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Metaphern des Posthistoire

Im Dokument für Antisemitismusforschung (Seite 147-177)

Geschichtsdenken, Umweltkrise und Rhetorik bei Rolf Peter Sieferle

Sein nachgelassenes Pamphlet „Finis Germania“ (2017) hat den St. Galler P rofessor und Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle posthum nachhaltig ins G erede ge-bracht: als Autor der neurechten Szene, der in seiner Polemik gegen die deutsche Vergangenheitsbewältigung auch vor antisemitischen Äußerungen nicht zurück-schreckt.1 In seinem Nachruf auf den 2016 durch Freitod aus dem Leben Geschie-denen hatte Gustav Seibt wenige Monate vor Erscheinen des Buches den Histori-ker in der Süddeutschen Zeitung noch gegen den Vorwurf in Schutz genommen, dieser habe sich nicht nur von kulturpessimistischen Zivilisationstheorien um 1900, sondern auch von den Protagonisten der „Konservativen Revolution“ anre-gen lassen. Seibt vertrat dageanre-gen die Auffassung, Sieferle sei „ein unerschrockener, immer rationaler Denker“ gewesen, „der sich auch dann nicht aus der Ruhe brin-gen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog“ – und konservativ könne er allenfalls im Hinblick auf sein Bewusstsein für natürliche Grenzen genannt werden. Im Lichte des Nachlassbändchens änderte Seibt allerdings seine Einschät-zung, worauf eine redaktionelle Notiz, die der Onlinefassung des Nachrufs hinzu-gefügt wurde, verweist.2

Ein Rezensent beschrieb schon 1997 in einer Besprechung des Buches „Rück-blick auf die Natur“, das Seibt im Nachruf „das brillanteste Werk“ Sieferles nennt,3 die Vermischung deskriptiver und normativer Elemente, wodurch sich die

1 Eine ausführliche Analyse von „Finis Germania“ liefert Volker Weiß in diesem Band.

2 Gustav Seibt, Der Unerschrockene, in: Süddeutsche Zeitung, 9. 10. 2016, https://www.

sueddeutsche.de/kultur/nachruf-der-unerschrockene-1.3196935 [5. 7. 2019].

3 Ebenda.

h istorische Analyse zusehends in Zeitkritik verwandle. Dabei seien es „genau die-jenigen Argumentationsmuster von Verlust und ohnmächtigem Zuschauen, die Sieferle andernorts als Kennzeichen der konservativen Kulturkritik ausgemacht“

habe, die er „nun selbst in seinen Tiraden gegen ‚Baumarktplunder‘“ verwende:

„Nicht umsonst nennt er sein zweites Kapitel anspielungsreich ‚Kulturarbeiten‘ – so lautete auch der Titel der einflussreichen aesthetischen Arbeiten von Paul Schultze-Naumburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“4

Diese Beobachtungen sind hilfreich, um einen zentralen Aspekt – die Bedeu-tung der sprachlichen Form  – vieler Arbeiten Sieferles, gerade auch jener zur Umweltkrise und der von ihm profilierten Umweltgeschichte, genauer zu erfas-sen. Die Vermischung deskriptiver und normativer Aspekte, die historische Analyse als Zeitkritik und das Aufgreifen von Denkfiguren und Metaphern der

„Konservativen Revolution“ gehören zur Rhetorik vieler Schriften Sieferles; durch sie und in ihnen erhält dessen Geschichtsverständnis seine spezifische Signatur.

Außer dem Nebeneinander von „beeindruckender Sachkompetenz und stilis-tischer Prägnanz“5 bestimmt auch die bisweilen unklare Reverenz, die Sieferle schon in Arbeiten aus den 1980er- und 1990er-Jahren unter anderem „Rassen-theoretikern“ und rechtslastigen Denkern erweist, sein wissenschaftliches und außerwissenschaftliches Werk. Nicht von Anfang an, allerdings bereits Mitte der 1980er-Jahre finden sich in einigen seiner Texte Relativierungen rassistischen Denkens, ein eigenartiger Geschichtsrelativismus und eine Aufwertung „konser-vativer Revolutionäre“. Das soll im Folgenden in kursorischen Lektüren gezeigt werden.

Die Bedeutung des figurativen und metaphorischen Sprechens in Sieferles vielfach aphoristischem Schreiben kann dabei kaum überschätzt werden. Darge-legt sei dies zunächst an der Figur des Ikarus in „Finis Germania“:

4 Thomas Zeller, Rezension zu: Sieferle, Rolf Peter: Rückblick auf die Natur. Eine Ge schichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997 und Büschenfeld, Jürgen: Flüsse und Kloaken. Umweltfragen im Zeitalter der Industrialisierung (1870–1914), Stuttgart 1997, in: H-Soz-Kult, 7. 5. 1998, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-440 [5. 7. 2019].

5 Ludger Heidbrink, Frontenwechsel. Rolf Peter Sieferles voluminöser Essay, in: Die ZEIT, 28. 10. 1994, https://www.zeit.de/1994/44/frontenwechsel/komplettansicht [5. 7. 2019].

„Welche Möglichkeit hat eigentlich Ikarus, wenn seine Flügel schmelzen und er in die Tiefe hinabstürzt? Er kann die Augen schließen und so lange schreien, bis die See ihn verschlingt. Er kann aber auch die Augen geöffnet halten und die erhabene Aussicht genießen, solange sie sich bietet. Das Ergebnis ist in beiden Fällen das Gleiche; der Weg ist aber ein völlig gegensätzlicher.“6 Für den um Ästhetik und Stil bemühten Sieferle ist in diesem Fall der Weg das Ziel. Im Vorwort zu seiner im angesehenen Münchner Beck Verlag erschiene-nen Studie „Fortschrittsfeinde?“ aus dem Jahr 1984 hatte Sieferle die mythische F igur des Abgestürzten nur kurz gestreift, hier in ihrer griechischen Variante als

„I karos“. Neben Prometheus und den lahmen Schmieden Hephaistos und Wie-land führt er ihn dort als eine Gestalt an, die für den Makel der Technik stehe, die der Blasphemie oder gar der Rebellion gegen eine göttlich gegebene Ordnung verdächtigt ihre gerechte Strafe finde: Ikaros stürzt ab.7

Es bedarf keiner großen interpretatorischen Anstrengungen, um den erneu-ten Rekurs auf den abgestürzerneu-ten Himmelsstürmer im Nachlasstext jetzt als eine Reflexionsfigur für Sieferles im Text eingenommene kulturpessimistische Posi-tionierung zu deuten. Tatsächlich „harmoniert“ die Figur sogar mit Werner Bests „Bejahung des Kampfes auf verlorenem Posten für eine verlorene Sache“, wie Volker Weiß zeigt.8 Die Verbindung zum SS-Karrieristen Best und dessen

„heroischem Realismus“ stammt aus dem einzigen Paratext des Bändchens, einem als „Confessio“ deklarierten kurzen Nachwort des als Nachlassverwalter Sieferles tätigen emeritierten Sinologen Raimund Theodor Kolb: Sieferle habe

„als ‚heroischer Realist‘ (W. Best) allzeit ‚seismographischer Beobachter‘ sein“

wollen.9 So wird Sieferles figuratives Sprechen absichtsvoll in die Nähe der Posi-tion eines berüchtigten SS-Intellektuellen gerückt, ein durchaus fragwürdiger Freundschaftsdienst, wobei der Freitod des Historikers aufgrund des Fehlens einer „probate[n] existentielle[n] Lösung“10 zudem wie eine Konsequenz von 6 Rolf Peter Sieferle, Finis Germania, Schnellroda 2017, S. 90.

7 Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984. S. 7.

8 Siehe hierzu den Aufsatz von Volker Weiß in diesem Band.

9 Raimund Th. Kolb, Persönliche Confessio. Ein Nachwort, in: Finis Germania, S. 104.

10 Ebenda.

d essen tragischer Perspektive auf die Verheerungen der Spät- oder Nachmoderne erscheinen soll.

Das Bild vom fallenden Ikarus, dem nur noch die Wahl zur Beobachtung des eigenen Untergangs bleibt, erscheint jedoch auch ohne Kolbs provozierende, gleichwohl kaum abwegige Kontextualisierung mit Bests „heroischem Realismus“

irritierend. Denn die Passage besitzt eine ästhetische Dimension, die für Sieferles Schreiben und Selbstverständnis signifikant ist: Zu der Ikarus hier zugeschriebe-nen Entscheidung gehört, dass er während des Sturzes sehenden Auges „die erha-bene Aussicht“ genießt.11 Es geht also darum, den – kollektiv überhöhten, meta-phorisch die ungebremste Umweltkrise und eine perhorreszierte, als Bedrohung wahrgenommene Migration aufrufenden  – eigenen Todessturz zu ästhetisieren:

Die Untergangsvision wird zum erhabenen Schauspiel.

Die Ästhetisierung einer aussichtslosen Lage unter Rückgriff auf eine den antiken Mythen entlehnte Figur verweist auf die gewählte Nähe zu Positionen intellektueller Rechter. So hat Sieferle Ernst Jüngers Stellung zur technischen Zivilisation 1995 in einer biografischen Skizze in drei Phasen eingeteilt, deren letzte nach der Niederringung des Nationalsozialismus durch die Alliierten von der „nach-politischen Fragestellung“ bestimmt gewesen sei, „wie ein anarchisch-aristokratisches Individuum in der modernen Welt unpersönlicher Systeme leben könne“.12 Daran schließt „Finis Germania“ an. Die Ikarus-Passage befindet sich in einem Abschnitt, der provokativ „Ernst Jünger als Erzieher“ überschrieben ist, wodurch nicht nur eine Ehrbezeugung gegenüber Jünger formuliert, sondern absichtsvoll auch der antisemitische Bestseller „Rembrandt als Erzieher“ von Julius Langbehn aufgerufen wird.13 Hier bezeichnet Sieferle die moderne Wirklichkeit als abstoßend, wenn „man sie an den ästhetischen Normen tradierter Hochkultu-ren“ messe.14 Nach dem Ende der Kritik, deren Möglichkeit mit dem „Abstreifen

11 Sieferle, Finis Germania, S. 90.

12 Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen (Paul Lensch, Werner Sombart, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Freyer), Frankfurt a. M.

1995, S. 163.

13 Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 2. Aufl., Leipzig 1890. Sieferle führt Lang-behns Buch im Literaturverzeichnis von „Fortschrittsfeinde“ an. Vgl. Sieferle, Fort-schrittsfeinde, S. 294.

14 Sieferle, Finis Germania, S. 87 f.

der letzten normativen Elemente“ eintrete, bleibe allein noch „ein wechselvolles Spiel der Musterbildung“ und die Option, „dieses mit interesselosem Wohlgefal-len zu betrachten: und zwar als die letzte und radikalste Form des Erhabenen“.15 Der Rekurs auf die von Edmund Burke in die Philosophie eingebrachte Kategorie des Erhabenen, auf Immanuel Kants Denkfigur des interesselosen Wohlgefallens sowie den ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts überhaupt kann hier nicht nur als Ausweis besonderer Belesenheit gedeutet werden. Denn aus der gesam-ten Passage spricht die Nähe zur „konservativen Revolution“; Setzungen wie die Behauptung, erst „ein konsequenter Nihilismus“ öffne „das Tableau einer neuen Ordnung, die sich hinter den Grausamkeiten und Lächerlichkeiten der normativ besetzten Welt auftut“, verweisen direkt auf Ernst Jünger.16

Lutz Niethammer hat in seiner grandiosen Analyse „Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?“ aufgezeigt, wie Jünger seine Ankündigung des Posthisto-ire17 als erdgeschichtliche Konjunktur mit Anzeichen eines Endes der mensch-lichen Geschichte verband, einer Perspektive, zu der als Summe von Jüngers Geschichtsverständnis jedoch auch alle Schichten seiner früheren Texte, nicht zuletzt die Opposition von „Arbeiter“ und „Waldgänger“ hinzugetreten seien.

Dabei geht es um die Gegenüberstellung der „lebensunwerte[n] Massengesell-schaft“, eine Vorstellung, in der Jünger Faschismus, Bolschewismus und Ameri-kanismus zusammenziehe, der gegenüber „jene sich selbst nobilitierenden kleinen Eliten“ stünden, „die […] in der ästhetischen Vergegenwärtigung des Mythos alle – sich à la Spengler wiederholende – Geschichte in nuce in ihrer Lebensgeschichte erfahren“.18 Die von Niethammer behandelten Rechts- und Linksintellektuellen, die sich „als Angehörige einer merkwürdigen Diagnosegemeinschaft über Zeit- und Kulturgrenzen hinweg“ erwiesen, verzweifelten „angesichts der Lethargie der ‚Massen‘“ an der Verwirklichung eines jeweils verfolgten „Projekts der Sinn-verwirklichung“, unabhängig davon, ob dies „konservativer bis f aschistischer“

15 Ebenda, S. 88.

16 Ebenda, S. 88 f.

17 Der Begriff stammt von Hendrik de Man, der ihn in seinem Buch „Vermassung und Kulturverfall“ (1951) prägte, von wo ihn die vormaligen „konservativen Revolutionäre“

in der frühen Bundesrepublik übernahmen. Vgl. Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek bei Hamburg 1989, S. 104.

18 Niethammer, Posthistoire, S. 103.

oder „k ommunistischer oder sozialistischer Art“ sei, wie Iring Fetscher in seiner Besprechung von Niethammers Studie festhält.19

Zu dieser Gruppe elitärer Zeitdiagnostiker, die sich durch ein zyklisches Geschichtsverständnis, in dem „große“ Geschichte und Lebensgeschichte konver-gieren, und zugleich durch einen besonderen Stilwillen konstituieren, lässt sich auch Sieferle hinzufügen  – zumindest ab einem bestimmten, hier nur vorläufig und grob mit der „Zeitenwende“ von 1989 zu verbindendem Moment. Das vermit-telt der „Sound“, aus dem eine Haltung erklingt, die den Jüngerschen Nihilismus ebenso beerbt wie dessen Verachtung der modernen Massenkultur, auf die Sieferle in „Finis Germania“ mit der Ästhetisierung und Überhöhung der eigenen Person zur tragischen mythischen Figur des fallenden Ikarus reagiert.

Diesem korrespondiert eine weitere schillernde Figur, in der sich das Credo wissenschaftlicher Neutralität mit konservativ-revolutionärem Pathos verbindet:

„Die letzte ästhetische Möglichkeit liegt in der Radikalität einer […] neutralen Beobachterposition, die sich jenseits von Gejammer, von Kritik und Praxiswut ansiedelt.“20 Dabei kann zunächst auch an Niklas Luhmann gedacht werden, der in seiner von Sieferle rezipierten Studie „Ökologische Kommunikation“ für sich die „Perspektive eines distanzierten Beobachters“ reklamiert, mit der er auf den Alarmismus der Ökologiedebatte in den 1980er-Jahren antwortet.21 Sieferle bean-sprucht jedoch eine Sprecherposition, die kaum auf die Distanz wissenschaft licher Beobachtung abzielt, sondern pathetisch die behauptete eigene Einflusslosigkeit ausstellt: „Der Ruf nach Entscheidung, nach Urteilsbildung, nach Wegweisung und Kritik ist mächtig, und es fällt schwer, sich ihm zu entziehen. […] Der Neu-trale [muss] zum Außenseiter werden  – oder die Neutralität wird zur letzten Zuflucht des Außenseiters: Der Zynismus ist der Hochmut des Unterlegenen.“22

Die Selbststilisierung zum „neutralen Beobachter“ und stürzenden Ika-rus samt der Flucht des vermeintlichen (akademischen) Außenseiters in Zynis-mus, Ressentiment und Antisemitismus ist in „Finis Germania“ offensichtlich.

19 Iring Fetscher, Ist die Geschichte am Ende?, in: Die ZEIT, 9. 2. 1990, https://www.zeit.

de/1990/07/ist-die-geschichte-am-ende/komplettansicht [15. 7. 2019].

20 Sieferle, Finis Germania, S. 89.

21 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefahren einstellen?, Opladen 1986, S. 16.

22 Sieferle, Finis Germania, S. 91.

V arianten dieser Ich-Figuren sowie zahlreiche rhetorische Elemente, die zu einem rechten Weltbild passen, finden sich jedoch schon früher in Sieferles Schriften, darunter z. B. das Pathos des Unbeteiligten und weitere Metaphern des Post-histoire. Dennoch wohnte den frühen Texten lange eine größere Offenheit inne, die nicht von Anfang an vom kulturpessimistischen Ressentiment bestimmt war.

Erst „Epochenwechsel“ aus dem Jahr 1994, aus dessen Kontext „Finis Germania“

stammt,23 präsentiert ein weitgehend geschlossenes rechtes Weltbild.

Sieferles wissenschaftlicher Weg wurde dabei grundsätzlich und von Beginn an durch eine spezifische Wahrnehmung der Umweltkrise geprägt, für deren Verständnis er unter anderem auf die Rekonstruktion diverser „rechter“ Kultur-strömungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und rassistischer Theorien zurückgriff. Als in den 1980er-Jahren dominanter Diskurs wohnte dem Sprechen über die Umwelt häufig ein alarmistischer und appellativer Ton inne. Dieser fand in den Texten Sieferles seinen Nachhall, und in sich wandelnder Form verweist er auf dessen sich im Laufe der Jahre offensichtlich verfestigende politische Positio-nierung. Der neurechte Autor, als der Sieferle uns vom Antaios Verlag posthum präsentiert wird, fiel – im Unterschied zu Ikarus – nicht vom Himmel.

I. Anything goes. Eine werkgeschichtliche Spur

Der Lebensreformer, Architekt, wilhelminische Architekturkritiker und spätere nationalsozialistische Kulturpolitiker Paul Schultze-Naumburg (1869–1949) wird von Sieferle in „Rückblick auf die Natur“ nicht explizit erwähnt. Der einzige Hin-weis auf den Begründer der „Heimatschutz“-Bewegung zu Beginn des 20. Jahr-hunderts findet sich im Titel des zweiten Kapitels, das mit dem von ihm g eprägten

23 Vgl. Thomas Schmid, Über den Gipfeln ist Ruh’. Das verstörende Werk des Gelehrten Rolf Peter Sieferle, in: Die Welt, 4. 8. 2017, http://schmid.welt.de/2017/08/04/ueber-den-gipfeln-ist-ruh-das-verstoerende-werk-des-gelehrten-rolf-peter-sieferle/ [23. 7. 2019].

Wenig später argumentiert Jacob Eder in einem Artikel, dass „Finis Germania“ Aspekte des gesellschaftlichen Konsenses zu NS und Holocaust aus den 1990ern widerspiegele.

Vgl. Jacob Eder, Zurück in die Diskursvergangenheit, in: taz, 7. 9. 2017, https://taz.de/

Rechte-Mythen-im-Buch-Finis-Germania/!5441743/ [23. 7. 2019].

Begriff der „Kulturarbeiten“ überschrieben ist.24 Diese neunbändige Buchse-rie „Kulturarbeiten“, die Schultze-Naumburg in den Jahren zwischen 1902 und 1917 veröffentlichte, machte ihren Verfasser rasch bekannt und zum begehrten A rchitekten.

Es stellt sich die Frage, warum Sieferle durch Verwendung des Titels die-ser seinerzeit populären und durchaus wirkmächtigen Buchreihe auf Schultze-Naumburg anspielt, ohne ihn jedoch zu nennen. Dass dies mit der Anrüchigkeit des Autors von „Kunst und Rasse“ aus dem Jahr 1928 und seiner Entscheidung für den Nationalsozialismus zwei Jahre später zusammenhängen könnte, bietet sich als Erklärung an. Dafür spricht, dass die Anspielung von der Kritik bemerkt und zugleich negativ bewertet wurde, wie die oben angeführte Besprechung von Thomas Zeller beweist, der diese Beobachtung als Ausweis von Sieferles kultur-pessimistischer Haltung deutet.25 Allerdings entging der Besprechung, dass sich im gewissermaßen esoterischen Nennen des Begriffs der Hinweis auf eine frühere, ausführlichere Beschäftigung Sieferles mit Schultze-Naumburg verbirgt. Das Zitat des Begriffs „Kulturarbeiten“ muss als werkgeschichtliche Spur gedeutet werden, die es, so meine These, „Eingeweihten“ erlauben sollte, der unausgewiesenen Anspielung eine über den manifesten Textinhalt hinausgehenden Sinn zuzu-weisen.

Vor allem handelt es sich um ein Spiel mit Ambivalenzen. Denn die kont-roverse Figur Schultze-Naumburg eröffnet durchaus widersprüchliche Asso-ziationen und kann für Verschiedenes herangezogen werden. Offensichtlich ist nur, dass Sieferle an anderer Stelle, wie noch zu zeigen ist, im Zusammenhang mit Schultze-Naumburg Thesen formuliert, in denen er historische Zivilisations-kritik, „Rassentheorie“ und Umweltschutz unter dem Eindruck der Umweltkrise der 1980er-Jahre miteinander verbindet. Einer umfassenderen debattengeschicht-lichen Rekonstruktion, die sowohl das Feld der Architekturgeschichte als auch die Ökologiedebatte der 1980er-Jahre genauer in den Blick nimmt, soll überlassen bleiben, Sieferles ambivalente Position eindeutiger zu beschreiben. Hier müssen erste Einsichten genügen.

24 Rolf Peter Sieferle, Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997, S. 53.

25 Zeller, Rezension zu Sieferle: Rückblick auf die Natur.

Während der 1980er-Jahre gab es Ansätze zu einer Neubewertung Naumburgs. 1979, wenige Jahre bevor Sieferle sich mit dem Werk Schultze-Naumburgs in zwei Texten auseinandersetzen sollte, veröffentlichte der angese-hene Architekturhistoriker und Remigrant Julius Posener (1904–1996) in seinem Buch „Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur“ einige Auszüge aus den

„Kulturarbeiten“.26 Der aus einer jüdischen Familie stammende Posener war 1933 nach Paris geflüchtet, 1935 nach Palästina emigriert und 1961 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Baugeschichte an die damalige Berliner Hochschule der Künste (heute: Universität der Künste) gefolgt. In seinem Geleitwort zu einer Publika-tion über Schultze-Naumburg aus dem Jahr 1989 erinnerte sich Posener an die

„gut gedruckt[en], schön illustriert[en]“ Bände der „Kulturarbeiten“, die „für uns alle gemeint“ waren und von denen einer eines der ersten Bücher darstellte, das Posener las: „Wer von den ‚Kulturarbeiten‘ spricht, ruft jene Zeit ins Gedächtnis, aus der wir stammen und der wir darum noch angehören, weil der Gedanke der Reform unser Leben recht eigentlich bestimmt hat.“27 Norbert Borrmann, der 2011 im Antaios Verlag eine rechtsradikale Bekenntnisschrift veröffentlichte, versuchte hier offenkundig, Schultze-Naumburgs Arbeiten um 1900 zu retten.28 Was von ihm bleibe, seien insbesondere die „Kulturarbeiten“, neben einer Anzahl von „harmonischen – nicht genialischen – den Wert der Landschaft steigernden Bauten“.29 Allerdings spricht auch Posener Schultze-Naumburgs Argumenten gegen die Moderne, etwa dem von Alexander Mitscherlich wirkmächtig verbrei-teten Topos von der Unwirtlichkeit der Städte oder der Monotonie der Bauformen und den abweisenden Baustoffen, in der Gegenwart eine Aktualität zu, während er 26 Julius Posener, Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur. Das Zeitalter Wilhelms

II., München 1979, S. 191–222.

27 Julius Posener, Geleitwort, in: Norbert Borrmann, Paul Schultze-Naumburg 1869–1949.

Maler, Publizist, Architekt. Vom Kulturreformer der Jahrhundertwende zum Kultur-politiker im Dritten Reich. Ein Lebens- und Zeitdokument, Essen 1989, S. 7.

28 Ausführlicher zum Rechtsradikalismus Borrmanns siehe Stephan Trüby, Eine „Neue“

Rechte gibt es nicht. Für die zeitgenössische Architekturtheorie kann ein Wendepunkt diagnostiziert werden, der einem Aufwachen aus einem kurzen Traum gleichkommt, in:

arch+ 235 (2019), S. 18 f. Trüby weist darauf hin, dass sich Borrmanns späterer Rechts-radikalismus bereits in der Klage über die „Entfremdung des Volkes von seiner eigenen Kunst“ andeutete, ebenda, S. 18.

29 Borrmann, Paul Schultze-Naumburg, S. 226.

zugleich unmissverständlich die „ideologischen Verirrungen“ des späteren Natio-nalsozialisten kritisiert.30

Sieferles Beschäftigung mit Schultze-Naumburg entspringt insofern nicht notwendig der rechts-esoterischen Verehrung für einen rassistischen Zivilisa-tionskritiker, sondern muss im Kontext einer breiteren Neubewertung historischer Reaktionen auf Probleme industrieller Gesellschaften vor dem Hintergrund der Umweltkrise verstanden werden. Zuerst widmete Sieferle in seiner Studie „Fort-schrittsfeinde“ Schultze-Naumburg mehrere Passagen; im Literaturverzeichnis finden sich neben der neunbändigen Buchserie der „Kulturarbeiten“ noch fünf weitere Literaturangaben des Architekten und Publizisten aufgeführt, was auf eine intensive Beschäftigung schließen lässt. Sowohl im Kapitel „Architektur-kritik“ (S. 174–181) als auch im Kapitel „Blut und Boden“ (S. 193–205) referiert und diskutiert Sieferle Positionen Schultze-Naumburgs. Plastisch habe der Archi-tekt zum Ausdruck gebracht, was viele seiner Zeitgenossen fühlten, er sei kei-neswegs ein Außenseiter gewesen.31 Im Resultat führt Sieferle hier die Position Schultze-Naumburgs als Bestätigung seiner etwas verklausulierten „These von der taxonomischen Symmetrie bei der Wahrnehmung von Kontraproduktivitäten des Industriesystems“ an.32 Das soll heißen, dass er anhand der von Schultze-Naum-burg in den „Kulturarbeiten“ vertretenen „utopisch-romantische[n] Position […]

Effekte und Tendenzen“ aufzeigen möchte, „die denjenigen entgingen, für die tra-ditionelle Strukturen nur etwas waren, worüber der Fortschritt

Effekte und Tendenzen“ aufzeigen möchte, „die denjenigen entgingen, für die tra-ditionelle Strukturen nur etwas waren, worüber der Fortschritt

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