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Einheimische Renaissancen - Joseph Beuys und der Aberglaube

7.1. „...eine Wurzel in der Volkskunst...“ - Aussagen von Joseph Beuys zum Aberglauben Joseph Beuys hat sich, wie zu Beginn dieser Arbeit bereits ausführlich dargelegt, seit Mitte der 50er Jahre zunehmend von traditionell kirchlich-christlichen Symbolsystemen abgewandt und eine für seine künstlerischen Botschaften eigenwillige, undogmatische

„Privatreligion“315 entwickelt, die neben der Anthroposophie auch mythologische und schamanistische Traditionen einbezog und darüber hinaus im Spiritismus ebenfalls einen Zugang zum Transzendenten sah316.

Den Begriff des Aberglaubens im Sinne eines „verkehrten Glaubens“ hat er jedoch nie benutzt, was sicherlich mit seiner zunehmenden Distanzierung zur Kirche zusammenhängt und seiner kritischen Einstellung gegenüber der von ihr beanspruchten Definitionshoheit. Zur Beschreibung vorchristlicher Glaubensinhalte benutzte Beuys meist den Begriff „Mythos“ als Oberbegriff. Seinen Äußerungen in diesem Zusammenhang ist zu entnehmen, daß er bereits Ende der 50er Jahre einen erweiterten Begriff des Religiösen vertrat und demnach auch die von der Kirche als „Aberglaube“ ausgegrenzten Traditionen gleichwertige Ausdruckform für das Transzendente ansah:

„...ich schließe auch Engel nicht aus, ich schließe auch Götter nicht aus - denn wenn ich in die Naturreiche sehe und auch Mäuse, Ratten als Mitwesen betrachte, die mir für die Kunst sehr hilfreich sein können und mir etwas ins Ohr flüstern können, dann muß ich auch annehmen, dass es noch andere Wesen gibt wie Engel und Götter, denn die alten Kulturen haben sie ja tatsächlich sogar benannt und in sehr unterschiedliche Kraftprinzipien unterteilt.“317

Auch speziell mit der Frage nach der Tradierung vorchristlicher Spiritualität in den volkstümlichen Traditionen hat sich Beuys auseinandergesetzt; dieses Thema kommt beispielsweise in einer 1976 mit Dieter Koepplin geführten Unterhaltung zur Sprache318. Aus einem zwei Jahre früher mit Caroline Tisdall aufgenommenen Interview stammt darüber

315 Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt a.M. 1991, S. 33.

316 Nach mündlicher Mitteilung von Bernhard Johannes Blume hat Beuys die Untersuchung von Albert Freiherr von Schrenck-Notzing gekannt und dessen mediumistische Fotoerfahrung mit Interesse zur Kenntnis genommen.

Veit Loers weist im Katalog zur Ausstellung „Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren“, an einzelnen Beuys-Werken nach, daß Beuys mit dem spiritistischen Repertoire vertraut war.

317 Joseph Beuys - Zeichnungen - Tekeningen, Drawings, Museum Boymans-van Beuningen, Rotterdam, 1979/1980; Nationalgalerie Berlin 1980, Kunsthalle Bielefeld 1980. Wissenschaftszentrum Bonn, 1980, S. 15.

318 „Daneben läßt sich auch nachweisen, daß sehr viele mythische Dinge in die moderne Kulturentwicklung eingegangen sind und dort ihre weiteren Transformationen erlebt haben...“, Beuys im Interview mit Dieter Koepplin, in: Kat. Kunstmuseum Basel 1977, S. 21.

hinaus eine Aussage von Beuys, in der sich der Künstler direkt auf die Volksüberlieferung bezieht. Dort heißt es:

„My intention was not to create or depict symbols, but to express the powers that exist in the world: the real powers. The old way of doing this was through mythology. The new way is more through the understanding of art and science: what I call exact science - the result of direct observation. But in folklore (Hervorhebung von der Verfasserin), for instance, I find a form of meaning for the future and a more modern understanding of these powers than exist in mythology“. Oh Falada, there you hang is one such German fable that conveys a cosmic meaning symbolised through this horse.”319 (vgl. dazu auch Abbildung 16).

Es ist zugegebenermaßen problematisch, angesichts dieses einen kurzen Zitats von Beuys mögliche Parallelen zu den in den vorigen Kapiteln dargelegten Theoremen zum Aberglauben abzuleiten. Dennoch sind hier zwei Punkte anzumerken:

Erstens zeigt das Zitat, daß Beuys stark von evolutionistischen Modellen in der Tradition des 19. Jahrhunderts geprägt war, wie sie etwa von James Georg Frazer vertreten wurden, der, wie bereits weiter vorne dargestellt, annahm, daß sich das menschliche Denken von der Magie über die Religion zu den Wissenschaften entwickelt hat.

Zweitens, und das ist in Bezug auf unsere Fragestellung nach den volkskundlichen Bezügen bei Beuys bedeutsamer, bezieht sich Joseph Beuys in diesem Zitat explizit auf „folklore“320, d.h. auf die Volksüberlieferung. In der Tradition der Romantik überhöht er diese religiös und bringt sie mit mythischen Urzeiten in Verbindung. Insbesondere im deutschen Märchen sieht Beuys - wie die Brüder Grimm321 - ursprüngliche transzendente Kräfte fortwirken. Das

319 Beuys im Interview von 1974 mit Caroline Tisdall, in: Kat. Heiner Bastian (Hg.): Joseph Beuys. The secret block for a secret person in Ireland. München 1988, S. 48. Verweise auf das Märchen Falada finden sich im HdA unter Bd. VI, S. 1664 und Bd. VIII, S. 848.

320 Bei dem Begriff „folklore“ handelt es sich um ein Kunstwort, das auf einen Artikel von William John Thoms zurückgeht, den dieser 1846 unter dem Pseudonym Ambrose Merton in der englischen Zeitschrift „Athenaeum“

erstmals verwendete. In diesem spricht er Jakob Grimms „Deutscher Mythologie“ hohes Lob aus. William John Thoms spricht davon, daß es sich bei dem, was in England als „Popular Antiquities“ oder „Popular Literature“

bezeichnet wird, eigentlich gar nicht um Literatur handelt: by the bye it is more a Lore than a Literature, and would be most aptly designed by a good Saxon compound, Folk-lore – the Lore of the People“. Der Begriff fand im Verlauf weniger Jahre Eingang in die verschiedensten Sprachen und Sprachbereiche und verbreitete sich nicht nur in der angelsächsischen Welt, sondern auch in außereuropäischen Kontinenten. Ursprünglich umfasste der Begriff vor allem Formen der mündlichen Überlieferung, gelegentlich wird er aber auch für die Gesamtheit der Volkskultur – also für alle Gegenstände der Volkskunde vom Bauernhaus bis zum Volkslied, vom Votivbild bis zur Tracht gebraucht, vgl. Hermann Bausinger: Formen der „Volkspoesie“. Berlin 1980 (1. Auflage Berlin 1968), S. 41ff. Hermann Bausinger verweist darüber hinaus darauf, daß die Bedeutung des Begriffes „folkore“

nicht in allen Ländern dieselbe ist. So bezeichnet das folk im englischen - das Volk - die Leute, mit einem gewissen sozialen Akzent auf den wenig gebildeten Schichten und im Gegensatz zu people und zum deutschen Wort Volk ohne nationalen Gehalt. In Deutschland wurde das Wort in seiner vollen Bedeutung kaum verwendet, weil man, so Hermann Bausinger, fürchtete, daß der nationale Gehalt der Volkskunde verlorengehe. Geläufig ist in Deutschland vielmehr die deutsche Entsprechung „Volksüberlieferung“. Erst in den letzten Jahren findet man den Begriff Folklore auch als Bezeichnung für erneuerte, meist mehr oder weniger modisch aufgeputzte Volksmusik, vgl. vgl. Hermann Bausinger: Formen der „Volkspoesie“. Berlin 1980 (1. Auflage Berlin 1968), S.

42ff.

321 vgl. zur Rekonstruktion des Mythos bei den Brüder Grimm, Wolf-Daniel Hartwich: Deutsche Mythologie.

wiederum läßt vermuten, daß Joseph Beuys sich vor allem aufgrund der religiösen Dimensionen für die volkskulturelle Überlieferung interessierte und entsprechend der romantischen Kontinuitätsprämisse davon ausging, daß im Brauchtum germanisch-keltische Glaubensformen weitertradiert worden sind.

Dafür spricht auch, daß Beuys sich in dem 1976 mit Dieter Koepplin geführten Interview auf die Frage nach der Rekonstruktion „primitiver“ Traditionen in der modernen Kunst durchaus kenntnisreich über die Rezeption volkskultureller Elemente bei anderen Künstlern geäußert hat. Auch Brancusi habe eine Wurzel in der Volkskunst 322, sagte Beuys damals und verwies an derselben Stelle auch auf Oskar Schlemmer, der eher auf ein tradiertes volkskundemäßiges Element seines „eigenen Bodens“ zurückgegriffen habe323. Auf Fragen Dieter Koepplins nach Inspirationsquellen für seine eigene Kunst antwortete der Künstler jedoch ausweichend. Auch intensive Recherchen insbesondere nach dem Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens im Archiv Moyland und im nächsten Umkreis von Beuys, erbrachten keine Hinweise auf das volkskundliche Sammelwerk, aus denen Beuys Kenntnisse über das Brauchtum bezogen haben könnte324.

Umso erstaunlicher ist es deshalb, daß die empirische Bestandsaufnahme zwischen dem Werk von Beuys und dem HdA - das weniger städtischen „Kunstaberglauben“325 (d.h. Horoskope, Amulette, Parapsychologie), sondern hauptsächlich Volksaberglauben umfaßt - eine große Schnittmenge an volkskulturellen Symbolen und Ritualen ergab. Vor allem die Zeichnungen der 40er und 50er Jahre mit Titeln wie „Vielfraß“, „Geburtsstein“, „Nebelfrau“,

„Zwergenstein“, „Schneeschuhe“, „Dreiecksspiegel“, „Dreibeiniges frißt Gras“ etc. (vgl.

Aufstellung von Beuys-Werken in der Materialsammlung) weisen darauf hin, daß sich Beuys intensiv mit volkskulturellen Erzähltraditionen beschäftigt hat. Die unzähligen Parallelen hinsichtlich Motivwahl und dem magischen Repertoire der Beuyschen Rituale sind mit Hilfe

Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion. Berlin/Wien 2000, S. 47ff.

322 „(...) Wir sprachen von Schlemmer, der eher auf ein tradiertes volkskundemäßiges Element auf seinem eigenen Boden zurückgegriffen hat...Auch Brancusi hat eine Wurzel in der Volkskunst (...)“ Beuys, zit. nach Interview mit Dieter Koepplin, in: Kat. Kunstmuseum Basel 1977, S. 21.

323 Ebenda

324 Gespräche wurden in diesem Zusammenhang mit dem Sammler Hans van der Grinten und dem Bildhauer Walter Brüx, der Beuys nach dem Krieg künstlerisch unterrichtete, geführt. Beide sagen aus, daß Beuys das Handwörterbuch nie erwähnt und sich auch nicht speziell über den Volksaberglauben geäußert hat. Auch Eva Beuys schreibt in einem Antwortschreiben auf eine Anfrage der Verfasserin an den privaten Beuys-Nachlass,

„daß ihr Mann, das Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens nicht besessen und auch nie erwähnt hat...“.

(Schreiben von Eva Beuys an die Autorin vom 15.04.2000).

325 vgl. Inge Schöck: Bemerkungen zum Aberglauben, in: Württembergisches Jahrbuch für Volkskunde 1970, S.

61-70; vgl. auch Wolfgang Lipp: Magie-Macht und Gefahr. Zur Soziologie des Irrationalen, in: A. Zingerle/C.

Mongardini (Hg.): Magie und Moderne. Berlin 1987, S. 63-97.

des HdA´s im folgenden unter symboltheoretischen Gesichtspunkten in Textform ausführlicher beschrieben.

7.2. Ästhetische Transformation des Aberglaubens

7.2.1. Motive und Symbole 7.2.1.1. Natur

Die Volkskunde ist lange davon ausgegangen, daß sich im Volksglauben Vorstellungen früherer Kulturstufen, wie der Glaube an eine von Geistern beseelte Natur (Animismus) oder noch ältere Vorstellungen von magischen Kräften (Orendismus), die sich in Menschen, Gegenständen und Orten konzentrieren, bis ins 19. Jahrhundert, manchmal sogar bis ins 20.

Jahrhundert hinein gehalten haben.

So sind im HdA eine Fülle von Legenden um vorchristliche Kultorte überliefert, an denen - so die Vorstellung - der Mensch mit übersinnlichen Kräften in Verbindung treten konnte. Steine, Bäume, Quellen, Vulkane, Wasserfälle und Brunnen galten als solche zur Zauberei und zur

„Weissagung“326 geeigneten Orte. Heidnische Gräberfelder, Friedhöfe und Kirchen wurden hingegen, laut HdA, gemieden, weil man ihnen schädliche Kräfte zusprach und sich vor

„Spukerscheinungen“327 fürchtete.

Daß Joseph Beuys sich mit derartigen aus Naturreligionen stammenden kosmischen Vorstellungen und insbesondere mit magischen Orten beschäftigt hat, geht aus nachstehendem Zitat hervor:

„Die Eiche als Versammlungsplatz, die Erde als Platz einer geistigen Kultur für den Priester, für den Druiden oder für denjenigen, der für die Spiritualität verantwortlich ist. So war es ja in unserem Lebensraum, wo Germanen und Kelten gelebt haben, nie ein urbanes Gebilde, sondern immer dieser Naturgegenstand. Spiritualität fand statt in Wäldern an bedeutenden Naturstellen, ebenda, wo eine wichtige große Eiche war im Zusammenhang vielleicht mit einem gutgearteten Felsen. In diesem Bereich haben die Germanen ihre Kultstätte gehabt ebenso die Kelten.“328

Diesen Kultplätzen spürt Beuys vor allem in seinen frühen Zeichnungen nach. Arbeiten wie

„Landschaft mit elektrischer Ladung“329 oder „Aggregat mit Regenbogen am Wasserfall“

rufen Erinnerungen an eine von magischen Kräften durchtränkte Natur wach. Was Titel wie

„Gebirge im Gletscher und Erscheinung“330, „Zwei Mädchen betrachten Vulkan und Geysir“

326 Vgl. Stichwort „Weissagung“ im HdA Register beispielsweise Bd. VII, S. 1564.

327 Vgl. beispielsweise Stichwort „Schauder“, HdA Bd. VII, S. 1016.

328 Werner Krüger/Wolfgang Pehnt: Künstler im Gespräch. Köln 1984, S. 45.

329 Abbildung, in: Kat. Armin Zweite: Natur, Materie, Form. Düsseldorf 1992.

330 Kat. Stiftung Schloß Moyland (Hg.): Sammlung van der Grinten. Die Werke von Joseph Beuys im Schloß Moyland (Studienheft) Sammlung van der Grinten. Schloß Moyland 1997, Wand 1, Raum 34.

(1949)331 ansprechen, wird von Beuys - so könnte man meinen - in den Werken einfühlend zeichnerisch imaginiert. Teilweise sind die in den Titeln angesprochenen Motive nur hauchzart mit wenigen Strichen angedeutet, so daß man das Dargestellte nur erahnen kann, teilweise, wie beispielsweise im Blatt „Vulkan“ (1949), mit heftigem, bewegtem Duktus nachempfunden. Unzählige Arbeiten entstehen 1956 allein zu dem Thema Wasserfall, aber auch andere heilige Orte wie der Brunnen und die Quelle werden von Beuys immer wieder zur Darstellung gebracht (vgl. Zeichnungen zu den entsprechenden Stichwörtern in der Materialsammlung).

Das Doppelblatt mit dem Titel „Zerstörter Brunnen“ aus dem Jahr 1958 unterscheidet sich dabei von den bereits beschriebenen Zeichnungen, weil es weniger eine intakte frühzeitliche mythische Topographie veranschaulicht, als vielmehr ihre zeitgenössisch aktualisierte Bestandsaufnahme darzustellen scheint. Der Brunnen ist verfallen, die heilige Stätte entweiht.

Inwieweit Beuys mit diesem Blatt die heutige Unterbrechung zum Übersinnlichen thematisieren wollte und diese Arbeit als zivilisationskritische Metapher zu verstehen ist, darauf hat der Künstler selbst keinen Hinweis gegeben. Dies läßt sich nur vermuten, zumal auch im Märchen der versiegte Brunnen als Symbol für die bedrohte Schöpfung vorkommt332. Im dem in HdA-Form modifiertem Volksglauben wurden neben bestimmten Orten auch Steine als heilig verehrt. Auch in Beuys´ Werk finden sich Arbeiten zu diesem Motivbereich, die darauf hinweisen, daß er sich nicht selten mit dem vorchristlichen Steinkult beschäftigt hat. So erscheinen Arbeiten mit Titeln wie „Geburtsstein“333 oder „Inspiration Sonnenstein“

(1949) jedenfalls weniger rätselhaft, wenn man volkstümliche Vorstellungen zum Stein heranzieht334 (Abbildung 17).

Steine wurden im Volksglauben nicht wie heute als unbelebte tote Materie angesehen, sondern als Lebewesen betrachtet, „die in der Erde wachsen wie Pflanzen“335, „die sich bewegen“336, „weinen“337 und „gebären können“338. Darüber hinaus wurden vielen Steinen

331 Abbildung, in: Kat. Armin Zweite: Natur, Materie, Form. Düsseldorf 1992, Abb. 3.

332 Vgl. Ursula Heindrichs: Zauber Märchen Brunnen, in: Ursula Heindrichs: Zaubermärchen.

Forschungsberichte aus der Welt der Märchen. München 1998.

333 Bei der Arbeit “Geburtsstein“ von 1953, handelt es sich nicht um eine Zeichnung, sondern Beuys hat mittels Gips einen Stein nachmodelliert und auf der für den Betrachter sichtbaren Oberseite reliefartige Spuren angebracht. Der Stein ist in einen dafür angefertigten Holzkasten eingeklebt.

334 HdA, Stichwort Stein, Bd. VIII, S. 380ff.

335 Ebenda, S. 380.

336 Ebenda, S. 394.

337 Ebenda, S. 395.

338Ebenda, „im Kaukasus befruchtet der Satan einen Stein, das Kind wird später herausgeschnitten und in einem Märchen aus Hessen gebiert eine Gräfin einen Stein HdA (...)“, HdA, Stichwort „Stein“, Bd. VIII, S. 395.

Heilkräfte339 zugeschrieben, zu deren Entfaltung der Mensch verschiedene überlieferte Riten und Handlungen, wie beispielsweise Besprechungen (z.B. „im Namen der Dreifaltigkeit, Gebete, Kreuzschlagen, dreimal Berühren usw.“340), praktizieren mußte. Insbesondere dem von Beuys in der Zeichnung „Inspiration Sonnenstein“ (Abbildung 18) gezeichneten Sonnenstein341 - auch Ammonit genannt - wurden derartige hellseherische Kräfte zugesprochen342.

Auf der Bleistiftzeichnung „Inspiration Sonnenstein“ scheint ein Mädchen eine magische Handlung inmitten einer kargen, sonnenbeschienen Landschaft auszuführen. Ihr Oberkörper und ihr Kopf sind nur mit wenigen Umrißlinien am unteren Bildrand angedeutet, doch ist zu erkennen, daß sie mit erhobenen Armen auf einen Stein in der Bildmitte ausgerichtet ist, der ein Kreuz sendet und durch eine Linie direkt mit der Sonne verbunden ist.

Im HdA sind darüber hinaus auch zahlreiche regionale Sagen und Legenden tradiert, die sich um besonders auffällige Steine gebildet haben. Überliefert sind Vorstellungen von Steinen, bei denen es sich eigentlich um versteinerte Lebewesen handeln oder in denen „ein Lebewesen (...) stecken soll“343. In Cornwall, so ist dem HdA zu entnehmen, sieht die Überlieferung in den dort vielerorts noch vorhandenen Steinkreisen versteinerte Männer, die zur Strafe für ihr Tanzen am Sonntag verwandelt wurden344. Die Steinverwandlung als Strafe kommt darüber hinaus auch in Märchen wie beispielsweise „Die zwei Brüder“ vor, in dem eine Hexe die Knaben zu Stein erstarren läßt, und steht dort meist als Metapher für den Tod der Figuren.

Möglicherweise haben derartige Vorstellungen von Steinverwandlungen Beuys zu Zeichnungen wie „o.T.“ (Mann im Gestein) (Abbildung 19)oder „Selbst im Gestein“ (1955) inspiriert. Beuys selbst hat jedenfalls bei der Kommentierung dieser Arbeiten Caroline Tisdall gegenüber 1974 auf Volksglaubensvorstellungen zum Druidenkult verwiesen. „Self in stone, represents myself in mineralised form, my head and face in the mountain. In the upper part is a figure in a coffin. This is the stone coffin, of initiation through death in druid cults.”345

339 Ebenda, S. 380.

340 Ebenda, S. 381.

341 HdA, Stichwort „Ammonit“, Bd. I, S. 368 und HdA, Bd. VI, S. 81.

342 HdA, Bd. VI, S. 81.

343 HdA, Bd. VIII, S. 394.

344 HdA, Bd. VI, S. 88.

345 Beuys im Gespräch mit Caroline Tisdall, abgedrucktes Interview von 1974, in: Kat. Heiner Bastian (Hg.):

Joseph Beuys. The secret block for a secret person in Ireland. München 1988, S. 50.

Aus dem Zitat geht hervor, daß Beuys die volkskundliche Metapher der Versteinerung vor allem Mitte der 50er Jahre benutzt, um seine eigene seelische Befindlichkeit in dieser Zeit zu beschreiben. Anders als bei den bislang besprochenen Visualisierungen, in denen er volkstümliche Überlieferungen mehr oder weniger einfühlend imaginiert, benutzt er sie in den oben genannten Arbeiten vor allem als visuelle Vokabel, um eigene Erfahrungen und Erkenntnisse zu metaphorisieren.

Daß Joseph Beuys als Künstler einzelne volkstümliche Symbole und Motive zu individuellen Symbolen umwandelt, indem er sie mit eigenen Sinnbedeutungen auflädt, läßt sich noch an einem anderen dem Stein verwandten Motiv konkretisieren - am Kristall.

Im Volksglauben werden dem Kristall nicht nur apotropäische Kräfte zugesprochen; er wird vor allem auch zum Wahrsagen benutzt. Insbesondere der Bergkristall ist, laut HdA, besonders geeignet zur Erkundung “verborgener geschehener dinge oder auch zukünftiger begegnüssen“346. So wird dort auch beschrieben, daß verschiedene Rituale und Sprüche die ihm zugesprochene Zauberkraft unterstützen; es wird beispielsweise empfohlen, den Kristall auf einen heiligen Tisch zu setzen, bestimmte Zeiten zu beachten und sich entsprechend zu kleiden347. Auch wird im HdA ausführlich von ausgedehnten unterirdischen Kristallhöhlen, von leuchtenden Kristallpalästen und Kristallgrotten berichtet, in denen, so der Mythos, die Zwerge die Kristalle bearbeiten und schmieden348.

Sowohl Regina Prange als auch Klaus-Dieter Pohl bringen das Motiv des Kristalls, bwz.

Darstellungen von Kristallationsprozessen bei Beuys in ihren kunsthistorischen Ausführungen in Zusammenhang mit alchemistischen und romantischen Theorien349. Diese Bedeutungstraditionen, sowie die Ausführungen Rudolf Steiners zum Kristall, spielen bei Beuys sicherlich eine Rolle. Angesichts der vielen Übereinstimmungen von Motiven aus dem HdA und Beuyschen Werktiteln wie „Tisch mit Kristall“. „Kristall in der Höhle“, „Kristalle am Berg“ (vgl. Materialsammlung), ist es jedoch durchaus möglich, daß Beuys auch mit dem volkstümlichen Mythenhintergrund vertraut war und dieser ihm als Quelle für seine in den 50er Jahren in großer Zahl entstehenden Kristall-Darstellungen gedient hat. Vor allem die

346 HdA, Stichwort „Kristallomantie“, Bd. 5, S. 585.

347 Ebenda und Stichwort „Kristall“, Bd. 5, S. 576-577.

348 Stichwort „Kristall“, Bd. 5, S. 578.

349 Vgl. Regina Prange: Das Kristalline, in: Kat. Christoph Vitali (Hg.): Ernste Spiele. Der Geist der Romantik in der deutschen Kunst 1790-1990. München 1995, S. 608-615; Klaus-Dieter Pohl: Der Kristall im Werk von Joseph Beuys, in: Vorträge zum Werk von Joseph Beuys, hrsg. vom Arbeitskreis Block-Beuys Darmstadt, Darmstadt 1995, S. 19-34.

Tatsache, daß er den Kristall in Zeichnungen wie „rock-crystal (Zwergendenkmäler)“ (Abb.

20) unmittelbar in Bezug zu den Zwergen setzt und diese entsprechend der Überlieferung als

„emsig agierende Kristall-Geister“350 (vgl. Zwerge von 1954) zeichnerisch darstellt, stützt die These von Werner Spies, daß Beuys sich intensiv mit der Folklore auseinandergesetzt und insbesondere das HdA gekannt hat.

Mit der schrittweisen Ausformung seiner Plastischen Theorie lädt der Künstler wie andere Motive auch den Kristall mit eigenen, über die traditionelle Ikonographie des Minerals hinausgehenden Sinnbedeutungen auf351. So nimmt er dessen „natürliche Eigenschaft“352 der Härte und Klarheit zum Anlaß, Kraft seiner eigenen Deutungsmacht als Künstler den Kristall zum subjektiven Symbol für „Ratio“353, für materialistische Verhärtung und „als Sinnbild für einen absolut materialistisch orientierten Wissenschaftsbegriff“354 zu erklären. In der Zeichnung mit dem Titel „Explodierender Schädel mit Kristall“, die einen Schädel zeigt, der von einem Kristall gesprengt wird, hat Beuys diese eigene Ausdeutung des Motivs anschaulich verbildlicht (Abb. 21).

In ganz ähnlicher Art und Weise hat Beuys auch noch andere Märchenmotive benutzt, um individuelle und gesellschaftliche Bewußtseinsprozesse metaphorisch zu beschreiben. So sprach er im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rationalisierungs- und

In ganz ähnlicher Art und Weise hat Beuys auch noch andere Märchenmotive benutzt, um individuelle und gesellschaftliche Bewußtseinsprozesse metaphorisch zu beschreiben. So sprach er im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rationalisierungs- und