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IV. Otto Erich Hartlebens Übersetzung des Pierrot Lunaire

1. Die Aufgabe des Übersetzers nach Walter Benjamin

1. Die Aufgabe des Übersetzers nach Walter Benjamin

»Übersetzbarkeit eignet gewissen Werken wesentlich - das heißt nicht, ihre Übersetzung ist wesentlich für sie selbst, sondern will besagen, daß eine bestimmte Bedeutung, die den Originalen innewohnt, sich in ihrer Übersetzbarkeit äußere.« 158

Inwiefern sich die Bedeutung gewisser Werke in ihrer Übersetzbarkeit äußert, soll im folgenden mithilfe von Walter Benjamins Aufsatz über die Aufgabe des Übersetzers dargestellt werden. Die Gegenüberstellung einzelner Gedichte Girauds mit ihren jeweiligen Übersetzungen von Otto Erich Hartleben (1864-1905) wird in einem zweiten Schritt bestimmte Prozesse aufzeigen, die das Geistige des Übersetzungsvorganges aufscheinen lassen und die mithilfe von Benjamins Theorie eingeordnet werden können.

Die Übersetzung gilt den Lesern, die der Sprache des Originals nicht mächtig sind. Man könnte deswegen vermuten, dass der Rangunterschied zwischen der Kunst des Dichtens und derjenigen der Übersetzung bereits durch diesen Sachverhalt geklärt ist. Trotzdem stellt sich die Frage, was eine Dichtung eigentlich ›sagt‹, denn ihr »Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage«. Das Wesentliche einer Dichtung bleibt auch trotz 159 einer Übersetzung und bereits im Original das »Unfaßbare, Geheimnisvolle,

›Dichterische‹«. Insofern kann nach Benjamin die Übersetzbarkeit sprachlicher 160 Gebilde auch dann erwogen werden, wenn sie sich für die Menschen nicht übersetzen lassen. 161

Benjamin, Walter (1955): »Die Aufgabe des Übersetzers«. In: Illuminationen. Ausgewählte

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Schriften. 2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 345), S. 51

Benjamin (1955), S. 50

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Benjamin (1955), S. 50

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Benjamin (1955), S. 51

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Das Verhältnis zwischen Original und Übersetzung kann dabei analog zu einer Unmöglichkeit der Abbildtheorie gesehen werden. Die Übersetzung geht aus dem 162

›Überleben‹ des Originals hervor, ist aber nicht möglich, solange sie versucht, dem 163 Original ihrem letzten Wesen nach zu entsprechen, denn das Original selber ändert sich in seinem Fortleben, indem sich das in ihm Lebendige wandelt und erneuert. Die Tendenz der dichterischen Sprache eines Autors kann sich später verflüchtigt haben, um Raum zu geben für neue, dem Geformten immanente Tendenzen, die sich aus ihm herauskristallisieren lassen. 164

Sollte sich ein sprachliches Gebilde nicht für die Menschen übersetzen lassen, stellt sich die Frage nach der eigentlichen Zweckmässigkeit einer solchen Übersetzung. Laut Benjamin besteht die Zweckmässigkeit der Übersetzung darin, dass sie »den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander« darstellt. Herstellbar ist dieses verborgene Verhältnis durch die Übersetzung nicht, aber durch die Verwirklichung dieses Verhältnisses kann es dargestellt werden. 165

Diese überhistorische Verwandtschaft der Sprachen beruht darin, »daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar dasselbe gemeint ist, das dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache. Während nämlich alle einzelnen Elemente, die Wörter, Sätze, Zusammenhänge von fremden Sprachen sich ausschließen, ergänzen diese Sprachen sich in ihren Intentionen selbst.« 166

Dass die einzelnen Elemente der verschiedenen Sprachen sich ausschließen, liegt daran, dass sie sich in einem ständigen Wandel befinden. Nicht nur die großen Dichtungen verändern sich im Laufe der Jahrhunderte in Ton und Bedeutung sondern auch die

Benjamin (1955), S. 53

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Benjamin (1955), S. 51

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Benjamin (1955), S. 53

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Benjamin (1955), S. 52/53

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Muttersprache des Übersetzers durchlebt stetige Veränderungen. So kommt es, dass 167 das Gemeinte in den einzelnen Sprachen niemals, wie bei einzelnen Wörtern oder Sätzen, in relativer Selbständigkeit anzutreffen ist, sondern dass es sich solange wandelt, »bis es aus der Harmonie all jener Arten des Meinens als die reine Sprache herauszutreten vermag. So lange bleibt es in den Sprachen verborgen.« Diese reine 168 Sprache kann aber auch als Sprache der Wahrheit bezeichnet werden, »in welcher die letzten Geheimnisse, um die alles Denken sich müht, spannungslos und selbst schweigend aufbewahrt sind.« 169

Aus diesen Überlegungen heraus lässt sich die Aufgabe des Übersetzers von derjenigen des Dichters abgrenzen und in ihrer Eigenheit erfassen. Nach Benjamin folgt der Dichter einer naiven, ersten, anschaulichen Intention, während diejenige des Übersetzers als abgeleitet und ideenhaft bezeichnet werden kann. Trotzdem scheint 170 die Aufgabe des Übersetzers, die laut Benjamin darin besteht, »den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen« , nicht lösbar, denn das übersetzte, einzelne Wort »kann 171 fast nie den Sinn voll wiedergeben, den es im Original hat.« Dieser Sinn erschöpft 172 sich nämlich nicht in dem Gemeinten, sondern wird dadurch bestimmt, inwiefern »das Gemeinte an die Art des Meinens in dem bestimmten Worte gebunden ist« . Daraus 173 ergibt sich, dass sich in jeder Sprache sowie in ihren jeweiligen Gebilden neben dem Mitteilbaren noch ein Nicht-Mitteilbares befindet, ein, je nach Zusammenhang,

»Symbolisierendes oder Symbolisiertes« . 174

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Solange die reine Sprache an Sprachlichem sowie dessen Wandlungen geknüpft ist, bleibt sie symbolisierend. Zum Symbolisierten wird sie erst dank der Übersetzung, die die reine Sprache von den sprachlichen Gebilden löst, um sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie »nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches Wort das in allen Sprachen Gemeinte ist.« Auf 175 diese Weise erlöschen Mitteilung, Sinn und Intention, die allesamt von sprachlichen 176 Gebilden abhängig sind.

Übersetzungen als solche erweisen sich allerdings nach Benjamin als unübersetzbar, da der Sinn nur flüchtig an ihnen haftet. Dass der Sinn nur flüchtig an ihnen haftet, liegt 177 darin begründet, dass die Übersetzung das Original nur flüchtig am »unendlich kleinen Punkte des Sinnes« berührt, um dann »nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der 178 Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.« Das Original allerdings ist dann 179 übersetzbar, wenn der Text »in seiner Wörtlichkeit der wahren Sprache, der Wahrheit oder der Lehre angehört.« Dies gilt für alle großen Schriften, die in sich und zwischen 180 den Zeilen bereits ihre Übersetzung enthalten, insbesondere aber auch für die heiligen Texte. So kann man mit Benjamin sagen, daß »die Interlinearversion des heiligen Textes (...) das Urbild oder Ideal aller Übersetzung« ist. 181

Benjamin (1955), S. 60

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Benjamin (1955), S. 62

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