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Der Spieschen These, daß Joseph Beuys sich auch in seinem Werk an volkskulturellen Traditionen orientierte, wird im folgenden mit einem symbolikonographischen Ansatz nachgegangen. Insbesondere die von Susanne K. Langer eingeführte Begrifflichkeit der diskursiven und sinnlich-präsentativen Symbolik ist dabei ein hilfreiches Konzept, das, bevor genauer auf die sich aus dem symboltheoretischen Zugang ergebenden Fragen im einzelnen eingegangen wird, notwendigerweise zunächst ausführlicher dargelegt werden soll.

Susanne K. Langer geht, von Ernst Cassirer inspiriert, davon aus, daß der Mensch die Wirklichkeit nicht direkt erfassen kann, sondern die Eindrücke, die er mittels seiner Sinne empfängt, kraft seines Geistes in symbolische Formen168 transformiert, in denen die Deutung und Bewältigung seiner Erfahrungen und Eindrücke mit der Welt zum Ausdruck kommt. In Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind einzelne symbolische Formen zu Systemen zusammengefaßt und bilden gemeinsam das symbolische Universum, das der Mensch sich im Zuge der fortschreitenden kulturellen Entwicklung in geistiger Auseinandersetzung mit der Umwelt geschaffen hat. Dieser symbolische Umraum organisiert sowohl die menschlichen Erfahrungen mit der Welt als auch die Erfahrungen mit anderen Menschen; nach Ernst Cassirer gibt es keine Welterfahrung außerhalb der symbolischen Systeme.

Da die verschiedenen Erzeugnisse des symbolbildenden Gehirns wie Sprache, Mythos, Religion in ihrer Wesensart völlig unterschiedlich sind, hat Susanne K. Langer aufbauend auf Ernst Cassirer die strukturelle Logik der einzelnen unterschiedlichen symbolischen Formen analysiert und beschrieben. Sie unterscheidet zwischen verbalen-diskursiven und expressiv-präsentativen symbolischen Formen.

Hauptmerkmal des sprachlichen Symbolismus, der im wesentlichen Worte und Sätze umfaßt, ist nach Susanne K. Langer, daß er die Bedeutungen in sukzessiver Folge darlegt. Diese Eigenschaft des verbalen Symbolismus nennt sie „Diskursivität“169. Der verbale Symbolismus ist Konventionen wie beispielsweise dem festgelegten Wortschatz, einer Grammatik oder einer Syntax unterworfen; er kann vom Empfänger in seinen Bestandteilen auch nur nacheinander aufgenommen werden.

168 Ernst Cassirer definiert das Symbol als energetische Kulturäußerung folgendermaßen: „Unter einer symbolischen Form soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger

Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“, in: Ernst Cassirer: Wesen des Symbolbegriffs. Darmstadt 1965, S. 175.

169 Langer 1965, S. 88.

Erfahrungen und Ideen, die sich nicht der logischen Gesetzmäßigkeit der Sprache fügen, sind zwar unaussprechbar aber nach Susanne K. Langer nicht unsagbar. Ihr Verdienst ist es, daß sie Erfahrungen, die jenseits des Logischen liegen, die „in der Sphäre des Gefühls, der subjektiven Erfahrung, der Emotion des Fühlens und Wünschens“170 angesiedelt sind, ebenfalls Erkenntnisgehalt zugeschrieben hat. Diese kommen nach Susanne K. Langer im präsentativen Symbolismus zum Ausdruck. Unter den Begriff des präsentativen Symbolismus faßt sie Träume, Rituale, Musik und als Sonderfall aller präsentativen Formen die Bildende Kunst. Die präsentativen Formen unterliegen nach Susanne K. Langer ganz anderen Gesetzen als die Sprache. „Der radikalste Unterschied ist der, daß visuelle Formen nicht diskursiv sind. Sie bieten ihre Bestandteile nicht nacheinander, sondern gleichzeitig dar, weshalb die Beziehungen, die eine visuelle Struktur bestimmen, in einem Akt des Sehens erfaßt werden“171. In einem präsentativen Symbol, wie beispielsweise in einem Bild, sind eine Vielzahl von Begriffen in einem einzigen totalen Ausdruck zusammengezogen. Der auf diese Weise „verdichtete“172 Sinn erschließt sich dem Betrachter als Ganzes auf einmal, unmittelbar und kann mit Worten nicht vollständig erfaßt werden. Die Idee in einem Kunstwerk verstehen, so Susanne K. Langer, gleicht daher mehr dem Erleben einer neuen Erfahrung als einem logisch satzmäßigen Verständnis173.

In Übereinstimmung mit dieser von Susanne K. Langer ausführlich dargelegten Erkenntnis, daß ein Kunstwerk letztlich immer mehr ist als die Summe seiner Interpretationen und dieses weniger verstanden als vielmehr sinnlich erlebt werden muß, erhebt auch diese Studie nicht den Anspruch, „die grundsätzliche Wahrheit über Joseph Beuys zu finden“174, sondern versteht sich vielmehr als eine mögliche Annäherung aus wissenschaftlicher Perspektive an sein Werk.

170 Ebenda, S. 93.

171 Ebenda, S. 99.

172 Ebenda, S. 191.

173 Alfred Lorenzer hat die Ergebnisse von Ernst Cassirer und Susanne K. Langer aus psychoanalytischer Sichtweise ergänzt und aufgezeigt, welche Rolle sinnliche Symbolsysteme für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen spielen. Über präsentative Symbole, Gegenstände, Gesten und Handlungen eignet sich der Säugling noch vor der Spracheinführung die Umwelt an und erfährt sich selbst als eigenständiges, aktives Subjekt. Da der Ausdruck unbewußt sinnlicher Strebungen mit Hilfe präsentativer Symbole nicht nur die Grundlage dafür ist, daß der einzelne Mensch ein Gefühl für sein eigenes Ich entwickelt, sondern über die Rezeption von kulturellen sinnlichen Formen wie Mythen, Märchen und Ritualen kollektive Werte auch wiederum tief im Unterbewußtsein des Einzelnen verankert werden, bilden diese, nach Alfred Lorenzer, die Grundlage von Identität, Autonomie und Gemeinschaftsbildung überhaupt. In seiner kulturkritischen Schrift

„Das Konzil der Buchhalter“ hat er beschrieben, welche Folgen die mit der Technisierung und

Intellektualisierung der modernen Lebenswelt einhergehende Zerstörung der präsentativen Symbolschicht im kirchlichen Bereich für das religiöse Erleben und Verhalten des Einzelnen und für das gesellschaftliche Leben insgesamt hat, vgl. Alfred Lorenzer: Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs. Frankfurt a.M. 1970; Ders.:

Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt 1981.|

174 Vischer 1983, S. 1.

Das von Susanne Langer eingeführte Konzept der präsentativen Symbolik ist dabei ein hilfreiches Instrument, um die These von Werner Spies, d.h. die „Verflüssigung“175 bzw.

Wiederaufnahme von im HdA als Speichergedächtnis abgelagerten Ritualen und Traditionsformen in das lebendige Funktionsgedächtnis durch den Künstler Joseph Beuys zu greifen.

Im folgenden soll jedoch die visuelle Rekonstruktion in der Volkskunde tradierter Symbole, Motive, Metaphern und Erzählweisen im Werk von Beuys mit Hilfe des HdA´s nicht nur identifiziert und in Form einer vordergründig positivistischen Stoffsammlung präsentiert werden. Ziel ist es vielmehr, den Transformationsprozessen und Umcodierungen, denen die im HdA diskursiv verfestigten symbolischen Formen unterworfen sind, im Detail nachzugehen.

Da es sich bei Symbolen prinzipiell um „deutungsoffene Konstruktionen“176 handelt, in die sich gruppen- und epochenspezifisch veränderbare Sinngehalte einlagern, gilt es im folgenden die volkskulturellen Symbole und Motive im Werk von Beuys genauer zu befragen. Auf welche überlieferten Bedeutungsgehalte greift Beuys im Einzelfall zurück? Wie setzt er seine kulturelle Deutungsmacht als „Kreator“177 ein, um diese zurechtzudefinieren und zur individuellen „Konstruktion von Wirklichkeit“178 im Sinne einer „privaten Mythologie“179 zu benutzen, indem er sie mit eigenen Gefühlen und Sinngehalten aus anderen Sinnbezirken wie der Psychologie oder Anthroposophie überformt?

An einzelnen Symbolen und Motiven, wie beispielsweise an der Symbolfigur des Hasen, gilt es zu prüfen, ob die Konnotationen aus einem volkskulturellen Überlieferungszusammenhang im HdA wird der Hase beispielsweise mit dem Fruchtbarkeitskult in Beziehung gebracht -bei Beuys eine Rolle spielen und inwieweit die im HdA aufgeführten ikonographischen Bedeutungen und Interpretamente zur Bedeutungsanalyse seines Werkes aufschlußreich sind.

Voraussetzung für eine derartige symbolikonographische Lesart ist die Vertrautheit mit der Beuyschen Vorstellungswelt, um sozusagen rückwirkend den Weg zu seinem symbolischen Weltverstehen nachzuvollziehen.

175 Aleida Assmann: Fest und flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur, in: Aleida Assmann (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument 1991, S. 181-198.

176 Vgl. Aleida Assmann: Externalisierung und Internalisierung und Kulturelles Gedächtnis, in: Walter M.

Sprondel: Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, Frankfurt a.M. 1994, S. 422 -435.

177 Lipp 1994.

178 Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Frankfurt 1980 (1. Auflage Frankfurt 1969).

179 Harald Szeemann: Individuelle Mythologien. Berlin 1985.

Die Studie hat sich über diese symbolanalytische Beschreibung der Aktualisierung des volkskulturellen Traditionsgutes hinaus im besonderen auch die Aufgabe gestellt, die Haltung von Beuys gegenüber der volkstümlichen Überlieferung ganz allgemein zu klären und Indizien für die Hypothese zu sammeln, daß Beuys möglicherweise nicht nur ein „liebevoller Widerstandskämpfer“180 war, der die durchrationalisierte Welt „wiederverzaubern“181 und mit magisch-irrationalen Gegenbildern provozieren wollte, sondern daß bei seiner visuellen Rekonstruktion kultureller deutscher Traditionen möglicherweise auch die Suche nach nationaler Selbstvergewisserung eine Rolle gespielt hat.

Bevor jedoch der Bogen zu Beuys geschlagen wird und die Ergebnisse zu diesen Fragen dargelegt werden können, ist es zunächst erforderlich, den Begriff des „Aberglaubens“

genauer zu bestimmen und das vom Verband der deutschen Vereine für Volkskunde von 1927-1942 herausgegebene Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens selbst zu kontext-ualisieren.

Diese ausführliche Betrachtung der Quelle ist notwendig, weil im HdA nämlich keinesfalls kollektive Symbole aus dem kommunikativen Gedächtnis 1:1 in kristallinen schriftlichen Formen fixiert sind, wie man annehmen könnte. Mit der Verschriftlichung, d.h. mit der Speicherung lebendiger kultureller Praktiken ins kulturelle Gedächtnis, geht nach Aleida Assmann182 meistens auch eine Reduktion, Selektion und Abstraktion des Materials einher.

Diese zeitbedingten Verzerrungen und Instrumentalisierungen werden im folgenden auch im Bezug auf das im HdA ausgebreitete volkskulturelle Material herausgearbeitet. So werden die gesellschaftlichen und fachgeschichtlichen Voraussetzungen des Lexikonwerkes genauer dargelegt und die Forschungsintentionen und Sichtweisen der am HdA beteiligten Volkskundler zu Beginn des letzten Jahrhunderts und in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vergegenwärtigt.

180 Neil Postman: Das Technopol. Die Macht der Technologie und die Entmündigung der Gesellschaft. Frankfurt 1992.

181 Dietmar Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft. Hamburg 1981.

182 A. Assmann 1991 und A. Assmann 1999, S. 15.