• Keine Ergebnisse gefunden

Mehrsprachigkeit und die Rolle des Buchdrucks im spanischen Italien

der Mono-Perspektive des »occhio bembizzato« und aus einer kommunikationsraumbasierten Perspektive

3.3 Mehrsprachigkeit und die Rolle des Buchdrucks im spanischen Italien

3.3.1 Sprach- und literaturwissenschaftlicher Forschungsstand

Mehrsprachigkeit ruft als Grundbegriff der Kontaktlinguistik68 höchst unter-schiedliche Bedeutungen und vielfältige sprachwissenschaftliche Theoriebil-dungen und Empirien auf und kann daher meines Erachtens als ein »termine ombrello« bezeichnet werden:69 Wie unter einem Schirm werden unter dem Phänomen Mehrsprachigkeit verschiedene Manifestationsformen versammelt.

Je nach sprachwissenschaftlicher Disziplin wird Mehrsprachigkeit attribuiert als ›individuelle/kollektive/soziale/territoriale/institutionelle‹, ›horizontale/ver-tikale‹, ›gelehrte/altsprachliche‹, ›fiktive‹, ›inszenierte/literarische/polyphone‹,

›mediale‹, ›wissenschaftliche‹, ›dialektale/frühe /kindliche/funktionale/(un)ba-lancierte‹, ›rezeptive‹ – um nur einige Beispiele aufzuführen. Außerdem finden sich in der Forschung zahlreiche nähere Bestimmungen bzw. Verortungen von Mehrsprachigkeit, seien es verschiedene lebensweltliche Bereiche, sei es auf insti-tutioneller Ebene (etwa Schule, Regierung, Kirche), sei es kognitiv, räumlich (zum Beispiel in der Großstadt, in der dritten Welt, in bzw. für Europa) oder zeitlich.

Auf der rein sprachlichen Ebene kann sich Mehrsprachigkeit in der Sprachenwahl oder in sprachlichen Wechselbezügen (Interferenzen, transkodische Formulie-rungen, Lehnelemente, Code-Switching als genuine Strategie zwei-/mehrspra-chiger Menschen) in der gesprochenen Sprache manifestieren.70 Wie es scheint, haben aktuelle Forschungsansätze, vor allem die Mehrsprachigkeitsdidaktikfor-schung, die buchstäblich Schule macht, das heißt Erwerb, Formen, Vermittlung und Förderung von Mehrsprachigkeit, entschieden mehr Anhänger als sprach-historische: Verglichen mit der aktuellen Literatur zu Mehrsprachigkeit und zu Fremdspracherwerb und -gebrauch ist ein Forschungsrückstand für ältere Epo-chen zu konstatieren.71 Auffällig an der weit weniger ausgeprägten historisEpo-chen

68 Grundlegend sind Wandruzska 1979; Lüdi 1996; Kremnitz 1994.

69 In Anlehnung an Eco, der diesen Begriff in semiotischem Zusammenhang schuf (Eco 1979, 24 und 101).

70 Vgl. Lüdi 1996a, 242; Riehl 2004.

71 Zu diesem Manko vgl. auch Glück/Häberlein/Schröder 2013, 2f. (siehe ferner die Forschungsanre-gungen des Autorenteams, Dies. 2013, 346f.). Zur Vorgeschichte vgl. Andersen 2003; zur Antike vgl.

Boschung/Riehl 2011; zum Mittelalter vgl. Baldzuhn/Putzo 2011 und Moos 2008a; zur Renaissance vgl. Maaß 2005; zur frühen Neuzeit vgl. Maaß/Schrader 2002, insb. 105–143 und Glück/Häberlein/

Schröder 2013; zur Sprachenpluralität in der europäischen Frühmoderne vgl. außerdem Burke 2004.

Mehrsprachigkeitsforschung – wenn überhaupt von einer solchen die Rede sein kann, denn auch hier werden heterogene Phänomene verhandelt – ist der Kon-nex mit Sprachbewusstsein, dies gilt insbesondere für die romanische Sprach-geschichte.72 Genuin bzw. explizit italianistisch-sprachhistorische Studien zur Mehrsprachigkeit gibt es nur wenige,73 was zusätzlich für das Bild der – durch den Buchdruck massiv beschleunigten – italienischen Einsprachigkeit, welches die ita-lienische Sprachgeschichtsschreibung suggeriert, förderlich ist.

Verknüpft man die drei im Rahmen des Forschungsüberblickes vorgestell-ten Gegenstände der externen italienischen Sprachgeschichte – Buchdruck und Mehrsprachigkeit im spanischen Italien –, so gelangt man zum eigentlichen Un-tersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Die Vermutung liegt nahe, dass der (aktuelle) Wissensstand aus rein linguistischer Sicht zu diesem Themengebiet ebenso viele Lücken offen lässt wie die ersten beiden vorausgehenden Unterkapi-tel.74 Um es mit den Worten von Quondam vorwegzunehmen:

Del tutto insufficienti, ancora, gli studi sui rapporti culturali e letterari (anche in termini di traduzioni, edizioni in lingua originale) nell’Italia spagnola, an-cora una rimozione, una cancellazione della ›grande crisi‹, un’immagine da dimenticare. (Quondam 1983, 642)

In der Tat ergeben sich neben Migliorinis obenstehenden spärlichen Hinweisen (vgl.

Kap. 3.2.1) auf die zahlreichen ge- und misslungenen Übersetzungen aus dem Spani-schen, die einen Beitrag zur Diffusion der spanischen Kultur und der Hispanismen leisteten, diesbezüglich nur einzelne – wenn auch fundamentale – Anhaltspunkte bei Croce.75 Dieser bestimmt zwei mediale Realisierungs- bzw. Verbreitungsfor-men der spanischen Sprache in Italien: Die mündliche, galante Konversation auf Spanisch (insbesondere am Hof) und die Veröffentlichung spanischer Bücher »in gran copia« (Croce 1895, 19), wobei er damit unbegründeterweise nur diejenigen in Druckform meint. Ihren Adressatenkreis weiß er eindeutig zu bestimmen:

Naturalmente, queste stampe non eran fatte ad uso degl’Italiani, ma o si stam-pavano in Italia, perchè quivi dimoravano i loro autori, o si smerciavano tra i molti spagnuoli ch’erano presso di noi, o anche erano destinate al commercio librario con l’estero. […] Ma una parte di essi era anche smerciata in Italia e tra Italiani, come si vede da parecchie testimonianze […]. (Croce 1895, 20f.)

72 Für das Spanien des 15. und des 18. Jh.s vgl. Bahner 1956 bzw. Polzin-Haumann 2006; für Latein in der Antike vgl. Müller 2001; für die Romania vgl. Hassler 2000; für romanisch-europäische Einzelzeugnisse vom 12. bis 18. Jh. vgl. Martinell Gifre 1996.

73 Vgl. immerhin Prifti 2013; Schwägerl-Melchior 2014; Gruber 2014; Barbarić im Druck.

74 Aber auch die Buchgeschichte steht vor einem erstaunlich großen Wissensloch bzw. zeigt nur marginales Forschungsinteresse am spanischen Buchdruck außerhalb Spaniens, obwohl der lokale spanische Buchbedarf zu einem erheblichen Teil von außen gedeckt wurde, vgl. Martín Abad 2003.

75 Vgl. Croce 1895, 19–21; 74; Ders. 1898, 10–15; Ders. 1971, 157f.

Nicht nur dieser Schluss ist jedoch vage – denn als »parecchie testimonianze«

(Croce 1885, 20) werden lediglich die Aussprachehinweise für das Spanische in einigen Druckwerken (vgl. Tab. 2) sowie ein Ausschnitt aus der Widmung der Mailändischen Ausgabe des Don Quixote (Cervantes Saavedra 1610), in dem die Popularität des Spanischen betont wird, aufgeführt.76 Auch sonst selegiert Croce stark nach drei Gesichtspunkten: nämlich nach literarischen spanischen Druckwerken, nach den vor allem an der Zahl der Nachdrucke gemessenen er-folgreichsten Werken und nach den Büchern, die im Druckzentrum Venedig pu-bliziert wurden.

Alle folgenden, wohlgemerkt ausschließlich literaturwissenschaftlich perspekti-vierten Untersuchungen bewegen sich auf derselben Forschungslinie.77 Im Bemü-hen, die im Italien des Cinque- und Seicento bedeutendsten und beliebtesten Bü-cher und Ersteditionen zu identifizieren und eine Gattungstypologie der spanischen Bücher und Übersetzungen aus dem Spanischen zu entwerfen, hat sich dadurch ein scheinbar homogenes und ›literarisiertes‹ Korpus herauskristallisiert: Besonders flo-rierten demnach religiöse und literarische Buchausgaben, Ritterromane, geografi-sche bzw. koloniale und geschichtliche Literatur sowie Militärtraktate und andere technische Traktate. Dabei werden die immer gleichen Bücher aus Venedig und Auflagenzahlen genannt: Angefangen bei der 1505 erstgedruckten und viele Über-setzungen und Neuauflagen erfahrenden Celestina – »il libro più letto prima del Don Quijote« (Croce 1898, 11) – über die in großer Zahl nachgedruckten Werke von Anto-nio de Guevara und Luis de Granada bis hin zu Cristóbal de las Casas Verkaufsschla-ger, seinem zweisprachigen, italienisch-spanischen Wörterbuch (vgl. Tab. 2).

Des Weiteren sind wir aus diversen Studien bestens informiert über den Galicier Alfonso de Ulloa (circa 1525–1570),78 der im Cinquecento zur neuen Generation der »poligrafi-traduttori-compilatori« zählt (vgl. Lievens 2002). Als der Übersetzer spanischer Werke schlechthin fungierte er als Schlüsselfigur zwischen veneziani-schen Intellektuellenkreisen und Druckerdynastien Venedigs, vor allem der Familie Giolito de’ Ferrara, die auf volkssprachliche Produktion spezialisiert war.79

76 Vgl. hierzu auch das Kap. 6.3.5.2.

77 Vgl. Croce 1898; Croce 1948; Meregalli 1971; Ders. 1974, Pallotta 1992; Lievens 2002, 11–46 (vgl.

auch Kap. 3, Anm. 79).

78 Es gibt eine Fülle an Veröffentlichungen, in denen Ulloa nicht nur als Garant für die Korrektheit der Drucke betrachtet wird, sondern ferner glorifiziert wird als ein »intermediario tra le due culture« (Gallina 1955); »il principale propagatore delle spagnolerie in Italia« (Croce 1948, 106);

»introductor de la cultura española en Italia« (Rumeu de Armas 1973); »un editore ›irregolare‹

nell’editoria veneziana nel Cinquecento« (Lievens 2002); »jack-of-all-trades: a soldier, possibly a spy […], certainly a scribe, a translater, biografer, and all-round fixer in printshops« (Amelang 2007, 439).

79 Ulloas Œuvre als Übersetzer und Autor umfasst 93 Editionen: 79 italienische, 12 spanische und 2 lateinische (vgl. EDIT16 2014). Dieser Familienbetrieb (1536–1606), der sich durch stetige Liqui-dität und eine effiziente technisch-redaktionelle Organisiertheit (mehrere Pressen, ca. 50 Über-setzer – darunter Ulloa – und zehn Kuratoren/Korrektoren) zu einem Markenunternehmen mit Filialen in Bologna, Ferrara, Padova und Neapel ausbaute und im Gegensatz zu den Manuzio auf Texte im volgare spezialisiert war, reagierte sehr schnell auf die Bedürfnisse des Marktes. Von

Einigkeit herrscht in der Forschung ebenso über die Vorrangstellung Vene-digs für den spanischen Qualitätsdruck auf der ästhetisch-formalen und inhalt-lichen Ebene80 sowie auf der Ebene der Distribution innerhalb Italiens und des Exports (vgl. Gruber 2014, 69f.; Rhodes 2004); die spanischen Druckwerke lassen sich demnach einreihen in die Serie von »products of sixteenth-century Venetian presses [which] might be described as multi-cultural as well as polyglott« (Burke/

Briggs 2002, 57). Amelang betont Venedigs »long-term role as a center for the publication of Spanish works both in their original language and in translation«

(Amelang 2007, 437). Meregalli erstellt hierzu folgende aufschlussreiche Über-sichtstabelle81 – dabei handelt es sich um den ersten Versuch, die spanische Buch-produktion über das herkömmliche qualitative Forschungsverfahren hinaus auch quantitativ zu präzisieren:

Zeitraum Übersetzungen

aus dem Spanischen

Editionen auf Spanisch

Gesamt

bis 1500 5 5

1501–1550 93 16 109

1551–1600 724 71 795

1601–1650 277 28 305

1651–1700 94 3 97

Gesamt 1.188 123 1.311

Tabelle 3: In Venedig gedruckte spanische Bücher und Übersetzungen aus dem Spanischen ins Italienische (1465–1700) nach Meregalli 1971, 175; Ders. 1974, 17.

Hervorstechend ist der erreichte Spitzenwert sowohl der Übersetzungen als auch der spanischen Originaldrucke im Secondo Cinquecento, obwohl genau in die-sem Zeitraum das erste ›schöpferische  Jahrhundert‹ des Buchdrucks in Italien zu Ende geht und die Pressekontrolle einsetzt (vgl. Kap. 2.2.2). Die Statistik lässt Meregalli zu dem Schluss kommen, »che in genere gli italiani avevano bisogno

den insgesamt 1.019 Editionen (527 Erst-, 492 Nachdrucke von 290 Autoren), von denen durch-schnittlich 40 pro Jahr erschienen, finden sich bezeichnenderweise nur 49 lateinische Titel (4,8%), allerdings auch nur 13 spanische. Der Schwerpunkt der Casa della Fenice lag mit 39% klar auf der Literatur überwiegend zeitgenössischer Autoren, vgl. Quondam 1977; Nuovo/Coppens 2005.

Des Weiteren war Gabriele Giolito einer der fünf Delegierten der venezianischen Buchgilde, vgl.

Brown 1891, 87.

80 So widmen sich Pallotta 1991; Ders. 1992; Ders. 1994; Richer-Rossi 2000; Scrivano 2001; Pardo Tomás 1991 einzelnen in Venedig produzierten spanischen Titeln und/oder Übersetzungen.

81 Es ist davon auszugehen, dass Meregalli diese Tabelle, deren Werte, wie er selbst betont, überschlä-gig und nicht statistisch erhoben wurden, auf Basis der fünfbändigen Bibliografie von Toda y Güell (1927–1931) angefertigt hat (ein Indiz findet sich zumindest in Meregalli 1971, 175).

di traduzioni per comprendere un testo spagnolo.« (Meregalli 1974, 24). So ver-dienstvoll die Auszählung und Zusammenstellung ist, offenbart sich hier doch in meinen Augen ein methodisches Problem: Eine Quantifizierung ist immer nur sinnvoll im Rahmen eines Abhängigkeitsverhältnisses. Zwar bemerkt Meregalli in Bezug auf seine Daten:

Como se refieren a Venecia, es claro que estos datos no reflejan sin más la situación total italiana. Pero no hay que olvidar que Venecia fue en todo aquel período el centro editorial más importante de Italia, y también el que más se sustraía a los condicionamientos eclesiásticos y españoles; así que la muestra veneciana tiene también un particular relieve cualitativo. (Meregalli 1971, 175) Welche Aussage kann jedoch eine solche Statistik besitzen, wenn der rechnerisch entscheidende Bezugspunkt, nämlich die Gesamtmenge der in Venedig (aber ge-nauso auch der in anderen Druckorten in Italien, in Gesamtitalien oder eventuell in anderen Druckorten, zum Beispiel in den spanischen Niederlanden) produ-zierten Drucke, fehlt? Obgleich es nicht stimmt, dass Venedig die unangefochtene Hauptstadt des Druckwesens auf nationaler und internationaler Ebene bleibt (vgl.

Kap.  2.2.3),82 wird außerdem deutlich, dass hier nur literaturwissenschaftliche Parameter gelten, aufgrund derer einerseits bewusst die Tatsache ignoriert wird, dass in Neapel, Rom und Mailand mehr spanische Bücher als in Venedig gedruckt wurden, wie Meregalli selbst feststellt, und andererseits die klar dominierende de-votionale und politische Literatur vernachlässigt bleibt, da »de escasísimo valor literario o, más en general, cultural« (Meregalli 1971, 175). Eine weitere Über- bzw.

Fehleinschätzung scheint ferner in der Behauptung zu liegen, dass »Venezia di quegli anni era largamente saturata di libri spagnoli, pubblicati specialmente dal libraio Giolito de Ferrari« (Meregalli 1974, 25), wenn man sich vor Augen führt, dass die Druckdynastie der Giolito faktisch nur 13  spanische Titel (von über 1.000 produzierten Editionen) im gesamten Cinquecento produzierte (vgl. Kap. 3, Anm. 35). Es drängt sich im Anschluss an diese Zitate daher die Frage auf, ob die Einflussnahme Venedigs Rolle als ›spanisches Kultur- und Druckzentrum‹ tat-sächlich so optimistisch zu interpretieren ist, wie dies bislang gemacht wurde (vgl.

Kap. 6.5.1.1).

Einen erstmaligen Einblick in die spanische Buchproduktion Siziliens und des einzigen Druckzentrums des Südens, das heißt Neapel und in dort jeweils ent-standene spanische Druckwerke gewähren Polizzi 2013, Sánchez García 2007 und Dies. 2013 (vgl. hierzu auch Kap. 6.2, Anm. 50 und Kap. 6.4, Anm. 66). Unter Erstellung eines Online-Kataloges spanischer Bücher und solcher »di interesse iberistico« wird das dynamische Verhältnis beleuchtet,

82 Venedig ist zwar auch im Seicento die produktivste Stadt Italiens, ihr absolutes Monopol büßt sie jedoch ein, vgl. Santoro 2008, 243f.

[…] que se establece entre el grupo dirigente hispánico presente en Nápoles y la máquina cultural de la capital. Se trata de un diálogo continuo caracteri-zado por un plurilingüismo muy vivo y un trasvase sistemático de materiales y de ideas de un soporte a otro. Los textos en lengua española son sólo uno de esos soportes […]. (Sánchez García 2007, 8)

Trotz dieser aus dem Süden der Italia spagnola entworfenen Gegenperspektive zu Venedig liegt derzeit immer noch ein weites Forschungsfeld brach, wie bereits Pallotta resümierte:

The body of Spanish works published in Venice and other Italian cities con-stitutes an aspect of Spain’s presence in Italy worthy of investigation. I believe that fresh research will place in evidence the fact that Spanish texts not only broadened and enriched Italian life in the sixteenth century, but affected it more incisively than we are accustomed to assume. (Pallotta 1991, 39)

3.3.2 Zielsetzungen

Vor dem Hintergrund des letzten Zitats und der bisherigen Forschungspositio-nen, die auf einer sehr restriktive Auswahl im Hinblick auf die – vermeintlich repräsentativen – Diskurstraditionen, die Hauptakteure im Druckwesen und die Erscheinungsorte beruhen, muss also die spanische Buchproduktion nach den verschiedenen potenziell ›hispanisierten‹ Zonen der Halbinsel spezifiziert und überdies nach Diskursdomänen ausgeweitet werden. Die entsprechenden Thesen, dass sich Bologna und Neapel auf spanische Rechtstexte spezialisierten, in Brescia Bücher meist religiöser oder praktischer Natur verschiedener spanischer Autoren entstanden seien und andere wichtige Druckzentren wie Florenz, Mailand und Turin nur marginales Interesse an spanischen Büchern im 16. Jahrhundert gezeigt hätten (vgl. Pallotta 1992, 37f.) müssen auf ihre Gültigkeit überprüft werden.

Des Weiteren ist die Frage nach den Rezipienten spanischer Bücher zu klären.

Wie oben erwähnt (vgl. Kap. 3.3.1), sollen gemäß Croce Spanier die Hauptabneh-mer spanischer Druckwerke gewesen sein (Croce 1895, 20f.); für Pallotta kommen drei potenzielle Käufer in Frage: höfische Leser, die Interesse an französischer und spanischer Kultur besessen haben83, gebürtige Spanier in Neapel und Rom und

83 Pallotta kann damit nur norditalienische Höfe meinen, wie z.B. den Hof zu Urbino, von dem Baldassare Castiglione mit seinem Dialogtraktat Libro del Cortegiano (1528, Florenz) ein Direkt-zeugnis liefert (Pallota 1994): Hier werden u.a. die Fragen diskutiert, wie der französische und spanische – auch sprachliche Einfluss – den Höfling tangieren sollten bzw. durften (vgl. Burke 1998, 34–37); Castiglione streut dabei selbst unter zahlreichen Bezugnahmen auf Spanien spa-nische Wörter und Phrasen ein, vgl. Castiglione 1528, Permalink: http://hdl.handle.net/2027/

osu.32435075055392 (Zugriff vom 10.11.2014). Zu Autor, Text und Kontext vgl. den Beitrag zu Castiglione auf der Webseite »Viaggi nel testo – classici della letteratura italiana«, URL: http://

www.internetculturale.it/opencms/opencms/directories/ViaggiNelTesto/castiglione/index.

html und URL: http://www.internetculturale.it/opencms/opencms/directories/ViaggiNelTesto/

castiglione/4b.html (Zugriff vom 10.08.2014).

sephardische Juden (Pallotta 1994, 216). Amelang sieht in der Analyse eines ge-meinsamen Lesepublikums Forschungsbedarf:

[…] to my knowledge, no one has undertaken systematic exploration of the penetration of one reading culture by the other [Spanish and Italian; T.A.].

Such a study would, needless to say, focus not just on classic titles and the usual suspects in art and architectural theory. It would also have to keep in mind the second- and third-level tiers […]. (Amelang 2007, 452)84

Genauso ist die Frage von Relevanz, welche spanischen oder hispanophonen Au-toren, Verleger und anderen Drucker außer den Giolito und Stefano Nicolini di Sabbio in Venedig und Antonio Salamanca in Rom, die stets als prominente Ver-treter für spanische Werke genannt werden (vgl. Croce 1917, 157; Lievens 2002, 22–24 bzw. Misiti 1992), sowie Übersetzer neben dem wohlbekannten Alfonso de Ulloa Schlüsselpositionen im Druckprozess besetzten.

Ebenso stellt sich die Frage, ob der Buchdruck seine Kraft im spanischen Italien entfalten konnte, das heißt ob er als sprachlicher Motor der spanischen Regierung, Gesellschaft und Sprache in Italien fungierte. Gab es in diesem Zusammenhang dirigistische Maßnahmen wie die Steuerung oder Förderung von Druckereien und deren Produktion, Initiativen, zum Beispiel auch in der Funktion als Herausge-ber eines bestimmten oder mehrsprachigen Verlagsprogrammes? Der spanischen oder mehrsprachigen Buchproduktion können theoretisch politische, administ-rative, wissenschaftliche oder pragmatische Dokumentationswünsche zu Grunde liegen. Welche (ausländischen) Autoren wurden mit welchen Werken oder Bear-beitungen, Übersetzungen, eigen- oder fremdsprachigen Drucken von der Regie-rung privilegiert und bevorzugt in welchen Druckerwerkstätten publiziert?

Der essenzielle Fragenkatalog Quondams, »quali libri, per chi, fatti da chi, curati da chi, portati dove, in cambio di cosa, pagati di chi?« (Quondam 1977, 57) kann auch für die vorliegende Arbeit herangezogen werden, ihm sind aber noch folgende entscheidende Fragen hinzuzufügen: in quale lingua/volgare?

bzw. tradotti da quale lingua/volgare in quale lingua da chi? Bedacht und analy-siert werden sollten ferner die in der Forschung weitgehend ignorierten zwei-, drei- und mehrsprachigen Druckwerke, sieht man von den zentralen lexiko- und

84 Ein prominentes literarisches Beispiel ist die Rezeptionsgeschichte des eben erwähnten Libro del Cortegiano (1528) von Castiglione (vgl. Kap. 3, Anm. 84), das für lange Zeit in Spanien quasi als

›nationaler‹ Klassiker gelesen wurde. Kurz nach Drucklegung bat Castiglione seine Mutter, ihm 70 Exemplare nach Spanien zu schicken. Im Nachlassinventar eines Buchhändlers aus Barcelona waren 24 Exemplare des Buches wohlgemerkt in italienischer Sprache verzeichnet, obwohl das Werk schon 1534 in Barcelona in spanischer Übersetzung (von Juan Boscán) erschienen war, und sogar einige Spanier in Peru besaßen das Buch bzw. ließen es sich nachweislich 1545 und 1582 einschiffen (vgl. Burke 1998, 57f. und 140). Selbst Karl V. bevorzugte es angeblich, »[di] leggere solo tre libri« (Sansovino 1567, 21; zit. nach Burke 1998, 58): die Discorsi von Machiavelli, das Ge-schichtswerk des Griechen Polybios und eben den Cortegiano.

grammatikografischen Werken und mehrsprachigen Komödien85 einmal ab (vgl.

Tab. 2). Für eine Modifikation der italienisch-spanischen Sprachgeschichte und des italienischen Standardisierungsprozesses gebührt gleichermaßen einem Sei-tenblick auf den Druck auf bzw. mit Katalanisch, Sardisch, Sizilianisch, Mailän-disch und Neapolitanisch Aufmerksamkeit.86

Dieser bislang äußerst stiefmütterlichen sprachhistoriografischen Behandlung der Mehrsprachigkeit im Spiegel des Buchdrucks soll in den folgenden Kapiteln auf Basis des Dreiklangs von Produktion, Rezeption und Reflexion sukzessive entgegengearbeitet werden. Hierbei ist eine deutliche Eingrenzung bzw. Fokus-sierung erforderlich:

1) Zeitlich: indem der Zeitraum von 1500 bis 1715, also die zwei ›spanischen Jahrhunderte‹, betrachtet wird, der auch mit den dynamischen Entwicklungen des italienischen Buch- und Sprachenmarktes koinzidiert (vgl. Kap. 2.2).

2) Kommunikationsräumlich-kontrastiv: indem vier  Teilräume des Sprachkon-takts bzw. potenzieller sprachlicher Hispanisierung, nämlich die zwei Inseln Sardinien und Sizilien sowie die beiden Metropolen Mailand und Neapel lo-kalsprachlich und -historisch rekonstruiert und bis zu einem gewissen Grad typisiert bzw. kontrastiert werden.

3) Thematisch: indem der Begriff der Mehrsprachigkeit empirisch modelliert und operationalisiert wird. Dies geschieht auf der Makro- und auf der Mikroebene:

makrostrukturell: indem die Buchproduktion räumlich und zeitlich mit der Sprachverteilung und den Diskursdomänen mittels einer digitalen Daten-bank namens TISIT16–17 korreliert bzw. quantifiziert wird;

mikrostrukturell: indem die metasprachlichen Diskurse (Sprachenwahl, Sprachbewertung, evtl. transkodische Markierungen) in ausgewählten Druckwerken interpretiert werden, um in einem zweiten Schritt Rück-schlüsse auf die Kompetenzprofile der Produzenten (Autoren, Drucker, Verleger) und Rezipienten sowie auf die praktizierte/aktive/zielgerichtete – und/oder auch ungeplante – Mehrsprachigkeit ziehen zu können.

4) Extern sprachgeschichtlich: wobei eine scharfe Trennung zwischen innerer und äußerer Sprachgeschichte nicht immer möglich sein wird.87

Damit wird versucht, einen Beitrag zum momentan noch verschwommenen Ge-samtbild einer weniger monolingualen, national perspektivierten

Sprachhistorio-85 Vgl. Croce 1891; Beccaria 1968, 282–404; Richer-Rossi 2000, 212–215; Cirillo 2005; Gruber 2010;

Dies. 2014, 142–185.

86 Hafners These in Bezug auf die literarische Produktion der süditalienischen Idiome, welche »aus ökonomischen Gründen jedoch kaum gedruckt« worden und »entsprechend weniger verbreitet«

(Hafner 2009, 108) gewesen seien, muss auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden.

87 Vgl. zu dieser Schwierigkeit Koch 2002.

grafie zu leisten.88 Diese integrative Sprachgeschichtsschreibung versteht sich als eine empiriebasierte, mehrdimensional angelegte Rekonstruktion des kommuni-kativen Raums, in der die Varietätengeschichte inkludiert ist, in der also alle im selben Raum in einem bestimmten Zeitabschnitt gebrauchten Sprachen und

grafie zu leisten.88 Diese integrative Sprachgeschichtsschreibung versteht sich als eine empiriebasierte, mehrdimensional angelegte Rekonstruktion des kommuni-kativen Raums, in der die Varietätengeschichte inkludiert ist, in der also alle im selben Raum in einem bestimmten Zeitabschnitt gebrauchten Sprachen und