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4.6   Komplementarität und Konkurrenz

4.6.1   Morphologie und Phonologie

Ein wesentlicher Faktor für die Distribution von Phrase und Kompositum stellen die morphologischen Beschränkungen, denen die Erstgliedposition im A+N-Kom-positum unterworfen ist, dar (vgl. Kap. 4.1).

Erstglied eines A+N-Kompositums können im Deutschen in erster Linie nur monomorphemische Adjektive sein. Regelhafte Ausnahmen sind komplexe (Rela-tions-)Adjektive mit den nicht-nativen Suffixen -al, -ar/är, -iv und einige Adjektiv-derivate (u.a. mit den Suffixen -ig, -fach, -los wie in Billigimport, Mehrfachimpf-stoff, Endlosschleife). Die Beschränkungen im Niederländischen sind wesentlich stärker, da Adjektive mit nicht-nativen Suffixen nicht zulässig sind (vgl. *sociaal-beleid, *nationaalgevoelens). Polymorphemische Adjektive sind in beiden Spra-chen weitgehend von der Komposition ausgeschlossen, allerdings wird durch einige Autoren (u.a. Willems 1990; Ortner/Müller-Bollhagen 1991: 10, Schlücker 2012: 10 f.) angenommen, dass es im Deutschen zu einer zunehmenden Locke-rung dieser Restriktion kommt, vgl. Ad-hoc-Bildungen wie Schnörkellos-Sieg oder Grünlich-Card. Aufgrund der geschilderten Bildungsbeschränkungen können Phrasenbildungen und auch andere Wortbildungen in zutreffenden Fällen bevor-zugt werden. Kompositionsunfähige Relationsadjektive ohne eines der genann-ten Suffixe können beispielsweise durch ihre nominale Derivationsbasis ersetzt werden (z.B. finanzielle Hilfe – Finanzhilfe – *Finanziellhilfe).

Während Simoska (1999) für das Nomen keinerlei morphologische Beschrän-kungen annimmt, nennt Barz (1996) die morphologische Struktur des Nomens als einen Faktor, der zu einer geringeren Produktivität der Komposition führe:

Viele deverbale Nomenderivate würden zwar Rektionskomposita mit einem No-men als Erstglied bilden, nicht aber A+N-Komposita (z.B. Beschreibung, Besitzer).

Für das Niederländische wurde ursprünglich angenommen, dass het-Nomen be-sonders produktiv in der A+N-Komposition sein würden (vgl. van der Sijs 2005:

265), was Theissen (1975: 201) nach einer ausführlichen empirischen Untersu-chung aber verneint.

Die in der Literatur für das Deutsche mehrmals herausgestellte phonologi-sche Beschränkung, wonach nur einsilbige Adjektive oder Adjektive mit einer unbetonten Endsilbe als Erstglied zulässig seien (vgl. z.B. Erben 2006: 46 f.), entspricht wie oben bereits gezeigt nicht der Realität. Im Niederländischen fällt auf, dass drei- und mehrsilbige Adjektive nicht in A+N-Komposita vorzukommen scheinen (vgl. die Beispiele in (54)). Es ist allerdings nicht deutlich, ob dies eine strukturelle Beschränkung ist oder nur zur Gebrauchsnorm gehört.

4.6.2  Syntax

Barz (1996) zufolge treten Adjektive mit geringem Kollokationspotenzial nicht oder nur selten als Erstglied im Kompositum auf. So komme das Adjektiv brav nicht in Komposita vor und bilde auch nur wenige Kollokationen (braves Mäd-chen, braver Bürger). Allerdings lasse sich daraus nicht schließen, dass ein Adjek-tiv kein großes Kollokationspotenzial habe. Beispielsweise sei hell selten Erst-glied eines A+N-Kompositums, bilde aber viele Kollokationen: helles Licht, helle Freude, helle Aufregung, helles Holz etc. Tatsächlich verzeichnet der Duden Online (2012) nur Hellstrom (wohl ein Fachterminus der Elektrotechnik) und Hellsicht, das diachron durchaus als Rückbildung aus hellsichtig entstanden sein könnte (Formen wie Hellseher werden hier zu den Phrasenderivaten gezählt und nicht berücksichtigt). Dieser Zusammenhang scheint insofern konsequent, als dass eine theoretische Möglichkeit zur Entstehung morphologischer Benennungsein-heiten darin bestehen könnte, dass Kollokationen von Adjektiv und Nomen, die zunehmend eine gesamtheitliche Semantik entwickeln, ab einem bestimmten Moment durch ein Kompositum ersetzt werden können (dieses könnte im Fall von fremde Sprache – Fremdsprache geschehen sein, vgl. Kap. 5.7). Unterhalten Adjektive keinerlei Verknüpfungspräferenzen zu Nomen, fällt diese Möglichkeit von vorneherein weg.

4.6.3  Semantik

Neben den morphologischen Beschränkungen, die die Produktivität der A+N-Komposition begrenzen, spielt auch die Semantik eine wesentliche Rolle bei der Distribution von Phrasen und Komposita. In Kapitel 4.3 wurde bereits bespro-chen, dass indirekte Modifikationsrelationen Schlücker (2014) zufolge bei Phra-sen vergleichsweise selten vorkommen. Daneben sind auch andere Aspekte rele-vant. So können nach Barz (1996) bei polysemen Adjektiven Einzelbedeutungen in unterschiedlichen Distributionen auftreten und damit Einfluss auf die

Rea-lisierung als Phrase oder Kompositum nehmen. So trete das deutsche Adjektiv falsch in der Bedeutung ‘moralisch unangemessen, unangebracht’ nur in Phra-sen, die Bedeutung ‘nicht richtig’ jedoch sowohl in Phrase als auch Komposi-tum auf.

Eine weitere, noch grundlegendere Beschränkung betrifft den semantischen Grundtyp der A+N-Verbindung. Landsbergen (2009: 53–57) zeigt, dass unterschied-liche semantische Klassen von A+N-Verbindungen, die er als endozentrisch, exo-zentrisch und metonymisch bezeichnet, auch unterschiedliche formale Realisie-rungspräferenzen haben. Unter endozentrischen Bildungen versteht Landsbergen Verbindungen, bei denen zwar das Nomen als Kopf der Bildung das Konzept bezeichnet, das auch der Verbindung als Ganzes zugrunde liegt, in denen das Adjektiv aber zusätzliche Bedeutungsmerkmale erhalte. So sei ein sneltrein

‘Schnellzug’ nicht nur schnell, sondern habe noch weitere Merkmale (hält nicht an jedem Bahnhof etc.). Zu den endozentrischen Verbindungen rechnet Lands-bergen auch Beispiele wie heilige koe ‘Auto’ (wörtl. ‘heilige Kuh’) und koude dou-che ‘Ernüchterung’ (wörtl. ‘kalte Dusdou-che’), da sie in ihrer wörtlidou-chen Bedeutung endozentrisch seien. Eine formale Präferenz ist laut Landsbergen bei endozentri-schen Bildungen nicht ohne Weiteres erkennbar, sowohl Phrasen als auch Kom-posita würden gebildet. Zu den exozentrischen Bildungen zählt er Verbindungen, deren Bedeutung vollständig undurchsichtig sei. Weder der Bezug zum Gesamt-denotat der Verbindung, noch die Bedeutungsrelation zwischen Adjektiv und Nomen sei transparent. Als Beispiele nennt Landsbergen linke soep ‘riskante Angelegenheit’ (wörtl. ‘riskante Suppe’) und blauwe maandag ‘kurze Zeitdauer’

(wörtl. ‘blauer Montag’). Bei den exozentrischen Verbindungen liege die Präfe-renz eindeutig bei Phrasen. Metonymisch seien schließlich Verbindungen wie dwarskop ‘Sturkopf’, deren Kopf zwar ebenfalls semantisch opak, deren Bedeu-tung aber trotzdem nicht völlig unvorhersagbar sei, da die Verbindungen immer auf Personen mit einer spezifischen Eigenschaft, die durch die A+N-Verbindung genannt werde, verweisen würden. Derlei Verbindungen sind laut Landsbergen in der Regel Komposita.

Landsbergen verweist meines Erachtens auf interessante Zusammenhänge, seine Klassifikation wird daher in abgewandelter Form hier weitergeführt. Aller-dings ist sie an mehreren Stellen zu kritisieren. Zum einen ist die Terminologie unglücklich, da der Begriff ‘exocentric’ in der Forschungsliteratur oft (und viel-leicht zu Unrecht, vgl. Booij 2002b: 143) auf Bildungen wie bleekgezicht ‘Bleich-gesicht’ oder roodborstje ‘Rotkehlchen’ angewandt wird, die er selbst als meto-nymisch beschreibt. Zum anderen ist auch die Klassifikation einzelner Beispiele nicht nachzuvollziehen. So wird heilige koe als endozentrisch eingestuft, weil die Bildung in ihrer wörtlichen Bedeutung endozentrisch sei. Hingegen gelte für linke soep oder blauwe maandag, dass sie „do not mean anything“ (Landsbergen 2009:

53). Diese Bildungen sind für den gegenwartssprachlichen Sprecher sicher stärker idiomatisiert als heilige koe, weil die Beziehung zwischen Adjektiv und Nomen undurchsichtig ist. Trotzdem ist ihre Gesamtbedeutung im Gegensatz zu der von sneltrein oder volle melk ‘Vollmilch’ nicht ohne Weiteres auf das durch das Nomen bezeichnete Konzept zurückzuführen. Ebenso ist zweifelhaft, ob es in einer Be-zeichnung wie sneltrein tatsächlich das Adjektiv ist, das eine semantische Spe-zialisierung aufweist und für weitere Merkmale wie ‘hält nicht an jedem Bahnhof’

verantwortlich ist (diese Ansicht scheint Landsbergen zu vertreten, vgl. 2009: 53).

Es ist eher die gesamte Einheit sneltrein, die diese zusätzlichen Bedeutungsmerk-male trägt. Aufgrund dieser Probleme wird der Großteil der von Landsbergen endo-zentrisch genannten Bildungen hier als klassifikatorische Verbindungen erfasst, wenn sie eine Subklasse des Konzepts bezeichnen, das durch das Nomen genannt wird. Darunter fallen Verbindungen wie sneltrein oder volle melk, nicht aber hei-lige koe oder koude douche. Letztere gehören zusammen mit Bildungen wie linke soep, blauwe maandag zu den metaphorischen Verbindungen, da sie keine Sub-klasse des durch das Nomen bezeichneten Konzepts bilden, sondern auf einer metaphorischen Bedeutungsübertragung beruhen. Eine letzte Gruppe stellen die auch von Landsbergen als metonymisch bezeichneten Verbindungen dar, die auf Kontiguitätsrelationen beruhen, vgl. NL dwarskop ‘Trotzkopf’.

Wesentlich ist nun, dass bei den metaphorischen und metonymischen Ver-bindungen sehr deutliche Bildungspräferenzen bestehen. Metaphorische Verbin-dungen werden in der Regel syntaktisch, metonymische VerbinVerbin-dungen als Kom-posita versprachlicht. Das gilt nicht nur für das Deutsche, sondern auch für das Niederländische (vgl. Landsbergen 2009: 55–57). Zwar können gelegentlich auch Komposita eine metaphorische Bedeutung haben, z.B. NL geelbal ‘Kartoffelsorte’

(wörtl. ‘gelb’+‘Ball’), oder etablierte Phrasen eine metonymische Interpretation wie etwa DE heller Kopf ‘schlaue Person’ tragen. Dabei handelt es sich aber nicht um ein produktives Muster.

Die Abgrenzung dieser drei Typen ist für die Frage nach Konkurrenz und Komplementarität beider Benennungsstrategien essenziell. Andernfalls entsteht schnell der Eindruck des Unsystematischen. So nennt Donalies (2008: 315) als Beispiel für benennende A+N-Phrasen süßes Leben, freie Wahl, flüssiges Brot und stellt fest, dass die entsprechenden Komposita *Süßleben, *Freiwahl, *Flüssigbrot nicht existierten, „selbst wenn es durchaus etablierte Komposita mit genau den-selben Adjektiven gibt: Süßkartoffel, Freistunde, Flüssiggas“. Zumindest aber für flüssiges Brot erscheint die Realisierung als Phrase nach den obigen Erläuterun-gen selbstverständlich, da es sich um eine metaphorische Verbindung (mit der Bedeutung ‘Bier’) handelt.