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DerVersuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklärenerschien 1790 und wurde wieder abgedruckt in dem ersten der sechsMorphologischen Hefte, die Goethe zwischen 1817 und 1824 erscheinen ließ und in denen er im Zusammenhang mit unveröffentlichten Arbeiten, wie z.B. den Aufsätzen zum Zwischenkieferknochen und zur vergleichenden Anatomie, seine Gedanken zur morphologischen Metho-de entwickelte.

Der Aufsatz steht hier inmitten einer locker geordneten Reihe von Aufsätzen, die sich alle um ein Thema drehen: um die beiden schon seit langer Zeit im Konflikt befindlichen antipodischen Formen der Naturerkenntnis und ihre Ver-mittlung durch eine „naturgemäße“Darstellung. Es sind jene Gegensätze, die schon in dem AufsatzNaturlehrevon 1789 auftreten.

Goethe schildert in den ersten zwei Sätzen derMorphologischen Hefte die Auseinandersetzung mit der Natur als Hin und Her einer dialektischen Wechsel-wirkung zwischen Subjekt und Objekt, bei der die Form, dass der Geist sich produziert und sich die Natur unterwirft, und die andere, dass die Gegenstände auf ihn einwirken und er sie rezipiert, einander abwechseln und sich verschrän-ken. Die Einsicht in diese Wechselwirkung zwischen dem einen Subjekt und der Vielheit der Gegenstände führt dann zu einer Stufe des Bewusstseins, auf der der Mensch eine unendliche Mannigfaltigkeit des Gegenstandes und die Möglichkeit einer analog unendlich vielseitigen Ausbildung seiner Erkenntniskräfte bemerkt.

Das Denkmodell von Hegels Phänomenologie des Geistes (1806/07) scheint an dieser Stelle – der Aufsatz Das Unternehmen wird entschuldigt entstand laut Tagebuch am 10. November oder 6. Dezember 1806–in Kürze entwickelt.

Gegenüber dem„Glücks“fall einer solchen Vermittlung zwischen den Gegen-sätzen in einer Person beschreibt Goethe dann ihr Auseinandertreten in die

Extreme der einseitig rezeptiven Analyse und der einseitig produktiven Synthese.

Die Stelle zeigt, in welcher Weise er seine Lehre von den Typen wissenschaftli-chen Verhaltens weiterentwickelt und sie auch hier mit dem Terminologie-Thema– das Bild der‚Münze‘ist dafür charakteristisch (vgl. LA I, 11: 56; vgl.

Weinrich 1958)–in Verbindung bringt:

Dem Verständigen, auf das Besondere Merkenden, genau Beobachtenden, auseinander Trennenden ist gewissermaßen das zur Last was aus einer Idee kommt und auf sie zurück-führt. Er ist in seinem Labyrinth auf eine eigene Weise zu Hause, ohne daß er sich um einen Faden bekümmerte, der schneller durch und durch führt; und solchem scheint ein Metall, das nicht ausgemünzt ist, nicht aufgezählt werden kann, ein lästiger Besitz; dahingegen der, der sich auf höhern Standpunkten befindet, gar leicht das einzelne verachtet, und dasjenige was nur gesondert ein Leben hat, in eine tötende Allgemeinheit zusammenreisst.

In diesem Konflikt befinden wir uns schon seit langer Zeit. (LA I, 9: 5f.)

Goethe beschäftigt sich hier in allgemeiner, unterminologischer Weise mit jener Antithese in der europäischen Philosophiegeschichte, die Adorno in seiner kürz-lich veröffentkürz-lichten Vorlesung überPhilosophische Terminologiein ihren histori-schen Ausprägungen durchgeht: als Gegensatz zwihistori-schen‚Idealismus‘und‚ Rea-lismus‘,‚Rationalismus‘und‚Empirismus‘,‚Spiritualismus‘und‚Materialismus‘, teils auch als den zwischen dem mittelalterlichen Begriffs-‚Realismus‘und dem

‚Nominalismus‘(Adorno 1974a: 16f., 23, 56, passim). Manches aus der Dialektik Adornos liest sich wie ein Kommentar zu Goethes Erkenntnislehre:

Alles Einzelne hängt von dem Ganzen ab, innerhalb dessen es seinen Stellenwert einnimmt.

Das Modell, an dem Sie sich das am besten klarmachen können, ist die Gesellschaft, in der wir leben. Ihr können wir auch nicht wirklich nahekommen durch das, was man heute Mikrosoziologie nennt, also durch die bloße begriffslose Beschreibung einzelner sozialer Fakten und Strukturen, weil alle diese einzelnen Fakten und Strukturen ihre Bedeutung nur gewinnen innerhalb des Zusammenhangs aller gesellschaftlicher Momente zu einer Totali-tät; diese Totalität kann aber selber ein unmittelbar Gegebenes, ein Faktisches ihrem eigenen Wesen nach niemals werden. Indem ich diese beiden Extreme Ihnen erläutere, mögen Sie daran bereits etwas konkreter sich vorstellen können, was ich gemeint habe damit, daß die beiden Typen von Denken wechselseitig aufeinander verwiesen seien. Ich habe versucht, Ihnen das ex contrario daran zu zeigen, daß das Denken in dem Augenblick, da das eine Moment auf Kosten des anderen isoliert hervorgehoben wird, überhaupt auf-hört, Denken zu bleiben. Auf der einen Seite ist es dann in Gefahr, in Dogmatismus, in Willkür umzuschlagen, und auf der anderen zu sturem Banausentum zu werden, das schließlich eine solche Gestalt annehmen kann, daß der Gedanke überhaupt darauf ver-zichtet, das, was ihm gegenüber und was sein Gegenstand ist, noch zu begreifen, und sich lediglich dabei bescheidet, es zu registrieren, zu klassifizieren und zu ordnen. Es steht also dahinter eigentlich der Typus der auf das Denken oder die Philosophie übertragenen Bürokratie. (Adorno 1974a: 33, vgl. 37)

Adorno beschreibt hier die gleichen Vereinseitigungen, die Goethe unter dem Namen der „Verständige“ und dem, der „auf einem höheren Standpunkt sich befindet“, beschreibt.

Goethe nimmt die Reflexion über die beiden gegensätzlichen Verfahrens-weisen in dem nächsten Aufsatz (Die Absicht eingeleitet) wieder auf und würdigt zuerst die positiven Leistungen der analytischen Empirie–als Beispiel nennt er Chemie und Anatomie–, erwähnt ihre Nachteile und leitet dann über zu der die äußeren, sichtbaren, greifbaren Teile im Zusammenhang erfassenden und das Ganze in der Anschauung„gewissermaßen“beherrschenden Morphologie. Ver-schiedene Bestrebungen in Kunst, Wissen und Wissenschaft konvergieren nach Goethe in dieser Lehre. Er betont ihre Nähe zum„Kunst- und Nachahmungstrieb“ (LA I, 9: 7). Das Motiv findet sich während der Italienischen Reise als ein Rivalisie-ren mit der Natur („Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll“; 17. Mai 1787 an Herder) und kehrt in denMorphologischen Heftenmehrfach wieder, am ehesten programma-tisch in den Überlegungen zur unfreundlichen Aufnahme derMetamorphose der Pflanzen:

Nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß daß Wissenschaft aus Poesie sich entwickelt habe, man bedachte nicht, daß nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten. (LA I, 9: 67; vgl. 20f., 62)

Das Wesen der Morphologie wird von Goethe in einer Überlegung zu den Wörtern

‚Gestalt‘ und ‚Bildung‘erläutert.‚Gestalt‘bezeichnet etwas als „abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert“.‚Bildung‘ hat dagegen zwei Bedeutungsvari-anten, es bezeichnet den Vorgang und das Ergebnis, kann als Nomen agentis und Nomen acti gebraucht werden. Durch diese Verbindung der komplementären Gegensätze‚Bewegung‘und‚Fixiertheit‘,‚Genese‘und‚Resultat‘, ‚dynamisches Geschehen‘und‚statisches Ergebnis‘liegt in dem Wort jene Synthese, um die es Goethe im Begriff des anatomischen Typus und bei der Metamorphose der Pflan-zen gegangen war (vgl. Fleischer 1969: 150ff., Grebe 1966: §4125).„Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten, als von dem Her-vorgebrachtwerdenden gehörig genug zu brauchen pflegt.“

Das Gleiche wird im Folgenden theoretisch expliziert, wenn Goethe von den Organismen als„Versammlung“selbständiger organischer Wesen spricht,„die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können“. Er nennt Pflanze und Baum als Beispiele. Die Teile können einander mehr oder weniger ähneln oder gleichen.

„Daß nur das, was der Idee nach gleich ist, in der Erfahrung entweder als gleich, oder als ähnlich, ja sogar als völlig ungleich und unähnlich erscheinen kann,

darin besteht eigentlich das bewegliche Leben der Natur, das wir in unseren Blättern zu entwerfen gedenken.“(LA I, 9: 8f.)

In der Linie der gegensätzlichen wissenschaftlichen Verfahrensweisen er-scheint Linné, wie schon ausgeführt (vgl.Kap.I, 2), rückblickend als der grund-sätzliche wissenschaftliche Antipode der morphologischen Methode. Der Gegen-satz ist nicht einfach der zwischen Analyse und Synthese, sondern zwischen einem primär analytischen Verfahren, das zu einer willkürlichen, künstlichen Synthese seine Zuflucht nimmt, und einem primär synthetischen Verfahren, das die Einzelheiten in einer naturgemäßen Synthese zusammengreift. Rezeptives und produktives Verhalten gibt es auf beiden Seiten, aber Goethe sieht sich auch im Hinblick auf die ganzen Phänomenbereiche als den Rezeptiven (vgl. auch LA I, 9: 297) und drückt sich passivisch aus, während ihm Linné als‚Gesetzgeber‘, als

„Nomothetes“erscheint und er ihn in einem ausgeführten Bild als Staatsgründer, der nicht die Natur und das Bedürfnis der Bürger, sondern die Aufgabe ihrer Bändigung im Auge hat, vorstellt (LA I, 9: 20). Goethe grenzt sich in den Auf-sätzenGeschichte meines botanischen StudiumsundEntstehen des Aufsatzes über Metamorphose der Pflanzen–beides zusammen Grundlage der Geschichte seiner botanischen Studien von 1831 – in ungewohnt scharfen Worten von seinem Antipoden ab und charakterisiert ihn durch die Begriffe‚Terminologie‘,‚ Kunst-gebäude‘, ‚absondern‘,‚treffende, zweckmäßige, oft aber willkürliche Gesetze‘,

‚mit Gewalt auseinanderhalten‘,‚System‘(LA I, 9: 16, 18; vgl. 11). Dabei hat er zusammen mit dem unterschiedlichen Erkenntnisverhalten besonders das gegen-sätzliche Sprachverhalten im Auge. Über jene Schwierigkeit im Botanischen Garten Palermos, die Sprache Linnés auf die Phänomene anzuwenden, führt er hier aus:

Botanische Terminologie auf die Gegenstände anzuwenden, war mein gewissenhaftes Bemühen, dabei fand ich leider sehr oft große Störung. Wenn ich zum Beispiel an demsel-ben Stengel erst ein entschiedenes Blatt sah, das nach und nach zur Stipula ward, wenn ich an derselben Pflanze erst rundliche, dann eingekerbte, zuletzt gefiederte Blätter entdeckte, verlor ich den Mut, irgendwo einen Pfahl einzuschlagen, oder wohl gar eine Grenzlinie zu ziehen. Die schwerste Aufgabe schien mir jedoch Genera mit Sicherheit zu bezeichnen, ihnen die Spezies unterzuordnen. Wie es vorgeschrieben war wußte ich wohl, allein wie sollte ich eine sichere Anwendung hoffen, da man seit Linnés Zeiten manche Geschlechter in sich getrennt und zersplittert, woraus hervorzugehen schien, daß der erfahrenste und scharfsichtigste Mann mit der Natur nicht hat einig werden können. Der Konflikt in welchem die Varietäten und Spielarten mit den Hauptarten selbst befangen sind, machte mich abermals bedenklich. Niemand leugnete daß eine reichlich zufließende Nahrung den, unter gewissen Bedingungen, einer Pflanze zukommenden Charakter völlig aufzuheben ver-mögend sei. Und was sollte man von so vielen regellosen Mißbildungen halten?(LA I, 9:

19f.)

Die gleiche Schwierigkeit mit der Terminologie wird später einer der Anstöße zu Darwins Evolutionslehre (Darwin 1863, 2.Kap.). In der Geschichte der botanischen Studien von 1831 ist der Gegensatz gegen den Antipoden Linné zurückhaltender ausgesprochen. Er wird, die eigene Position relativierend, zurückgeführt auf den Gegensatz zwischen einer ursprünglich dichterischen Konstitution und der Syste-matik der Wissenschaft, zwischen dem unterschiedlichen Verhältnis des Dichters und Wissenschaftlers zur Sprache. Erst an zweiter Stelle nennt Goethe hier die

„Versatilität der Organe“als Grund seines Widerspruchs:

Soll ich nun über jene Zustände mit Bewußtsein deutlich werden, so denke man mich als einen gebornen Dichter, der seine Worte, seine Ausdrücke unmittelbar an den jedesmaligen Gegenständen zu bilden trachtet, um ihnen einigermaßen genug zu tun. Ein solcher sollte nun eine fertige Terminologie ins Gedächtnis aufnehmen, eine gewisse Anzahl Wörter und Beiwörter bereit haben, damit er, wenn ihm irgendeine Gestalt vorkäme, eine geschickte Auswahl treffend, sie zu charakteristischer Bezeichnung anzuwenden und zu ordnen wisse.

Dergleichen Behandlung erschien mir immer als eine Art von Mosaik, wo man einen fertigen Stift neben den andern setzt, um aus tausend Einzelheiten endlich den Schein eines Bildes hervor zu bringen; und war mir die Forderung in diesem Sinne gewissermaßen widerlich.

Sah ich nun aber auch die Notwendigkeit dieses Verfahrens ein, welches dahin zweckte sich durch Worte, nach allgemeiner Übereinkunft, über gewisse äußerliche Vorkommenheiten der Pflanzen zu verständigen, und alle schwer zu leistenden und oft unsichere Pflanzen-abbildungen entbehren zu können; so fand ich doch bei der versuchten genauen Anwen-dung die Hauptschwierigkeit in der Versatilität der Organe. (LA I, 10: 331)

An dieser Stelle wird der Gegensatz zwischen dem dichterischen, individualisie-renden und abbildenden, subjektiven, induktiven Sprachtyp und dem wissen-schaftlichen, klassifizierenden und subsummierenden, objektiven, deduktiven Sprachtyp exakt beschrieben. Unmittelbare Abbildung der Natur und Einordnung in eine fertige Konvention sind der allgemeinste Nenner dieses Gegensatzes.

In den kurzen Aufsätzen, die derMetamorphose der Pflanzenim ersten Mor-phologischen Heftund am Beginn des zweiten folgen, finden sich mehrfach Über-legungen Goethes zu seiner Darstellungsmethode und ihrem Wahrheitsgehalt. In dem AufsatzVerfolgreflektiert Goethe u.a. Zusammenhänge zwischen der Form seines Aufsatzes und seiner Wirkungsgeschichte. Das erste Gespräch mit Schiller, von dem der AufsatzGlückliches Ereignisberichtet, entspann sich offenbar am Problem der naturwissenschaftlichen Darstellung. Schiller äußert sich kritisch über einen gemeinsam angehörten naturwissenschaftlichen Vortrag,„wie eine so zerstückelte Art die Natur zu behandeln, den Laien, der sich gern darauf einließe, keineswegs anmuten könne“. Goethe antwortet, „daß es doch wohl noch eine andere Weise geben könne die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend dar-zustellen“, und trägt zum Beweis die Metamorphose der Pflanzen vor (LA I, 9: 81).

Schillers berühmte Antwort,„das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee“, die Goethe zunächst so sehr beunruhigte, scheint er sich in einer die Schillersche Meinung abwandelnden Form zu eigen gemacht zu haben. In dem Aufsatz Ein-wirkung der Neueren Philosophie beschreibt Goethe seine Darstellung als ganz und gar rezeptives, passives, abbildendes Verfahren:

Fernerhin bei Darstellung des Versuchs der Pflanzen-Metamorphose mußte sich eine natur-gemäße Methode entwickeln; denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt ihr Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte, indem ich sie gewähren ließ, die Wege und Mittel anerkennen wie sie den eingehülltesten Zustand zur Vollendung nach und nach zu befördern weiß. (LA I, 9: 90)

In dem AufsatzAnschauende Urteilskraftsieht Goethe sich durch einen Abschnitt in KantsKritik der Urteilskraft(§77) bestätigt, in dem Kant von der Möglichkeit eines‚intellectus archetypus‘spricht, der„intuitiv ist, vomsynthetisch Allgemei-nen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besonderen geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen“. Goethe setzt das ‚Urbildliche‘, ‚Typische‘, dem er sich anzunähern gesucht habe und dessen „naturgemäße Darstellung“ ihm möglicherweise geglückt sei, in Parallele zu den Kantschen Ideen ‚Gott‘,

‚Tugend‘, ‚Unsterblichkeit‘, denen sich der Mensch als einer „oberen Region“ durch sittliche Selbststeigerung nähere (LA I, 9: 95f.). Goethe spielt hier auf eine Stelle bei Kant (1790: §80) an, wo Kant die Reihe der Geschöpfe hypothetisch aus einem generativen Prinzip herleitet.

Der für unsere Fragestellung aufschlussreiche AufsatzBedenken und Erge-bungknüpft daran an, indem er einen objektiven und einen subjektiven Begriff der‚Idee‘32einführt:„Wir können bei Betrachtung des Weltgebäudes, in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Teilbarkeit, uns der Vorstellung nicht erwehren daß dem Ganzen eine Idee zum Grunde liege, wornach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, schaffen und wirken möge.

Anschauung, Betrachtung, Nachdenken führen uns näher an jene Geheimnisse.

Wir erdreisten uns und wagen auch Ideen, wir bescheiden uns und bilden Begriffe, die analog jenen Uranfängen sein möchten.“(LA I, 9: 97) Goethe spricht von der Kluft, dem„Hiatus“zwischen Idee und Erfahrung. Der Philosoph möchte wohl recht haben, „welcher behauptet, daß keine Idee der Erfahrung völlig kongruiere, aber wohl zugibt, daß Idee und Erfahrung analog sein können, ja müssen“.

32 Zu der schon in der platonischen Philosophie angelegten Mehrdeutigkeit des Begriffs vgl.

Adorno 1974a: 54f.

Diese Inkongruenz liegt dem Vorwort zu denMorphologischen Heften nach darin, dass der Naturforscher ständig mit Phänomenen zu tun hat, die der Idee nach gleich sind und der Erfahrung nach oft ungleich. An dieser Stelle spricht Goethe aber von einem zeitlichen Aspekt dieses Verhältnisses zwischen Idee und Erfahrung, einer Inkongruenz in dem Subjekt des Forschers. In ihm stehen zwei Erfassungsweisen zueinander im Widerspruch, von denen die eine, die Idee, unabhängig von der Zeit, sozusagen blitzartig vorkommt, die andere, die Erfah-rung, an das Nacheinander der Wahrnehmungen gebunden ist und obendrein, wie angeführt, sich einer unterschiedenen Vielheit gegenüber sieht. Idee und Erfahrung sind daher schwer zu verbinden:

Eine Natureinwirkung die wir der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen. Der Verstand kann nicht vereinigt denken was die Sinnlichkeit ihm gesondert überlieferte, und so bleibt der Widerstreit zwischen Aufgefaßtem und Ideiertem immerfort unaufgelöst.

Deshalb wir uns denn billig zu einiger Befriedigung in die Sphäre der Dichtkunst flüchten und ein altes Liedchen mit einiger Abwechselung erneuern.

Das„alte Liedchen“, von dem hier die Rede ist, ist der Rat Mephistos in der Schülerszene des Faust, das‚Collegium Logicum‘zu besuchen. Mephisto charak-terisiert die Logik bekanntlich als eine künstliche Dressur des Geistes, als ein pedantisches, systematisches Nacheinander und eine klassifizierende Zerstücke-lung des Gegenstandes in seine Teile, denen nun das„geistige Band“fehle, und setzt dem schon hier als Alternative das Gleichnis vom Weben entgegen (Faust:

Vs. 1908ff.). Die Stelle ist schon im Urfaust (1775/76) vollständig vorhanden.

Goethe bezieht sie aber jetzt in denMorphologischen Heften offenbar auf sein Verhältnis zur logischen Systematik Linnés. Denn an der Stelle, wo er sich in dem erstenMorphologischen Heft von dem willkürlichen nomothetischen Verfahren Linnés absetzt, fährt er fort mit einer Charakteristik seines eigenen Ordnungs-verfahrens:

Da konnte mir denn ein ruhiger, bescheidener Blick sogleich die Einsicht gewähren, daß ein ganzes Leben erforderlich sei, um die unendlich freie Lebenstätigkeit eines einzigen Natur-reichs zu ordnen, gesetzt auch ein eingeborenes Talent berechtige, begeistere hierzu. Dabei fühlte ich aber daß für mich noch ein anderer Weg sein möchte, analog meinem übrigen Lebensgange. Die Erscheinungen des Wandelns und Umwandelns organischer Geschöpfe hatten mich mächtig ergriffen, Einbildungskraft und Natur schienen miteinander zu wett-eifern, wer verwegener und konsequenter zu verfahren wisse. (LA I, 9: 20f.)

So wie dieser Abschnitt beginnt auch das Gedicht am Schluss vonBedenken und Ergebung:

So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück.

Wie ein Tritt tausend Fäden regt Die Schifflein hinüber herüber schießen, Die Fäden sich begegnend fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt Das hat sie nicht zusammengebettelt, Sie hats von Ewigkeit angezettelt;

Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag werfen kann.

Der Gattungswechsel von der Philosophie in die Dichtung besagt: Der Konflikt zwischen Idee und Erfahrung lässt sich in der„Sphäre der Dichtkunst“lösen. Sie ist das geeignete Instrument zur gleichzeitigen Darstellung dessen, was Idee und Erfahrung auffassen, zu ihrer Vermittlung. Und die Art, wie sie zwischen beiden vermittelt, ist in dem‚Liedchen‘inhaltlich ausgesprochen: durch Nachahmung der Natur („So schauet mit bescheidnem Blick“). Diese verfährt nach Art des Webers, der mit einem Tritt und Schlag ein vielartiges Muster hervorbringt. Der Dichter als

‚Weber‘ – Goethe bedient sich, wenn er inkognito reiste, gerne dieses seinen Vorfahren (Textor) entlehnten Namens–ist der adäquate Interpret der Natur. In denParalipomena zur Geschichte der Farbenlehreheißt es, daß„Welt und Mensch rein zusammentreffe“, könne„nur im höhern Sinne in der Idee geschehen“.

Da die Idee selbst das Notwendigste ist, so deutet sie auch sogleich was außer ihr, in ihr, wie man will, daß Notwendigste sey.

Das erste ist so notwendig wie das letzte und das mittlere, und in der Idee trifft alles wieder zusammen.

Das erste ist so notwendig wie das letzte und das mittlere, und in der Idee trifft alles wieder zusammen.