedichte betiteln (Pierrot lunaire, III. Pierrot Dandy, IX. Pierrot polaire, X. À Colombine, XI. Arlequin, XIV. Pierrot voleur). Auch innerhalb der Gedichte werden verschiedene Figuren der Commedia dell'arte mithilfe von Eigennamen evoziert und es wird auf andere, bekannte Künstler verwiesen. Dies wirft die Frage auf, ob Giraud mit Hilfe der Eigennamen eine bestimmte Absicht verfolgt. Diese Frage soll im Folgenden behandelt werden.

»Namen sind Schall und Rauch«....

... doch die Namen, die Giraud im ersten Gedicht aufblitzen lässt (Breughel, Shakspeare [sic], Watteau), verweisen alle sowohl auf vergangene Kunstwerke, die unsterblich geworden sind als auch auf ihre durch sie unsterblich gewordenen Urheber. Indem Giraud diese Namen in den Text einwebt, weckt er Assoziationen, die, je nach Kenntnisstand des Lesers um ihre eigentliche Bedeutung, zur Entfaltung zusammengefalteter geistiger Zentren führen können; ein Vorgang, den Pawel Florenski (1882-1937) in seiner Abhandlung über Namen beschreibt. Es kommt dabei zu 125 126

Florenski, Pawel (1994): Namen. Übersetzt von Fritz Mierau. Berlin: KONTEXTverlag, S.9

124

Eine ausführliche Darstellung seines vielfältigen Lebens findet sich unter:

125

KONTEXTverlag (o.A.): »pawel florenski. biographie.«

URL: http://www.kontextverlag.de/florenskij.biographie.html Florenski (1994), S. 22-24

126

einer Art Überhöhung der Textaussage, denn »ein künstlerischer Typ verdichtet die Wahrnehmung und ist daher wahrhaftiger als die Lebenswahrheit und wirklicher als die Wirklichkeit selbst.« Werden künstlerische Typen durch ihre Namen versinnbildlicht, 127 so gehorchen die Namen im Kunstwerk derselben inneren Notwendigkeit wie die Gestalten, die diese Namen tragen, denn diese Gestalten sind »entfaltete Namen«. 128

Die zitierten Namen, die als Geistiges aus dem Kunstwerk aufscheinen, deuten auf 129 den Geist hin, der Girauds Gedichtzyklus durchwirkt. Breughel als Vertreter der grotesken Malerei, Shakespeare als Theaterautor und Watteau als Maler des Pierrot, dit Gilles, weisen allesamt auf verschiedene ausgestaltete Elemente des Gedichtzyklus' hin (das Groteske, das Theater und die Hauptfigur des Pierrot).

Während die Rolle von Breughel und Watteau in Bezug auf den Pierrot lunaire in den vorherigen Kapiteln schon beschrieben worden ist (Breughel stellt die Verbindung zur Groteske her, Watteau sieht in Pierrot einen Künstlerstellvertreter), stellt sich noch die Frage, warum eigentlich Shakespeare erwähnt wird. Von den vielen theatralischen Elementen, die den Gedichtzyklus durchziehen einmal abgesehen, ist es vermutlich vor allem Shakespeares Rolle als Erneurer, die damit angedeutet werden soll. Laut Viala 130 wurde Shakespeare in Frankreich lange ignoriert, jedenfalls weder gespielt noch übersetzt. Er wurde im 18. Jahrhundert, insbesondere durch Voltaires Englandreisen, für Frankreich entdeckt. Allerdings wurde er lange missachtet, da er sich nicht an die Regel der Einheiten hielt. Auch wenn er seine ernsten Werke Tragödien nannte, so sieht man darin doch Dramen. Sie behandeln historische Themen und verweisen nicht auf die Antike. Um die Realität adäquat darstellen zu können, werden also die Regeln abgelehnt. Diese Freiheiten legitimierten die damaligen Darsteller und Urheber von Melodramen, sich ebenfalls über die geltenden Regeln hinwegzusetzen. Indem Giraud auf Shakespeare verweist, möchte er vermutlich darauf hinweisen, dass er sich auch für

Florenski (1994), S. 21

127

Florenski (1994), S. 22

128

Vgl. in Kapitel II das Geistige des Kunstwerks nach Adorno.

129

Viala (2005), S. 83/84

130

seinen eigenen Gedichtzyklus von den Freiheiten seines Vorgängers hat inspirieren lassen.

Das häufige Benennen und Rufen Pierrots innerhalb des Gedichtzyklus eröffnet einen weiteren geistigen Raum, nämlich denjenigen der zahlreichen Darstellungen des Pierrot.

Pierrot muss, als künstlerische Gestalt und als Träger eines jahrhundertealten Namens, einer inneren Notwendigkeit folgen, nämlich der Notwendigkeit, die über die Jahrhunderte herausgearbeiteten unzähligen Charakteristika der Figur zu übernehmen.

Dadurch kommt es im Grunde zu einer Verkehrung, denn nicht mehr der Name bezeichnet eine Figur, sondern die Figur als künstlerische Gestalt wird zu einer Zwischenstufe »der Selbstoffenbarung der Namen im Raum des Kunstwerks«. 131

Pierrot ist in Girauds Gedichtzyklus aber nicht nur eine künstlerische Gestalt, sondern er wird zum Träger verschiedener Gestalten. die Notwendigkeit seines Namens löst sich 132 dadurch auf und der Name »Pierrot« offenbart sich in seiner Funktion als dienendes Element, das sich erst mithilfe eines Adjektivs oder eines zusätzlichen Nomen zu einem vollständigen Eigennamen entwickelt, der dann eine bestimmte Figur in einer bestimmten Situation bezeichnet (z.B.: Pierrot Dandy, Pierrot polaire, Pierrot voleur, Pierrot cruel). Dass der Name des Pierrot ein dienender Name ist, liegt vermutlich auch in der Tatsache begründet, dass Pierrot in der Commedia dell'arte ursprünglich als Diener in Erscheinung trat. Der Name zeigt also »die Persönlichkeit in der größten 133 Verallgemeinerung, dabei aber ihren individuellen Typ bewahrend, ohne den sie nicht sie selbst wäre« und wird dadurch über die Jahrhunderte hinweg schließlich bei 134 Giraud von der Bezeichnung eines Dieners selbst zum Dienenden.

Florenski (1994), S. 23

131

Florenski (1994), S. 22

132

Vgl. Kapitel III.1.

133

Florenski (1994), S. 69

134

Im folgenden wird aufgezeigt, inwiefern sich der Name des »Pierrot« bereits vor seiner Charakterisierung als ›lunaire‹ auf das Wesen des Ephemeren stützt und dieses transportiert.

Florenski vertritt die Ansicht, dass man vom Namen auch wie von einem Leib, zum Beispiel vom menschlichen Leib, sprechen kann. Der Name »Pierrot«, der eine Figur 135 der Commedia dell'arte bezeichnet, belegt diese Ansicht, da er in erster Linie auf einen quasi stimmlosen Körper verweist, der sich ausschliesslich in der Pantomime oder als Pantomimenzitat entfalten kann. Gleichzeitig ist, laut Florenski, »die künstlerische Darstellung von Typen im Wort (...) eine sprachliche Verdichtung von Intuition.« Die 136 verdichtete Intuition zielt hier aber in eine ganz bestimmte Richtung, denn Pierrot wird in dem Gedichtzyklus häufig benannt, so als müsste er durch ständiges Rufen davor bewahrt werden, dem Zugriff durch den Leser zu entgleiten:

»Es erscheint um so dringender geboten, den Namen zu nennen, mehrfach manchmal und mit Nachdruck, wenn wir sehen, daß ein Mensch sich von uns entfernt, die objektive Welt verläßt, beziehungsweise den Teil von ihr, in dem wir uns befinden, und sich in sich verschließt: Zerstreutheit, Schläfrigkeit, Rausch, Übelkeit, Schlaf, Ohnmacht, Verlust des Bewußtseins - ganz besonders Lethargie und schließlich der Tod - veranlassen die Anwesenden, den Sichentfernenden mit Namen zu rufen. (...) In manchen Fällen wird Bewußtlosigkeit, mitunter sogar unverkennbarer Wahnsinn, plötzlich aufgehoben durch ein ständiges Erinnern an den Namen oder die Aufforderung, sich seines Namens zu entsinnen.« 137

Florenskis Auflistung aller möglichen Gefahren, die einem im Leben zustossen können, erinnern dabei unmittelbar an diverse Szenen des Gedichtzyklus'. Das Benennen Pierrots versucht also, ihn im Raum des Kunstwerks zu verfestigen.

Bedenkt man, dass das französische Adjektiv ›lunaire‹ nicht nur ›mondverbunden‹,

›mondförmig‹ oder ›dem Monde ähnlich‹ (dies z.B. durch eine ähnlich blasse Klarheit oder einen ähnlich irrealen Charakter), sondern auch ›träumerisch‹ und ›extravagant‹

Florenski (1994), S. 25

135

Florenski (1994), S. 71

136

Florenski (1994), S. 65

137

heißt, so befindet sich der Pierrot lunaire ständig auf der Schwelle vom Wachen zum 138 Träumen, einer Schwelle, die einerseits nicht greifbar ist, die andererseits aber auch den Zugang zu anderen Ebenen eröffnet. Dadurch kann dieses vagierende Dasein als Ephemeres mithilfe des Namens in den Gedichtzyklus hineintransportiert werden, denn

»dieser eine Name [der Eigenname], der alle anderen stützt, stützt sich seinerseits nicht auf einen Namen, sondern auf das Wesen selbst.« 139

Der Raum des literarischen Kunstwerks, also auch Girauds Gedichtzyklus, ist nach Florenski ein »komplizierte[s] System sich gegenseitig stützender Benennungen«, wird durch »ein Letztes (...) oder ein letztes System« als Ganzes beherrscht und von diesem letzten System mit »der Energie des geistigen Wesens« gespeist und belebt. Dieses 140 letzte System ist der Dichter. Pierrot selber wird aber oft als Allegorie des Dichters bezeichnet.

In der Doppelfunktion einer Figur im Text und einer Allegorie des Dichters offenbart sich jetzt, inwiefern der Name »Pierrot« das Ephemere transportieren kann. Das Kunstwerk selber kann sich erst entfalten, wenn der Künstler sich dem Kunstwerk entzieht. Es ist nicht der Name des Dichters Giraud, der dem Kunstwerk den Rahmen gibt, sondern es ist der Name seiner Figur »Pierrot«, der, selbst nach seinem Selbstmord (Gedicht XVIII) Pierrot bleibt, während der Dichter, außerhalb des Kunstwerks zwar noch lebendig, im Gedicht selber aber zusammen mit anderen Schicksalsgenossen, namenlos am Kreuz hängt (in XXX.: »Les beaux vers sont de larges croix / Où saignent les rouges poètes«).

Pierrot als Allegorie des Dichters ist aber der andere Teil des Pierrot, der Teil, der nicht bleiben will, der sich dem Gedicht entziehen will durch Rausch, Traum, Tod, der also nicht nur fliehen will, sondern der nur flüchtig das Allegorische aufscheinen lässt durch Handlungsweisen, die ihn in ephemere Bewusstseinszustände versetzen oder ihm ganz

»lunaire«, in: Dictionnaire de français Larousse

138

URL: http://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/lunaire/48066 Florenski (1994), S. 24

139

Florenski (1994), S. 24

140

das Leben entziehen. Pierrot als Allegorie transportiert also das Ephemere, indem er den Vorgang des »Zur-Allegorie-Werdens« kurz aber kaum greifbar Aufscheinen lässt, denn in dem Moment, in dem die Allegorie verständlich wird, hat sich ihr Werden schon wieder verflüchtigt.