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Komposition und Phrasenbildung als konkurrierende Schemata

Die in Kapitel 4.1–4.4 erfolgte Beschreibung soll im Folgenden konstruktions-grammatisch modelliert werden, wobei hier der Vergleich zwischen dem Deut-schen und dem NiederländiDeut-schen im Vordergrund steht. Für ausführliche Mo-dellierungen in morphosyntaktischer bzw. semantischer Hinsicht sei auf die Arbeiten von Booij (2010) und Schlücker (2014) verwiesen. Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich ausschließlich auf klassifikatorische Verbindun-gen, d.h. Subklassenbezeichnungen wie DE Gelbfieber (als eine besondere Art von Fieber) oder NL bittere amandel (‘Bittermandel’), für die ein produktiver Bil-dungsprozess in beiden Sprachen angenommen wird. Für metaphorische Benen-nungseinheiten wie DE schwarzes Gold ‘Erdöl’ oder NL rode draad ‘roter Faden, durchgängige Linie’ wird hingegen kein eigenes produktives Konstruktions-schema angenommen. Erstens haben diese Verbindungen keine klassifikatori-sche Bedeutung, zweitens weisen sie starke idiosynkratiklassifikatori-sche Züge in Bedeutung (Neigung zu starker Bedeutungsspezialisierung) und Form, z.B. in Bezug auf ihre Modifizier- und Gradierbarkeit (vgl. Kap. 4.2), auf. Die Annahme lautet daher, dass metaphorische Verbindungen durch individuelle Lexikalisierungsprozesse entstehen und im Gegensatz zu klassifikatorischen Phrasen nicht als Resultat eines produktiven Bildungsprozesses beschrieben werden können.

Abbildung 4.4 stellt die beiden Schemata dar, mit deren Hilfe Sprecher des Deutschen und Niederländischen produktiv neue klassifikatorische A+N-Benen-nungseinheiten bilden können.

Abb. 4.4: Schemata für die Bildung klassifikatorischer A+N-Benennungseinheiten im Deutschen und Niederländischen

In beiden Sprachen existieren jeweils zwei produktive Konstruktionsmuster, um Adjektiv-Nomen-Verbindungen mit der Funktion, Subklassen zu bezeichnen, zu bilden: die Komposition und die Phrasenbildung. Produktive Verfahren werden in der Konstruktionsgrammatik als Schemata mit offenen Slots modelliert (vgl.

Kap. 3). Gemäß der Annahme, dass Konstruktionen „learned pairings of form with semantic or discourse function“ (Goldberg 2006: 5) sind, haben beide A+N-Schemata jeweils eine Form- (SYN) und eine Bedeutungsseite (SEM).33 Auf der Formseite existiert jeweils ein offener Slot für adjektivische Modifikatoren und nominale Köpfe. Die Gesamtbedeutung einer Verbindung ergibt sich komposi-tional aus den Bedeutungen von Adjektiv und Nomen sowie der syntaktischen Struktur der Verbindung bzw. der Wortbildungsbedeutung. Beide Schemata wei-sen eine zusätzliche klassifikatorische Bedeutung auf, so dass auf diewei-sen Sche-mata basierende Verbindungen Subklassenbezeichnungen darstellen.

Für beide Schemata gilt, dass Adjektiv und Nomen zwingend adjazent auf-treten müssen, was sich aus dem lexikalischen Status der Verbindungen als N0 ergibt. Sie unterscheiden sich jedoch bezüglich der Flexion des Erstgliedes: Wäh-rend in Komposita das Adjektiv in seiner Stammform auftritt und Teil des Wortes ist, bildet das Adjektiv in klassifikatorischen Phrasen eine Adjektivphrase.

Durch Unifikation der Schemata mit lexikalischem Material können Sprecher neue klassifikatorische Einheiten bilden. Für Komposita bestehen morphosyntak-tische Inputbeschränkungen beim Adjektiv, da hier im Gegensatz zu den Phrasen nicht alle Adjektive uneingeschränkt erlaubt sind (vgl. Kap. 4.1). Im Niederländi-schen sind die Inputbeschränkungen für die Komposition wie bereits diskutiert als strikter einzustufen.

Taxonomische und paradigmatische Relationen

In der CM wird das Lexikon in Form von Vererbungshierarchien konzipiert, in der Konstruktionen unterschiedlichster Schematizität über taxonomische und para-digmatische Relationen miteinander verbunden sind. Dabei lassen sich je nach Abstraktionsgrad verschiedene Ebenen von Konstruktionen unterscheiden, in der Terminologie von Traugott/Trousdale (2013: 16) etwa Mikro-Konstruktionen, Subschemata und Schemata. Beispielhaft sei hier die Taxonomie von EN may

33 Konstruktionen werden bei Booij (2010: 6–8) in Anlehnung an Jackendoff (2002) als dreitei-lige Bildungen mit einer phonologischen, einer semantischen und einer syntaktischen Struktur repräsentiert (vgl. auch Abb. 3.1 in Kap. 3); im Folgenden bleibt die phonologische Struktur aller-dings unberücksichtigt.

‘dürfen’, das als Mikro-Konstruktion der Subschema der Modalverben und ferner dem allgemeineren Schema der Hilfsverben untergeordnet ist (vgl. ebd.: 14).

Taxonomien können auf unterschiedlichsten Eigenschaften beruhen, so sind laut Booij (2010: 25–26) neben morphosyntaktischen auch semantische Hierarchien möglich.

Auch für die beiden Schemata aus Abbildung 4.4 gilt, dass sie in ein dichtes Netzwerk von unter- und übergeordneten Konstruktionen eingebunden sind. Da-bei ererben die Schemata einen Teil ihrer Eigenschaften von übergeordneten Konstruktionsschemata für morphologische und phrasale A+N-Verbindungen, vgl. Abbildung 4.5.

Abb. 4.5: Konstruktionshierarchien bei klassifikatorischen A+N-Verbindungen am Beispiel des Deutschen

Abbildung 4.5 stellt eine mögliche Konstruktionshierarchie für klassifikatorische A+N-Verbindungen am Beispiel des Deutschen dar. Klassifikatorische A+N-Kom-posita erben ihre gesamten formalen Eigenschaften vom übergeordneten Kon-struktionsschema der A+N-Komposition. Dazu gehören die strikte Adjazenz von Adjektiv und Nomen und auch die erwähnten Inputbeschränkungen bezüglich des Adjektivs. Die Abgrenzung zum übergeordneten Schema erfolgt durch die klassifikatorische Bedeutung von A+N-Komposita, wie sie in DE Gelbfieber oder NL sneltrein anzutreffen ist, nicht aber z.B. in DE Falschgeld. So sind Gelbfieber und sneltrein Benennungen für bestimmte Subklassen von Fieberkrankheiten bzw.

Zügen, während Falschgeld keine Subklasse von Geld darstellt und ein Beispiel für ein nicht-klassifikatorisches A+N-Kompositum ist.

Im Gegensatz hierzu erben klassifikatorische A+N-Phrasen nur einen Teil ihrer formalen Eigenschaften von der übergeordneten Konstruktion. Vielmehr zeichnen sie sich gegenüber dem allgemeinen Schema der A+N-Phrase durch die strikte Adjazenz zwischen Adjektiv und Nomen, die kein allgemeines Merkmal von Adjektiv-Nomen-Phrasen ist (vgl. saurer Regen – *saurer, kalter Regen ‘Nie-derschlag, der schweflige Säure enthält’), aus. In semantischer Hinsicht grenzen sie sich ebenfalls durch ihre klassifikatorische Bedeutung ab.

Es stellt sich die Frage, auf welchem Wege die hier zentralen A+N-Phrasen und A+N-Komposita diese klassifikatorische Bedeutung erhalten. Denkbar sind zwei Optionen: Zum einen können Konstruktionen in unterschiedlichste Hierarchien eingebunden sein und dementsprechend Eigenschaften von unterschied lichen Schemata erben (vgl. Booij 2010: 25–27). Für die A+N-Schemata ist also denkbar, dass sie ihre klassifikatorische Bedeutung von einer anderen Konstruktion im Lexi-kon erben. Dies setzt allerdings voraus, dass es im LexiLexi-kon auch Konstruktionen geben kann, die keine vollständige Einheit von Form (SYN/PHON) und Bedeu-tung (SEM) darstellen, sondern lediglich eine semantische Struktur (und in diesem Fall genauer: die klassifikatorische Bedeutung) aufweisen, die von den Schemata der klassifikatorischen A+N-Komposition bzw. A+N-Phrasenbildung geerbt wird (ebenso aber auch von anderen nominalen Kompositionsmustern, z.B. N+N- oder V+N-Komposition). Die formalen Eigenschaften erben die A+N-Verbindungen ja be-reits jeweils von einem übergeordneten morphologischen bzw. phrasalen Schema.

Eine zweite Option ist, dass die klassifikatorische Bedeutung beider Sche-mata ursprünglich durch eine Bottom-up-Dynamik entstanden ist, d.h., sie ist das Ergebnis eines Abstraktionsprozesses auf Basis vieler lexikalischer Einheiten, die als Subklassenbezeichnungen verwendet und lexikalisiert wurden. So könnten sich aus einzelnen Mikro-Konstruktionen schrittweise entsprechende klassifika-torische (Sub-)Schemata für die Phrasenbildung und die Komposition entwickelt haben. Diese schrittweise Generalisierung weg von einzelnen lexikalisierten Bil-dungen hin zur Entstehung eines abstrakteren Schemas könnte z.B. analogie-geleitet erfolgt sein. Diese Idee lässt sich gut an der Entstehung des gegenwärtig produktiven, lexikalisch unterspezifizierten Subschemas [XN-gate]N (vgl. Booij 2010: 90) nachvollziehen, das die Bedeutung ‘politischer Skandal in Bezug auf X’ trägt und in seinem Ursprung auf das englische Modellwort Watergate (die Bezeichnung eines (US-)Politskandals in den 1970er Jahren) und auf nach dessen Vorbild geprägte Einzelbildungen zurückgeht. Gegenwärtig handelt es sich um ein sehr produktives Bildungsverfahren in mehreren Sprachen, vgl. die neueren Bildungen EN Obama-gate, NL kippen-gate, DE Schnurr-gate, FR Gayet-gate. Ein ähnlicher Entstehungspfad könnte auch für die klassifikatorischen Schemata der A+N-Verbindungen angenommen werden, wenngleich diese um ein Vielfa-ches abstrakter als das lexikalisch teilspezifizierte Subschema [XN-gate]N sind.

Diese zweite Option kann allerdings nicht erfassen, dass die klassifikatori-sche Bedeutung die Default-Bedeutung der nominalen Komposition ist und nicht nur für A+N-Komposita, sondern auch für andere Formen nominaler Komposita gilt (also N+N, V+N etc.; vgl. Kap. 4.3). Stattdessen müsste angenommen werden, dass jede einzelne Subklasse nominaler Komposita die klassifikatorische Bedeu-tung unabhängig voneinander in einem Bottom-up-Prozess entwickelt hat und diese Parallelität zwischen den verschiedenen Kompositionstypen rein zufälliger Art ist. Daher scheint die erste Option die bessere Wahl zu sein. Allerdings erfor-dert diese, dass die Goldbergsche Definition einer Konstruktion im Sinne eines sprachlichen Zeichens nach De Saussure (vgl. oben) revidiert wird, da Goldberg ausschließlich von Form-Bedeutungspaaren ausgeht, Konstruktionen also immer zugleich Form und Bedeutung haben. Hier bietet eher Jackendoffs ‘Parallel Ar-chitecture’ Anknüpfungspunkte: Er nimmt an, dass Konstruktionen auch „defekt“

sein können, also nicht immer zugleich eine semantische, morphosyntaktische und phonologische Struktur haben müssen (vgl. auch Jackendoff 2002: 180):

[…] meaningful constructions are just one kind of abstract stored structure. The grammar of a language can also contain independent principles of syntactic form […], as well as inde-pendent principles of semantic structure that have no syntactic effect. (Jackendorff 2013: 79)

Unabhängig von dieser Frage handelt es sich bei Abbildung 4.5 zunächst nur um eine erste Annäherung an die anzunehmenden Bildungsschemata für das Deut-sche aus synchroner Sicht und auch Besonderheiten des NiederländiDeut-schen wer-den ausgeblendet. In Kapitel 5 wird argumentiert, dass aufgrund der historischen Daten eine viel differenziertere Aufgliederung der Schemata erforderlich ist und dass es darüber hinaus plausibel ist, für das Niederländische noch ein weiteres Subschema für klassifikatorische A+N-Phrasen anzunehmen, das sich formal durch eine Schwa-Apokope auszeichnet und eine spezielle Semantik aufweist. Es handelt sich dabei um A+N-Bildungen, die mit einem Relationsadjektiv gebildet werden und eine Berufs-/Personenbezeichnung darstellen.

Neben den taxonomischen Relationen zwischen Schemata, Subschemata und Mikro-Konstruktionen spielen auch paradigmatische Relationen zwischen ein-fachen und komplexen Verbindungen im Lexikon eine wichtige Rolle. Konventio-nalisierte, vollständig lexikalische spezifizierte Konstruktionen wie DE Gelbfieber, freier Markt oder NL sneltrein, zure regen sind nicht nur mit den übergeordneten schematischen Konstruktionen verbunden. Vielmehr sind sie zum einen auch mit den lexikalischen Einträgen ihrer Einzelkonstituenten (im Falle von Gelbfie-ber beispielsweise gelb und FieGelbfie-ber) und zum anderen üGelbfie-ber Teilähnlichkeiten mit anderen lexikalischen Einheiten, die die gleiche Adjektiv- oder Nomenkonstitu-ente teilen (z.B. Gelbsucht, Wundfieber), verbunden (vgl. Abbildung 4.6 und 4.7).

(das) süßeAP

Abb. 4.6: Paradigmatische Relationen am Beispiel von DE sauer

dubbelAagentN consulairAPagentN

agentN

normaalAbreedteN normaalAinktN normaalAgewichtN

normaalA

geheimAtipN geheimAtaalN

tipN

goudenAPtipN

stempelNinktinktinktN waterwaterwater inktNinktinktN

Abb. 4.7: Paradigmatische Relationen am Beispiel von NL geheim

Paradigmatische Relationen bestehen sowohl zwischen einfachen als auch kom-plexen Einheiten, die einzelne Konstituenten teilen. In Abbildung 4.6 bzw. 4.7 sind paradigmatische Relationen zwischen A+N-Verbindungen mit derselben

Ad-jektivkonstituente und der gleichen formalen Realisierung beispielhaft durch gestrichelte Linien dargestellt. Wie bereits in Kapitel 3 beschrieben, gibt es für die Existenz paradigmatischer Relationen im mentalen Lexikon eine Reihe psycho-linguistischer Evidenz wie z.B. den ‘family size effect’, der besagt, dass die Typen-frequenz komplexer Bildungen, die eine Konstituente teilen, Einfluss auf die Dauer der Verarbeitung individueller Bildungen hat. In Kapitel 5 bzw. 6 wird deutlich werden, dass paradigmatische Relationen für die Frage der Distribution von A+N-Komposita und A+N-Phrasen historisch eine wichtige Rolle spielen. Taxo-nomische Relationen allein können die historische Entwicklung und Distribution der letzten Jahrhunderte nur unzureichend abbilden.

Zusammenfassend lassen sich klassifikatorische Phrasenbildung und Kom-position als produktive Schemata beschreiben, mit denen Sprecher produktiv neue Benennungseinheiten bilden können. Die Schemata sind dabei auf vielfäl-tige Art und Weise über taxonomische und paradigmatische Relationen im men-talen Lexikon eingebettet. Beide Schemata konkurrieren im Deutschen und im Niederländischen miteinander. Es ist allerdings bisher immer noch nicht deut-lich, wie die in beiden Sprachen vorhandenen Distributionen für den weitaus größten Teil der klassifikatorischen A+N-Verbindungen zustande kommen. Im nächsten Abschnitt werden daher Faktoren vorgestellt, die in der Forschungs-literatur als relevant für die Distribution von Komposition und Phrasenbildung bei der A+N-Benennungsbildung betrachtet wurden.