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1 Der Aufsatz Naturlehre (1789). – Erste Entfaltung des Problems

In dem kurzen AufsatzNaturlehre(LA I, 11: 27–32), den Goethe 1789 imTeutschen Merkurveröffentlichte, ist das in dieser Arbeit entfaltete Problem in nuce enthal-ten. Der Aufsatz setzt sich mit der Frage auseinander, ob die Natur als ein Kontinuum aufzufassen sei, in dem die Einzelphänomene und Reiche als Glieder in einer großen, durch Übergänge und Analogien verbundenen Kette erscheinen, oder ob sie als diskontinuierlich, gesondert in die großen unverbundenen Reiche der Steine, Pflanzen und Tiere und ihre unzähligen Arten zu begreifen sei. Goethe nimmt damit Stellung zu einer Diskussion seiner Zeit. In der Geschichte der Naturwissenschaftvon Stephen Mason heißt es in einem Kapitel zur Naturwissen-schaft des 18.Jahrhunderts,„Evolution und die Kette der Lebewesen“:

Die Biologen der Neuzeit erbten aus der Antike zwei sich ziemlich widersprechende An-schauungen von der organischen Welt, die beide auf Aristoteles zurückgehen. Die eine von ihnen faßte die Mannigfaltigkeit der organischen Arten als eine Hierarchie von Geschöpfen mit verhältnismäßig großen Diskontinuitäten zwischen den einzelnen Gliedern auf. So gab es in der Hierarchie der Tiere bei Aristoteles nur elf verschiedene Klassen. Die andere Auffassung sah in Tieren und Pflanzen lauter Glieder einer großen Kette von Geschöpfen, die sich in unmerklichen Übergängen kontinuierlich aneinanderreihen. Aus beiden An-schauungen erwuchsen verschiedene Klassifizierungsweisen, die zum sogenannten künst-lichenund zumnatürlichenSystem führten. (Mason 1961: 394)

Die Idee der Kontinuität bzw. Diskontinuität in der organischen Welt war ver-bunden mit der einer von unten nach oben aufsteigenden Reihe der Naturwesen und -reiche.3Auch Linné war überzeugt von einer‚Kette‘der Naturwesen und

3Vgl. Kuhn 1971: 163:Das Natursystem des 13.Jahrhunderts war bestimmt durch den Gedanken einer aufsteigenden Reihe oder Stufenfolge der Natur. In Straßburg deduzierte sie Johann Hermann

baute sein System als Stufenfolge der Natur. Er gliederte die Natur in drei Reiche und definierte in der Nachfolge des Aristoteles:„Lapides crescunt. Vegetabilia crescunt & vivunt.Animaliacrescunt, vivunt & sentiunt. Hinc limites inter haecce Regna constituta sunt.”4Linné nahm offenbar eine Diskontinuität zwischen den hierarchisch gestuften Reichen an. Diese sind durch Merkmale definiert, die sich von Stufe zu Stufe summieren, so dass im Pflanzenreich das Mineralreich, im Tier-das Mineral- und Pflanzenreich‚aufgehoben‘ist.

Wenn man dagegen von der Vorstellung einer kontinuierlichen übergäng-lichen Stufenleiter ausging, so war eine spezielle Frage, ob an der Stelle, wo das Leben beginnt, eine tiefere Zäsur sei oder ob auch das Organische nach dem Leibniz’schen Prinzip‚natura non facit saltus‘aus dem Anorganischen hervor-geht. Johann Friedrich Blumenbach spricht 1789 in seinem kleinen WerkÜber den Bildungstrieb, dessen Begriffsbildung von Kant gelobt wurde und das Goethe zu seinem Aufsatz Bildungstrieb in den Morphologischen Heften veranlasste, von einer Kluft an der fraglichen Stelle:

Man kann nicht inniger von etwas überzeugt seyn, als ich es von der mächtigen Kluft bin, die die Natur zwischen der belebten und unbelebten Schöpfung, zwischen den organisirten und unorganischen Geschöpfen befestigt hat; und ich sehe bey aller Hochachtung für den Scharfsinn, womit die Verfechter der Stufenfolge oder Continuität der Natur ihre Leitern angelegt haben, nicht ab, wie sie beym Uebergange von den organisirten Reichen zum unorganischen ohne einen wirklichen etwas gewagten Sprung durchkommen wollen. Allein dieß hindert nicht, daß man darum nicht Erscheinungen in einem dieser beiden Haupttheile der Schöpfung zur Erläuterung von Erscheinungen im andern benutzen dürfte:

Als Erweis des„Bildungstriebes in den organisirten Reichen“, denen Blumenbach diesen Terminus (‚nisus formativus‘) ausdrücklich vorbehält, sieht er u.a. die

„Spuren von bildenden Kräften“(Plural) im unorganischen Reich.

in den von Goethe besuchten Vorlesungen. Linné ebenso wie Haller, Bonnet und Buffon erbauten ihre Natursysteme als große Stufenfolge. Das heißt, daß die natürlichen Dinge in einer großen Kette, eineréchelle des êtres naturellesaneinandergereiht sind. Sie führt von den einfachsten Stoffen, vom Flüssigen zum Festen und zum Kristall, weiter über den Anfang des Lebens zu der Reihe der Pflanzen und Tiere in einer Abfolge von Vervollkommnungen bis hin zum Menschen natürlich stand der Mann an höherer Stelle als die Frau!und über diesen hinaus zu den Engeln;

Gott an höchster Stelle, gleichzeitig als Schöpfer dieser geordneten Mannigfaltigkeit, beschließt das Kontinuum, dessen prinzipielle Lückenlosigkeit bestimmt ist durch das von Leibniz aufgestell-te Prinzipnatura non fecit saltus.Vgl. Kleinschnieder 1971: 33ff.; Lovejoy 1960.

4 Linné 1735: Observationes in Regna III. Naturae, 15; vgl. Linné 1770: 1; Burckhardt & Erhard 1921, I: 87f.

Man kann doch, um nur ein paar Beyspiele anzuführen, nichts ausnehmend eleganteres sehen, als gewisse metallische Crystallisationen, die in ihrer äußern Form eine so auffallen-de Ähnlichkeit mit gewissen organischen Körpern haben, daß sie ein sehr fügliches Bild geben, um die Vorstellung von der Formation aus ungebildeten Stoffen überhaupt zu erleichtern. So z.B. das gediegene sogenannte Farnkrautsilber [...] aus Peru. (Blumenbach 1791: 7981; vgl. Kant 1790: §81)

Kant (1790: §80) selbst äußert sich in einer sehr abgewogenen Formulierung zur Lehre von der kontinuierlichen Stufenfolge in der Natur und der Kluft zwischen ihren Reichen.

Die Vorstellung von der ‚échelle des êtres naturelles‘ (Bonnet) als eines lückenlosen Kontinuums wird in vielen Variationen von Herder in seinenIdeen zur Philosophie der Geschichte der Menschheitausgesprochen. Deren erster Teil (1784), der sich auf Bonnet, Buffon, Daubenton u.a. stützt und im Austausch und Streitgespräch mit Goethe entstand, ist der Natur gewidmet, der Erde und dem auf ihr entstandenen organischen Leben, seiner fortschreitenden Entwicklung bis zum Menschen und über ihn hinaus. Als die wesentlichen Gedanken erscheinen:

das Prinzip der S t e i g e r u n g in der Natur, die Idee e i n e r H a u p t f o r m , die dunkel im anorganischen Bereich beginnt und sich in der Entwicklung bis zum Menschen hin zunehmend verdeutlicht, und, damit eng zusammenhängend, die Idee einer durch die Stufenreihe der Gestalten der Natur hindurchgehenden A n a l o g i e .5

Das Werk hat auf Goethes Naturstudien sehr anregend gewirkt. In den Ge-sprächen während seiner Entstehung scheint die Frage der durchgängigen Ein-heit oder Diskontinuität eine besondere Rolle gespielt zu haben. Die Formulie-rung des folgenden Abschnitts kam nach einer Auseinandersetzung mit Goethe zustande:

Nun ist unläugbar, daß bei aller Verschiedenheit der lebendigen Erdenwesen überall eine gewisse Einförmigkeit des Baues und gleichsam E i n e H a u p t f o r m zu herrschen scheine, die in der reichsten Verschiedenheit wechselt. Der ähnliche Knochenbau der Landtiere fällt in die Augen: Kopf, Rumpf, Hände und Füße sind überall die Hauptteile; selbst die vornehmsten Glieder derselben sind nach Einem Prototyp gebildet und gleichsam nur unendlich variiret.

Der innere Bau der Tiere macht die Sache noch augenscheinlicher und manche rohe Gestalten sind im Inwendigen der Hauptteile dem Menschen sehr ähnlich. Die Amphibien gehen von diesem Hauptbilde schon mehr ab; Vögel, Fische, Insekten, Wassergeschöpfe noch mehr, welche letzte sich in die Pflanzen- oder Steinschöpfung verlieren. Weiter reicht unser Auge nicht; indessen machen es diese Übergänge nicht unwahrscheinlich, daß in den

Seegeschöp-5Vgl. Herder 1784: Buch II, Kap.4; Buch III, Kap.1,4; Buch V, Kap.1 u. ö.

fen, Pflanzen, ja vielleicht gar in den todtgenannten Wesen Eine und dieselbe Anlage der Organisation, nur unendlich roher und verworrener, herrschen möge. Im Blick des ewigen Wesens, das alles in Einem Zusammenhang siehet, hat vielleicht die Gestalt des Eistheil-chens, wie es sich erzeugt und der Schneeflocke, die sich an ihm bildet, noch immer ein analoges Verhältnis mit der Bildung des Embryons im Mutterleibe.Wir können also das zweite Hauptgesetz annehmen: d a ß j e n ä h e r d e m M e n s c h e n , a u c h a l l e G e -s c h ö p f e in der Hauptform mehr oder minder Ähnlichkeit mit ihm haben, und daß die Natur bei der unendlichen Varietät die sie selbst liebet, alle Lebendigen unserer Erde nach Einem Hauptplasma der Organisation gebildet zu haben scheine. (Herder 1784: Buch II, Kap.4)

Die Analogie zwischen den‚Bildungen‘der Schneeflocke und des menschlichen Embryos umspannt die äußersten Enden der Schöpfung in einem Zusammen-hang. In einer vorausgehenden Fassung hatte Herder die Idee der Einheit noch sehr viel kühner formuliert:„Wo die Bildung anfängt, von der Schneeflocke und dem Crystall (ohne Zweifel noch tiefer herunter) durch alle Gebilde der Pflanzen und Tiere hinauf, scheint ihr nur Ein- und derselbe Prototyp vorzuliegen.“(Herder 1877–1913, 13: 66, Anm.1) Aus der Einheit des Prototyps wurde durch den Wider-spruch Goethes:„Im Blick des ewigen Wesens […] vielleicht […] noch immer ein analoges Verhältnis“(vgl. Bräuning-Oktavio 1956: 46).

Die Eiskristalle wurden später Anlass eines Streits zwischen Knebel und Goethe. Knebel teilte Goethe Ende 1788 aus Jena seine Beobachtungen über gefrorene Fensterscheiben mit. Er verglich die ‚Eisblumen‘ mit Vegetabilien, Vogelfedern und Vogelschwingen (vgl. Kuhn 1967: 23).„Es war eine Lieblings-ansicht Knebels, daß alles baumartig anschließe, ja er wollte sogar, wie Lotte Lengefeld berichtet, bemerkt haben, daß die Sterne sich in dieser Gestalt aus-breiteten […].“(Düntzer 1861: 324)

Goethe antwortet in einem Brief, den er unter der ÜberschriftNaturlehreund dem fingierten Datum„Neapel, den 10. Jan.178–“noch im Januar 1789 in Wie-landsMerkurerscheinen ließ (LA I, 11: 27–29). Durch die Fiktion, es handele sich um einen Brief aus dem Süden an einen Freund im Norden, wird der Aufsatz zu einem Dokument der im Süden neu gewonnen Einsichten Goethes.

Er nimmt hier Stellung im Sinne einer hierarchischen Abstufung der Reiche der Natur und ihrer Diskontinuität. Der Aufsatz beginnt mit einer impliziten Sprachkritik. Der Briefschreiber im Norden hatte angesichts der überfrorenen Fenster von„Blättern, Zweigen, Ranken, Rosen“gesprochen. Der im Süden ver-meidet die metaphorische Ausdrucksweise und spricht von „gefrorenen Fens-terscheiben“, „vorübergehenden Erscheinungen“, „Zierlichkeit der Gestalten“,

„Würkungen der Natur“,„Kristallisationen“.

Gleichzeitig bedient er sich der Vorstellung von niederen und höheren Rang-stufen in der Natur und warnt davor, den Gegenstand auf dieser Skala

„hinaufzuwürdigen“ –dies war ein Ausdruck Blumenbachs bei vergleichbarem Anlass:6

Nur scheinen Sie mir diesen Würkungen der Natur zu viel Wert zu geben; Sie möchten gern diese Kristallisationen zum Range der Vegetabilien erheben. Das was Sie für Ihre Meinung anführen, ist sinnreich genug, und wer würde leugnen, daß alle existierende Dinge unter sich Verhältnisse haben. Aber erlauben Sie mir zu bemerken, daß diese Art zu betrachten und aus den Betrachtungen zu folgern für uns Menschen gefährlich ist.

Die Gefahr liegt darin, zugunsten einer ‚Hypothese‘ oder ‚Vorstellungsart‘ die unterscheidenden Merkmale der Dinge zu übersehen, ihren Eigencharakter zu ignorieren. Goethe plädiert in diesem Aufsatz für exakte Beobachtung und Ana-lyse. Das Unterscheiden sei mühsamer als das Ähnlichfinden; bei ihm müsse man beginnen.

Der Aufsatz wendet sich noch mehr ins Grundsätzliche. Er formuliert bereits eine Schwierigkeit, die Goethe–späteren Zeugnissen nach (vgl. unten, Kap.II,5 und II,7)–bei seinem im Winter 1789 entstandenenVersuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklärenbeschäftigte, nämlich: Einheit und unterschiedene Viel-heit synchron zu erfassen.

Das Leben, das in allen existierenden Dingen wirkt, können wir uns weder in seinem Umfange, noch in allen seinen Arten und Weisen, durch welche es sich offenbart, auf einmal denken.

Es bleibt also einem Geiste, der dahin gerichtet ist, nichts übrig, als eben diese Arten und Weisen, so genau als es ihm möglich ist, kennen zu lernen. Er sieht wohl ein, daß er alle zusammen einem einzigen Begriffe, dem Begriff vom Leben im weitesten Sinne, unter-zuordnen hat: aber eben desto sorgfältiger wird er die Gegensätze voneinander sondern [].

Den Versuch, einen einzigen Begriff mit der Gesamtheit der in ihm umfassten verschiedenen Gegenstände in Einklang zu bringen, hat Goethe dann auf den Gebieten der Zoologie, Botanik, Farbenlehre in verschiedenen Formen der Dar-stellung unternommen und in den Morphologischen Heften theoretisch reflek-tiert.7

6Blumenbach 1791: 18, 20, begriff nicht, wieandere Männerdie Spermien im männlichen Samen, die er mitInfusionsthierchen in anderen Säftenverglich,zu beseelten Keimen künfti-ger Menschen und Thiere haben hinaufwürdigen und erheben dürfen. Er spricht von der vor-gegebenenundaufgedrungenen Würdedieserfremden Gäste des männlichen Saamens. 7 Vgl.Kap.II, 49 dieser Arbeit. Vgl. Goethes brieflichen Hinweis an Knebel (18. Januar 1789),

daß meine Absicht war, einen Grundstein zu künftigem gemeinschaftlichem Bau manches wissenschaftlichen Denkmals zu setzen.

Aus der positiven Bewertung des Unterscheidens ergibt sich die Wertschät-zung der Namen für ordnende Zusammenfassungen von Objektbereichen, der Termini, die Goethe in Anlehnung an die Bedeutung des lateinischen Wortes

„Merkpfähle“oder„Pfähle“nennt (vgl. LA I, 9: 20; LA I, 10: 331). In der Nachfolge Linnés erscheinen ihm die drei Reiche als die drei „großen Merkpfähle“ der Natur:

Er wird mit Strenge, ja mit Pedantismus, darauf halten, daß die großen eingeschlagenen Merkpfähle nicht verrückt werden, welche, wenn sie auch nur willkürlich eingeschlagen waren, ihm doch dazu helfen müssen, das Land zu messen und auf das genaueste zu kennen. Er wird die drei großen in die Augen fallenden Gipfel, Kristallisation, Vegetation und animalische Organisation, niemals einander zu nähern suchen [].

Karl Philipp Moritz war um diese Zeit in Weimar (vgl. Düntzer 1861: 324f.). Goethe hatte mit ihm in Rom ein Sprachspiel betrieben, das darin bestand, Worte aus verschiedenen Sprachen aufzusuchen, die den in ihnen gemeinten Sinn auf der phonetischen Ebene „richtig“abbildeten, oder sie im Sinne dieser Richtigkeit umzumodeln und neue Namen zu erfinden; d.h. er war durch Moritz auf die Kratylos-Frage gestoßen, ob die Namen (und damit auch der jeweils in ihnen ausgegliederte Sinn) eine naturgemäße Richtigkeit hätten oder von den Men-schen willkürlich gesetzt und vereinbart worden seien.8Eine vergleichbare Frage beschäftigte die Weimaraner auf dem Gebiet der Kunst:„Die größte Verwirrung jedoch brachte der Streit hervor, ob man die Schönheit als etwas Wirkliches, den Objekten Inwohnendes, oder als relativ, konventionell, ja individuell dem Be-schauer und Anerkenner zuschreiben müßte.“(LA I, 9: 20)

Die oben angeführte Stelle lässt zunächst die Frage offen, ob die Einteilung der Natur in drei Reiche ein arbiträres Gliederungsprinzip sei. Goethe gibt dann aber zu erkennen, dass es sich seiner Ansicht nach von der Natur her aufdrängt:

Nur mag ich nicht gern zugeben, daß man zwei Berge, welche durch ein Tal verbunden werden, für Einen Berg halte und dafür ausgebe. Denn eben so ist es in natürlichen Dingen:

die Gipfel der Reiche der Natur sind entschieden von einander getrennt und aufs deutlichste zu unterscheiden. Ein Salz ist kein Baum; ein Baum kein Tier; hier können wir die Pfähle feststecken, wo uns die Natur den Platz selbst angewiesen hat.

8 Er hat ein Verstands- und Empfindungsalphabet erfunden, wodurch er zeigt, daß die Buch-staben nicht willkürlich, sondern in der menschlichen Natur gegründet sind und alle gewissen Regionen des innern Sinnes angehören, welchen sie denn auch, ausgesprochen, ausdrücken. Nun lassen sich nach diesem Alphabet die Sprachen beurteilen [].(Italienische Reise: Rom, Dezem-ber 1787,Moritz als Etymolog)

Von den Namen für natürlich sich ausgliedernde Objektbereiche unterscheidet Goethe die neu geschaffenen Namen für Begriffe, die er„Kunstwörter“nennt. Er gibt hier den für seine ganze Terminologieauffassung charakteristischen Rat-schlag:

Übrigens lassen Sie uns für alle Kunstwörter einen gleichen Respekt haben! Jedes zeigt [sic!]

von der Bemühung des Menschengeistes etwas Unbegreifliches zu begreifen. Lassen Sie uns die Worte, Aggregation, Kristallisation, Epigenese, Evolution nach unserer Bequemlichkeit gebrauchen, je nachdem, eins oder das andere, zu unserer Beobachtung am besten zu passen scheint.

Der Respekt für die Kunstwörter ergibt sich daraus, dass Goethe in ihnen Schlüs-sel für den Gegenstandsbereich sieht–das für die inhaltsbezogene Sprachwissen-schaft charakteristische Bild des„Schlüssels“steht anscheinend hinter dieser Stelle.9Die Termini stellen Leistungen der menschlichen Erkenntnis im Sinne der Gegenstandserschließung dar. Der„gleiche Respekt für alle Kunstwörter“ relati-viert auf der anderen Seite ihren Wert. Die Erklärung liegt in der Erkenntnisskep-sis Goethes. Der„Gegenstand“der Erkenntnis ist an sich etwas Unbegreifliches.

Die Begriffe werden in ihrer Rückbezogenheit auf das Subjekt, als Versuche der Annäherung und des „Zugriffs“ verstanden. Goethes Überzeugung von dem bloßen Behelfscharakter der Sprache und speziell der wissenschaftlichen Termini drückt sich schon hier aus.

Abschließend formuliert er, mit einem Anklang an die Tradition der Leib-niz’schen Harmonielehre,10das Ziel der Wissenschaft des Menschen: den„großen Begriff“,„daß das alle nur ein harmonisches Eins, und er doch auch wieder ein harmonisches Eins sei“. Freilich solle dieser Begriff den Reichtum der Phänomen-vielfalt einschließen und nicht in einem„bequemen Mystizismus“ausruhen.

Knebel war verstimmt. Er schrieb am 2. Februar 1789 an Herder nach Rom:

Um Ihnen von unserm philosophischen Wesen, wie Sie wollen, etwas zu sagen, so ist die Sache sogar unter uns zum Kriege gekommen. Goethe hat nämlich aus Italien eine Menge eingeschränkte Begriffe mitgebracht, so daß wir von dem allen nichts wissen, daß unser Wesen zu eingeschränkt sei, um von der Dinge Dasein und Wesen nur einigen Begriff zu fassen, daß allesabsolutissimeauf die individuelle Existenz eingeschränkt sei, und daß uns also nichts zu denken und zu begreifen übrig bleibe als einzelne Fälle und Untersuchungen [].11

9Vgl. z.B. Gipper (Hrsg.) 1959, den Titel der Festschrift für Leo Weisgerber:SpracheSchlüssel zur Welt.

10 Vgl. die Anmerkungen zu dieser Tradition bei Kleinschnieder 1971: 29ff.; vgl. unten Kap.II, 7.

11 Düntzer & F.G.Herder (Hrsg.) 1861/1862, 3: 46f. DerKriegbezieht sich gleichzeitig auf den Aufsatz von MoritzÜber die bildende Nachahmung des Schönen.

Knebel grollte aber auch wegen der Form des öffentlichen Briefes, in der Goethe seine Beobachtungen beantwortet hatte. Nach längerem Hin und Her kam es zur Versöhnung, und im Märzheft desMerkurerschien unter der ÜberschriftAntwort ein zweiter Teil des Aufsatzes (Düntzer 1861: 324ff.).

Der erste Teil scheint aus dem Rahmen des bei Goethe zu Erwartenden zu fallen. Goethe bekennt sich als empirischer Analytiker, als Nominalist. Klein-schnieder (1971: 88ff.) geht in seiner anregenden Arbeit auf diesen für seine Fragestellung wesentlichen Aufsatz nur kurz ein. Dorothea Kuhn hebt seine Bedeutung hervor. Aber in ihrer Antrittsvorlesung Über den Grund von Goethes Beschäftigung mit der Naturmeint sie, Goethe habe hier einen Gedanken Blumen-bachs„schnell“aufgegriffen, und betont einseitig, dass Goethe in diesem Aufsatz Analogien verwerfe und Einschnitte fordere (Kuhn 1971: 167). In dem Buch Empi-rische und ideelle Wirklichkeit(Kuhn 1967: 24) spricht sie bei dem zweiten Teil von einer „einlenkenden Replik“Goethes und schreibt, er stelle sich hier auf den Standpunkt des„Dilettanten“. Die Wissenschaft sei auf Seiten der genauen Be-obachter oder der Ordnenden und Bestimmenden. „Goethe setzt hier zu einer methodischen Klassifikation an, da er sich aber in der Antwort auf den Stand-punkt seines Gegenspielers stellen muß, kann er noch nicht zu rechter Klarheit kommen.“ Tatsächlich erscheint dieser Gegenspieler in der Antwort schon als vollwertiger Gegentyp. Der Aufsatz gelangt zu einer wirklichen Versöhnung, zu einer höheren Synthese gegensätzlicher Möglichkeiten.

Goethe spricht jetzt in der Rolle des Briefschreibers aus dem Norden. Der nimmt die Sprachkritik seines Partners und dessen Aufforderung zu detaillierterer Untersuchung der Phänomene an. Er spricht jetzt von den„reizenden Wintergär-ten“als„zierlichen Erscheinungen“,„Produktionen der Natur“; dem„dauernden Orangenwald“stellt er die„augenblicklichen und vergänglichen Wirkungen der Natur“gegenüber.„Auch haben wir nie unsere durchsichtigen Eisflächen zum Range der Hesperidischen Gärten erheben wollen.“

Bei der genauen Beschreibung des Phänomens spricht er überwiegend in

Bei der genauen Beschreibung des Phänomens spricht er überwiegend in