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Der Fall Benjamin

Im Dokument für Antisemitismusforschung (Seite 177-200)

Hannah Arendt, das Institut für Sozialforschung und die Frage der Mitschuld

„Sie möchte am liebsten aus uns, die wir ihn schließlich allein 7 Jahre über Wasser gehalten haben, seine Mörder machen.“

Theodor W. Adorno, März 19681 Im Januar 1968 erschien in der Zeitschrift Merkur der erste von insgesamt drei Teilen eines längeren Essays von Hannah Arendt über den Schriftsteller Walter Benjamin.2 Dieser Text, der enorme Aufmerksamkeit erregen und Adorno zum zitierten Ausspruch reizen sollte, hatte eine dreißig Jahre zurückreichende Vor-geschichte, die im Folgenden nochmals unter einer bisher nicht betrachteten Per-spektive und unter Einbeziehung neuer Quellen aufgerollt werden soll.3 Der „Fall Benjamin“, so die hier vertretene These, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf das

1 Theodor W. Adorno, Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe, Frankfurt a. M.

1990, S. 98.

2 Hannah Arendt, Walter Benjamin. Teil I: Der Bucklige, in: Merkur 238 (Januar 1968), S. 50–65.

3 Zur Merkur-Debatte siehe bereits Burkhardt Lindner, Das Politische und das Mes-sianische: Hannah Arendt und Walter Benjamin. Mit einem Rückblick auf den Streit A rendt  – Adorno, in: Fritz Bauer Institut/Liliane Weissberg (Hrsg.), Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule, Frankfurt a. M./New York 2011, S. 209–230, sowie Liliane Weissberg, Ein Mensch in finsteren Zei-ten: Hannah Arendt liest Walter Benjamin, in: ebenda, S. 177–208, besonders S. 190–

194; Helgard Mahrdt, „Unausrottbar ist das Poetische solange es noch das Wundern gibt“ – Hannah Arendt über Walter Benjamin, in: Wolfgang Heuer/Irmela von der Lühe (Hrsg.), Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste, Göttingen 2007, S. 31–49.

Verhältnis zwischen Hannah Arendt und dem Institut für Sozialforschung, son-dern verdeutlicht auch die Schwierigkeit, im Schatten der nationalsozialistischen Judenverfolgung die Frage von Schuld, Unschuld und Mitschuld zu bestimmen.

Dies gilt speziell für Walter Benjamins Suizid im September 1940 auf der Flucht vor den Häschern des Nazi-Regimes.4 Nach der Besetzung und anschlie-ßenden Teilung Frankreichs im Juni 1940 zwischen einer deutschen Besatzungs-zone im Norden und der Machtübernahme Marschall Pétains im Süden, der mit den Nazis kollaborierte, hatte Benjamin keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als über Spanien und Portugal nach Nordamerika zu fliehen. Das bereits emig-rierte Institut für Sozialforschung hatte ihm in allerletzter Minute ein Einreise-visum in die USA verschafft, doch als er mit einem Flüchtlingstreck im spanischen Grenzort Portbou ankam, wurde ihm wegen eines fehlenden Ausreisevisums der Grenzübertritt verweigert. Benjamin, den ein Herzleiden dazu zwang, alle drei bis vier Minuten auf der Straße stehen zu bleiben, nahm sich aus Verzweiflung in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 mit einer Überdosis Morphium-tabletten das Leben.5

Alle an der Debatte im Jahr 1968 Beteiligten  – Hannah Arendt, Gershom Scholem, Theodor Adorno und Friedrich Pollock – waren zu Benjamins Lebzeiten eng mit diesem befreundet und schockiert gewesen, als sie die Schreckensnach-richt von seinem Tod erreichte. Für alle von ihnen hatte der Tod des von ihnen auf je eigene Weise bewunderten Benjamin etwas Emblematisches. Noch 1947 schrieb Arendt an Scholem, sie habe sich „mit Walters Tod nie abfinden können und […] infolgedessen in all den Jahren, die seit seinem Tod verstrichen sind, nie-mals die nötige Distanz gewonnen, um ‚über‘ ihn schreiben zu können“.6 Scho-lem veröffentlichte seine Erinnerungen an Walter Benjamin erst 1965, und sogar Adorno, der als erster überhaupt nach Benjamins Tod über diesen schrieb, glaubte,

4 Zur Biografie siehe Howard Eiland/Michael W. Jennings, Walter Benjamin: A Critical Life, Cambridge u. a. 2014; Eli Friedlander, Walter Benjamin. Ein philosophisches Por-trait, München 2013 sowie Lorenz Jäger, Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollende-ten, Berlin 2017.

5 Vgl. Bernd Witte, Walter Benjamin. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rein-bek 1985, S. 132.

6 Hannah Arendt an Gershom Scholem, 19. 3. 1947, in: Detlev Schöttker/Erdmut Wizisla (Hrsg.), Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, Frankfurt a. M. 2006, S. 171.

dass „durch diesen Tod […] die Philosophie um das Beste gebracht worden war, was sie überhaupt hätte erhoffen können“.7 Alle drei fühlten sich verpflichtet, die Erinnerung an Walter Benjamin aufrechtzuerhalten – wer dieser Walter Benjamin allerdings wirklich war, darüber bestand alles andere als Einigkeit.

I. Hannah Arendts Benjamin-Essay

Der Veröffentlichung von Arendts Essay war eine Benjamin-Kontroverse vor-ausgegangen, die durch eine Rezension der kurz zuvor von Scholem und Adorno herausgegebenen zweibändigen Briefausgabe ausgelöst worden war. Der Schrift-steller Helmut Heißenbüttel hatte im Merkur in scharfen Worten eine „Retouche am Spätwerk Benjamins“ moniert. Die Herausgeber der Briefausgabe, so stellte er fest, hätten die marxistisch-materialistische Komponente und insbesondere den Einfluss Brechts getilgt. „Das Werk erscheint in einer Uminterpretation, in der der überlebende kontroverse Briefpartner [d. i. Adorno] seine Auffassung durchsetzt.“8 Diese Kritik war Anlass für ein Themenheft zu Benjamin in der der Neuen Linken nahestehenden Literaturzeitschrift Alternative. Die im Oktober 1967 erschienene Doppelausgabe wärmte Heißenbüttels Vorwürfe wieder auf und spitzte sie sogar noch zu. Daraufhin erschienen auch in der Frankfurter Rundschau und in der Zeitschrift Argument zahlreiche kritische Beiträge, sodass sich am Ende sogar der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, der Benjamin-Mitherausgeber Rolf Tiede-mann sowie Adorno selbst gezwungen sahen, sich zu Wort zu melden.9

Arendt nahm nicht an der Auseinandersetzung teil, aber dürfte sie als lang-jährige Autorin des Merkur aufmerksam verfolgt haben, zumal sie seit Langem einen Groll gegen das Institut hegte und schon seit den vierziger Jahren, als sie

7 Theodor W. Adorno, Erinnerungen an Benjamin [1966], in: Über Walter Benjamin, Frankfurt a. M. 1968, S. 15.

8 Helmut Heißenbüttel, Vom Zeugnis des Fortlebens in Briefen, in: Merkur 228 (März 1967), S. 240.

9 Siegfried Unseld, Zur Kritik an den Editionen Walter Benjamins, in: Frankfurter Rund-schau, 24. Januar 1968; Rolf Tiedemann, Zur Beschlagnahme Walter Benjamins oder Wie man mit der Philologie Schlitten fährt, in: Das Argument 10 (1968) 1/2, S. 74–93;

Theodor W. Adorno, Interimsbescheid, in: Frankfurter Rundschau, 6. März 1968, S. 12.

Benjamins Nachlass an Adorno übergeben hatte, mutmaßte, dieser manipuliere Benjamins Werk.10 Sie fasste den Plan, sich mit einem eigenen Essay zu Wort zu melden, und kontaktierte dafür unter dem Vorwand, ein unbekanntes Manu-skript der Geschichtsthesen zu besitzen, Theodor Adorno.11

Arendt ging in dem Briefwechsel zwei Fragen nach, die sie besonders beschäf-tigten. Zum einen erkundigte sie sich bei Adorno nach abweichenden Textversionen von Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Ihr eigenes handschrift-liches Exemplar, das ihr Benjamin kurz vor seiner Flucht in Paris übergeben hatte und das an einigen Stellen von der Version abwich, die in den 1955 von Adorno herausgegebenen „Schriften“ abgedruckt war, stellte sie dem Institut bereitwillig als Kopie zur Verfügung.12 Aber nicht ganz ohne Hintergedanken. Arendt wollte nämlich wissen, ob Adorno, der an der Ausgabe beteiligt gewesen war, in den Text eingegriffen und ihn in seinem Sinne verändert hatte. Dieser verneinte das und wies auf unterschiedliche Versionen hin, die ihm vorlägen  – zu Recht, wie wir heute wissen.13 Interessanterweise fehlt ausgerechnet in Arendts handschriftlicher Version, die wahrscheinlich die älteste existierende ist, die später als These VII v eröffentlichte Passage, die mit einem Brecht-Zitat eingeleitet wird.14

10 Siehe etwa Hannah Arendt an Heinrich Blücher, 2. 8. 1941, in: Schöttker/Wizisla (Hrsg.), Arendt und Benjamin, S. 146, wo es heißt, sie könne „die Schweinebande“ vom Insti-tut „alle miteinander glatt morden“, weil diese angeblich Benjamins Geschichtsthesen unterschlagen wolle – was nicht der Fall war, denn schon 1942 wurden sie vom Institut publiziert. Zur Beziehung zwischen Arendt und dem Institut siehe auch Seyla Benhabib, Hannah Arendt und die Frankfurter Schule. Geteiltes Schicksal und antagonistische Persönlichkeiten, in: Monika Boll/Raphael Gross (Hrsg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland, Göttingen 2009, S. 170–177.

11 Hannah Arendt an Theodor W. Adorno, 30. 1. 1967, in: Schöttker/Wizisla (Hrsg.), Arendt und Benjamin, S. 175. Arendt und Adorno hatten sich bereits um 1930 kennengelernt, als Arendt mit ihrem damaligen Ehemann Günter Stern für einige Zeit in Frankfurt lebte.

12 Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: ders., Schriften, Bd. 1, hrsg.

von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno unter Mitwirkung von Friedrich Podszus, Frankfurt a. M. 1955, S. 494–506.

13 Vgl. Jeanne Marie Gagnebin, Über den Begriff der Geschichte, in: Burkhardt Lind-ner (Hrsg.), Benjamin Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2006, S. 284–300.

14 Das Faksimile des Manuskripts ist abgedruckt in: Schöttker/Wizisla (Hrsg.), Arendt und Benjamin, S. 99–119.

Die zweite Frage, die Arendt umtrieb, war die nach Benjamins Baudelaire-Aufsatz, der 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen, aber nicht in die zweibändige Benjamin-Ausgabe eingegangen war.15 Arendt wusste aus Gesprächen mit Benjamin, dass der Veröffentlichung 1939 tief greifende Diskus-sionen vorausgegangen waren, da die Redaktion mit dem ursprünglichen Manu-skript nicht zufrieden gewesen war. Der Text, den Benjamin der Redaktion mit zeitlicher Verzögerung vorgelegt hatte, war für das Zeitschriftenformat vollkom-men ungeeignet, da er alleine vom Umfang her ein gesamtes Heft in Anspruch genommen hätte.16 Aus pragmatischen Gründen hatte der stellvertretende Insti-tutsdirektor Friedrich Pollock im Rahmen eines Paris-Aufenthaltes Benjamin in einem längeren Gespräch vorgeschlagen, einen der drei Teile des Textes in einen 40- bis 50-seitigen Aufsatz umzuarbeiten, was letztlich auch geschah.17 Adorno hatte Benjamin zudem in einem langen Brief erhebliche inhaltliche Verbesse-rungsvorschläge gemacht, worauf dieser, wie man sich vorstellen kann, nicht freudig reagierte, deren Berechtigung er aber teilweise zugestand.18 Am Ende erschien eine erheblich von der ursprünglichen Version abweichende Fassung – was, wie Gregor Sönke-Schneider gezeigt hat, nicht unüblich für die Zeitschrift war, da die Redaktion oft in Texte eingriff, wenn sie nicht mit diesen einverstan-den war.19 Dies hatte allerdings weniger mit einer einheitlichen theoretischen oder gar politischen Position zu tun als vielmehr mit dem Anspruch, die Texte in einem kollektiven Prüfungsverfahren besser zu machen. Die Zeitschrift war

15 Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: Studies in Philosophy and Social Science VIII (1939) 1, S. 50–91.

16 Alle drei Teile sind schließlich 1974 in Band I/2 der von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser herausgegebenen Gesammelten Schriften [im Folgenden BGS] mit einer Gesamtlänge von 181 Seiten erschienen.

17 Walter Benjamin an Max Horkheimer, 16. 4. 1938, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften [im Folgenden: HGS], Bd. 16: Briefwechsel 1937–1940, Frankfurt a. M. 1995, S. 434.

18 Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, 10. 11. 1938, in: Theodor W. Adorno/Walter Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, Frankfurt a. M. 1994, S. 364–374; Walter Benjamin an Theodor W. Adorno, 9. 12. 1938, in: Walter Benjamin, Gesammelte Briefe [im Folgen-den: BGB], Bd. VI: 1938–1940, Frankfurt a. M. 2000, S. 181–191.

19 Vgl. Gregor Sönke-Schneider, Keine Kritische Theorie ohne Leo Löwenthal. Die Zeit-schrift für Sozialforschung (1932–1941/42), Frankfurt a. M. 2014, S. 8–16.

ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem zwar Horkheimer das letzte Wort hatte, das aber von den intensiven Debatten innerhalb der Redaktion lebte. Als Arendt sich 1967 an Adorno wandte, um von ihm Genaueres darüber zu erfahren, warum die ursprüngliche Fassung des Textes nicht in seine Benjamin-Ausgabe aufgenommen worden war, erwiderte dieser, ganz in diesem Sinne, „dass nämlich dieser Text mir dem ungeheuren Anspruch, der objektiv von Benjamins Konzeption ausgeht, nicht gerecht zu werden schien“.20

Arendt hatte damit zwei Vermutungen verifiziert, die nicht unwesentlich dafür gewesen waren, nach all den Jahren einen Essay über Benjamin zu veröffent-lichen. Sie war noch immer fest davon überzeugt, dass Adorno Benjamins Werk manipulierte, um ihn in seinem Sinne zu retouchieren. Im Oktober 1967 schickte sie den ersten von insgesamt drei Teilen des Essays an den Chefredakteur des Merkur, Hans Paeschke. Dieser zeigte sich angetan und schrieb ihr: „Liebe gnä-dige Frau, es fällt mir schwer, nicht pathetisch zu werden. Aus 21 ‚Merkur‘-Jahren wüsste ich nur ganz wenige Beispiele zu nennen, die sich dieser magistralen und Maßstäbe setzenden Deutung an die Seite stellen lassen […]. Ich danke Ihnen und bin richtig ein bisschen stolz, dass ich diese Arbeit bringen kann, in den Heften Januar bis März 1968.“21 Schon ahnend, dass die Veröffentlichung Widerspruch erregen würde, fügte er hinzu: „Auf Erwiderungen von Scholem und Adorno wer-den Sie vorbereitet sein.“ Doch er beruhigte Arendt und wohl auch ein bisschen sich selbst, indem er ihren gemäßigten Ton lobte: „Ihrem fortiter in re, suaviter in modo gegenüber möchte ich vermuten, dass jedenfalls Adorno nicht viel Laut gibt.“22

Was aber stand nun in dem Text, dass sich Paeschke schon im Vorhinein so ausgiebig Gedanken über mögliche Reaktionen machte? Arendt porträtierte Ben-jamin vor allem als homme de lettres und kontrastierte ihn damit der Interpre-tation Adornos, der ihn als Philosophen darstellte, der Scholems, welcher stets Benjamins Interesse am Judentum stark machte, und auch der Brechts, der ihn als Marxisten schätzte. Für sich genommen wäre diese Charakterisierung legitim

20 Theodor W. Adorno an Hannah Arendt, 22. 2. 1967, in: Schöttker/Wizisla (Hrsg.), A rendt und Benjamin, S. 179.

21 Hans Paeschke an Hannah Arendt, 27. 10. 1967, in: ebenda, S. 182.

22 Ebenda, S. 182 f.

gewesen, zumal Benjamin sicherlich alle diese Zuschreibungen akzeptiert hätte.

Er war Marxist, Schriftsteller, Übersetzer, Literaturkritiker, Dichter, Philosoph und Jude zugleich, daran bestand wenig Zweifel. Es hing dann von der Perspektive ab, welchen Aspekt man jeweils stärker gewichtete, und ohne Frage war Adorno speziell der Brecht-Einfluss auf Benjamin zuwider, während Arendt Adornos Bemühungen verabscheute, Benjamin zu dialektisieren.

Arendt beließ es aber nicht bei ihrer abweichenden Einordnung von Benja-mins Werk, sondern verknüpfte diese mit einem schier unglaublichen Vorwurf:

Sie gab dem Institut  – und speziell Adorno und Pollock  – eine Mitschuld am Tod Benjamins! Arendt betonte, dass Benjamin immer sehr vorsichtig gewesen sei, und das gelte besonders für die „letzten, für ihn tödlich ernsten Konflikte[ ] mit dem Institut für Sozialforschung, von dem sein Lebensunterhalt in dauernder Ungewissheit abhing. Wenn er im April 1939 schreibt, er lebe ‚in Erwartung einer über mich hereinbrechenden Unglücksbotschaft‘, so meinte er damit nicht den kommenden Krieg, sondern die Nachricht, das Institut würde ihm die monat-liche Rente nicht mehr zahlen.“23 Zwar erwähnte sie am Ende des Textes, dass das I nstitut Benjamin ein Ausreisevisum in die USA verschafft und ihn somit zu retten versucht hatte, aber der Vorwurf, am Tod mitschuldig zu sein, überstrahlte diese Konzedenz bei Weitem. Noch einmal: Arendt behauptete, die Konflikte, die Benjamin mit dem Institut über die Höhe seines Gehalts hatte, seien für ihn töd-lich ernst gewesen. Angesichts der Tatsache, dass Benjamin sich aus Verzweiflung an der französisch-spanischen Grenze das Leben genommen hatte, ist das ein g ravierender Vorwurf.

So gravierend, dass sich Friedrich Pollock, der sich seinerzeit um die finanzi-ellen Belange des Instituts gekümmert hatte, genötigt sah, am 29. März 1968, nach Erscheinen des letzten Teils des Benjamin-Essays, einen Brief an den Merkur zu senden, in dem er Arendts Anschuldigungen entgegentrat und vor allem Adorno entlastete.24 In dem Brief ging er auf drei Aspekte ein: Erstens sei Adorno nicht, wie

23 Hannah Arendt, Walter Benjamin, in: ebenda, S. 51 f.

24 Friedrich Pollock, Zu dem Aufsatz von Hannah Arendt über Walter Benjamin, in: Mer-kur 242 (1968), S. 576. Siehe zur Datierung auch Hans Paeschke an Friedrich P ollock, 5. 4. 1968, Deutsches Literaturarchiv (DLA) Marbach, Nachlass Merkur, Signatur 80.3/1.

von Arendt behauptet, Direktor des Instituts gewesen, sondern nur Mitarbeiter.

Deshalb habe er auch nicht über die endgültige Aufnahme oder Ablehnung eines Beitrags für die Institutszeitschrift entschieden. Diese Entscheidung habe viel-mehr bei Horkheimer gelegen, der sich mit den übrigen Mitarbeitern abgestimmt habe. Zweitens habe Adorno sich stets für Benjamin eingesetzt, weshalb Benjamin auch ein Stipendium erhalten und das Institut alle Kosten für seine Emigration in die USA getragen habe. In New York sei ein normales Gehalt als Mitarbeiter für ihn budgetiert gewesen. Drittens seien Zeitpunkt und Höhe des Stipendiums nie von theoretischen Streitigkeiten abhängig gewesen, sondern einzig von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln des Instituts. Er betonte, für seine Angaben stehe „dokumentarischer Beweis“ zur Verfügung, sollte Arendt diese anzweifeln. Bis auf den von Pollock verschwiegenen Umstand, dass das Institut Benjamin 1939 nahelegte, die nötigen Mittel für die Überfahrt – wenn möglich durch den Verkauf des berühmten Klee-Gemäldes „Angelus Novus“ – selbst auf-zutreiben, Horkheimer aber gleichzeitig versichert hatte, das Institut würde die etwaige Differenz übernehmen, sollte der Verkauf des Klee wider Erwarten nicht genügend Geld einbringen, sind alle von Pollock angeführten Punkte unbestreit-bar korrekt.

Pollock hatte gehofft, Arendt würde möglicherweise eine Richtigstellung pu blizieren. Er hatte keine Lust auf eine öffentliche Schlammschlacht, aber P aeschke bedrängte ihn, seinen Brief abdrucken zu dürfen. Es war hier der Verleger, der aus Paeschke sprach: Eine Fortführung der Debatte mit neuen und ja durchaus prominenten Teilnehmern würde schließlich die öffentliche Aufmerk-samkeit und damit auch die Auflage steigern. „Angesichts der augenblicklichen, zum Teil polemisch beabsichtigten Veröffentlichungen über und um Benjamin“, umschmeichelte Paeschke Pollock, „hat Ihre Zuschrift den ganzen Wert der Authentizität und ist deshalb von besonderer Bedeutung für unsere intellektuelle Öffentlichkeit.“25 Dass Arendts Essay, von dem er sich anfangs doch so begeistert gezeigt hatte, nicht weniger polemisch gewesen war als die Beiträge in der Alter-native, erwähnte er nicht. Pollock ließ sich dennoch umstimmen und willigte in die Veröffentlichung seines Briefes ein, der im Juni-Heft auch erschien.

25 Hans Paeschke an Friedrich Pollock, 17. 4. 1968, DLA Marbach, Nachlass Merkur, Sig-natur 80.3/2.

Damit schien die Sache erledigt zu sein, wenn nicht Arendt im Oktober 1968 noch einmal nachgelegt hätte. Zwar schwächte sie in einer überarbeiteten Fassung des Essays, der fast gleichzeitig im New Yorker, in der Aufsatzsammlung „Men in Dark Times“ und auch noch als Einleitung in dem von ihr herausgegebenen Ben-jamin-Band „Illuminations“ im Schocken Verlag erschien, die Vorwürfe ab, fügte dafür aber eine neue Stelle ein, die gerade Adorno  – der vier Jahre zuvor seine große Heidegger-Kritik „Jargon der Eigentlichkeit“ veröffentlicht hatte – als unge-heure Provokation empfunden haben dürfte. Es heißt dort: „Without realizing it, Benjamin had actually more in common with Heidegger’s unusual feeling for living eyes and living bones […] than he had with the dialectical subtleties of his Marxist friends.“26 Hannah Arendt, die Schülerin und einstige Geliebte des nationalsozia-listischen Philosophen Martin Heidegger, die in den sechziger Jahren viel dafür getan hatte, dessen Ruf wieder herzustellen, behauptete also in aller Öffentlichkeit, Benjamins Denken habe mehr mit dem Lobredner des Führers zu tun als mit den Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung.27 Friedrich Pollock markierte sich genau diese Stelle in seinem persönlichen Exemplar des New Y orker.28

In einer zeitgleich veröffentlichten Antwort auf Pollock im Merkur wieder-holte Arendt zudem ihren Angriff noch einmal in anderen Worten: „Dass das S tipendium des Instituts durchaus von der Aufnahme abhing, die Benjamins Arbeiten dort fanden, war wohl von Anfang an klar“, behauptete Arendt.29 Das kleine, unscheinbare Wörtchen „wohl“ indiziert bereits, dass es sich hier ein-zig um eine Spekulation Arendts handelte, die partout nicht von ihrer Position ab rücken wollte, dass es die vermeintliche „Bedrohung“ durch das Institut war, die für Benjamins Verzweiflungstat mitverantwortlich gewesen war.

26 Hannah Arendt, Walter Benjamin, in: The New Yorker 44/5 (19. Oktober 1968), S. 150.

27 Zu Heideggers philosophischem Nationalsozialismus siehe Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1989; Tom Rockmore, On Heidegger’s Nazism and Philosophy, 2. Aufl., Berkeley 1997; Emmanuel Faye, Heidegger. Die Ein-führung des Nationalsozialismus in die Philosophie, Berlin 2009. Zu Arendts Haltung gegenüber Heidegger siehe Richard Wolin, Heidegger’s Children. Hannah Arendt, Karl Löwith, Hans Jonas, and Herbert Marcuse, Princeton/Oxford 2001, S. 31–69.

28 Aufbewahrt im Fondo Pollock, Università degli Studi Firenze, Biblioteca umanistica, Dokument 2.2.6.

29 Hannah Arendt, Walter Benjamin und das Institut für Sozialforschung – noch einmal, in: Merkur 246 (1968), S. 968.

Dabei belegen die Fakten das genaue Gegenteil: Die Unterstützung durch das Institut war der letzte Strohhalm, an den sich der zunehmend verzweifelte Ben-jamin klammerte. Verzweifelt war er nicht deshalb, weil ihn das Institut bedroht

Dabei belegen die Fakten das genaue Gegenteil: Die Unterstützung durch das Institut war der letzte Strohhalm, an den sich der zunehmend verzweifelte Ben-jamin klammerte. Verzweifelt war er nicht deshalb, weil ihn das Institut bedroht

Im Dokument für Antisemitismusforschung (Seite 177-200)