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3.4 Kräfte bei der Kallusdistraktion

3.4.1 Maximale Distraktionskraft

Bei den Messungen der Distraktionskraft zeigt die Literatur ein sehr uneinheitliches Bild. Dies betrifft zum einen die Maximalwerte wie auch den zeitlichen Verlauf der Kräfte. Da viele unterschiedliche Parameter (z.B.

Messaufbau, Indikation, Verlängerungsstrecke, Distraktionsfrequenz, zeitlicher Verlauf der Distraktion, Distraktionsgeschwindigkeit und Osteotomiestelle) in die Ergebnisse eingehen, aber nur selten alle erfasst und dokumentiert wurden, werden nachfolgend alle bisherigen Arbeiten in chronologischer Reihenfolge präsentiert.

In den Studien von Ma et al. 1980 und Verkerke et al. 1989 erreichten die maximalen Distraktionskräfte bei einem 14- und einem 16-jährigen Mädchen 470 N und 400 N zum Ende der Verlängerung von 60 mm bzw. 28 mm. Dabei stieg einmal die Kraft mit einer konstanten Rate bis zum Ende an, beim anderen Fall steigerte sich die Distraktionskraft gegen Ende bis auf das Doppelte.

Bei einer Tibiaverlängerung von 50 mm bei einem 11-jährigen Mädchen nach Poliomyelitis berichteten Wolfson et al. 1990 in den ersten drei Wochen von einem linearen Anstieg von 49 N auf 223 N. In den folgenden Wochen stieg die Kraft noch um 11 N pro Woche auf insgesamt 245 N am Ende an. Dabei wurde viermal täglich um 0,25 mm verlängert. Die Messungen wurden einmal pro Woche jeweils vor und nach der Verlängerung in unbelastetem Zustand durchgeführt.

Van Roermund et al. 1992 maßen bei einer proximalen Tibiadistraktion über 50 mm Maximalkräfte von bis zu 791 N. Anschließend trat ein Kallusversagen auf, bei dem die Kraft auf 150 N zurückging. Die Autoren schlugen eine Berücksichtigung der Distraktionskräfte für die Einstellung der Distraktionsgeschwindigkeit vor, da die Kräfte ihres Erachtens durch Anpassung der Geschwindigkeit reduziert und die Schmerzen gemindert werden könnten.

Younger et al. 1994 führten Messungen bei drei Jugendlichen über Nacht und bei Belastung durch. Dabei wurde jeweils ein ansteigender Distraktionskraftverlauf mit einem Maximalwert von 428 N, 447 N bzw. 673 N gemessen. Bei Belastung änderten sich die gemessene Kraft und das

Biegemoment nur wenig. Messungen um Mitternacht hatten im Mittel einen um 113 N höheren Wert als am Morgen. Eine Erklärung für den außergewöhnlichen Distraktionskraftverlauf wurde nicht gegeben. Insgesamt wurden am Femur höhere Kräfte festgestellt als an der Tibia.

Simpson et al. 1996 untersuchten an einem Kollektiv von zehn Patienten mit unterschiedlicher Pathologie (angeborene Verkürzung, Osteomyelitis, posttraumatische Verkürzungen und Polio) den Axialkraftverlauf sowie die mechanischen Eigenschaften der distrahierten Weichteile (siehe Abbildung 3-23).

Die Verlängerung wurde über längere Zeit infolge von ungenügender Kallusbildung ausgesetzt. Dabei war ein rascher Rückgang der Axialkraft zu beobachten (siehe Abbildung 3-24). Selbst bei fortgeführter Distraktion wurde nicht mehr das ursprüngliche Niveau erreicht.

Abbildung 3-23 Externer monolateraler Fixateur (Simpson et al. 1996)

Der am Fixateur montierte Kraftsensor ist in der Abbildung durch einen Pfeil gekennzeichnet.

In den Untersuchungen wurden erhebliche Unterschiede in der gemessenen Axialkraft bei einer angeborenen Verkürzung und einer posttraumatischen Verkürzung festgestellt (siehe Abbildung 3-25 und Abbildung 3-26). Bei posttraumatischen Verkürzungen stieg die Distraktionskraft bis zu einer Größenordnung von 300 N an. Deutlich höhere Maximalwerte von über 1000 N wurden in einigen Fällen bei Patienten mit angeborener Verkürzung gemessen.

Während der anschließenden Ruhephase wurde ein erheblicher Kraftrückgang von bis zu 500 N beobachtet. Eine höhere Komplikationsrate trat bei hohen Axialkräften auf. Durch mechanisches Versagen des externen Fixateurs kam es dabei mehrfach zu Winkelabweichungen.

Abbildung 3-24 Zeitlicher Verlauf der Distraktionskräfte

Die Distraktionskräfte wurden vor und nach der Verlängerung erfasst und über die Zeit dargestellt. Nach dem Aussetzen der Verlängerung (Tag 28) gingen die Kräfte exponentiell zurück. Diese erreichten selbst nach der weitergeführten Verlängerung nicht wieder den ursprünglichen Wert. Die Ergebnisse stammen von einer Verlängerung der Tibia aufgrund von Poliomyelitis (Simpson et al. 1996).

Abbildung 3-25 Vergleich der Distraktionskräfte bei unterschiedlichen Indikationen Untersuchungen bei posttraumatischer Verkürzung des Femurs und angeborener Verkürzung der Tibia. Bei der angeborenen Verkürzung wurden im Gegensatz zu der posttraumatischen Verkürzung deutliche Schwankungen und sehr hohe Distraktionskräfte von über 1300 N gemessen (Simpson et al. 1996).

Abbildung 3-26 Axialkraftverlauf bei verschiedenen Indikationen

Axialkraftverteilung bei verschiedenen Indikationen wöchentlich in der Ruhephase gemessen (posttraumatisch n=2 und angeboren n=3) (Simpson et al. 1996).

Gardner et al. 1998 untersuchten mit einem instrumentierten Ilizarov-Fixateur (siehe Abbildung 3-27) die Weichteilkräfte bei zwei Tibiaverlängerungen (10 und 14 Jahre) aufgrund einer angeborenen Verkürzung. Es wurde täglich viermal um 0,25 mm verlängert. Die Messungen wurden wöchentlich in der Klinik durchgeführt.

Dabei wurden die Kraft vor der Verlängerung (pre distraction force), der Maximalwert während der Verlängerung (peak force) sowie die Kraft 15 Minuten nach der Verlängerung (post distraction force) aufgezeichnet (siehe Abbildung 3-28).

Abbildung 3-27 Externer Fixateur mit Sensorik

a) Hallsensor-Stapel zur Erfassung der relativen Bewegung der beiden Knochenteile.

b) Ilizarov-Fixateur mit Kraftsensoren in jeder der vier Axialverbindungen (Gardner et al. 1998).

a) b)

Aarnes et al. 2002 a analysierten an vier Probanden (ein Proband aufgrund von Achondroplasie und drei Probanden aus kosmetischen Gründen) die Distraktionskräfte bei monofokaler und bifokaler Verlängerung. Hier wurde die Tibia zweimal osteotomiert und so mit doppelter Distraktionsrate verlängert (siehe Abbildung 3-29).

Abbildung 3-28 Verlauf der maximalen Distraktionskraft an der Tibia

Messung bis zum Ende der Verlängerung in Woche 14 (Patient 1) und Woche 19 (Patient 2).

Zwischen der Woche 6 und 13 ist ein plateauartiger konstanter Verlauf der Distraktionskraft zu erkennen (Gardner et al. 1998).

Abbildung 3-29 Externer Fixateur zur bifokalen Verlängerung (Aarnes et al. 2002 a)

Dabei stieg die Distraktionskraft bei bifokaler Verlängerung linear an. Bei der anschließenden monofokalen Verlängerung blieben die Kräfte konstant oder gingen sogar zurück (siehe Abbildung 3-30).

Lauterburg et al. 2006 untersuchten den Axialkraftverlauf während der Verlängerung und Konsolidierung bei 19 Patienten im Alter zwischen 6 und 22 Jahren. Dabei stellten sie eine maximale Distraktionskraft von 14 N/kg Körpergewicht fest. Die durchschnittliche Distraktionskraft pro Patient erreichte dabei Werte zwischen 8 und 10 N/kg.

Aus der Literatur kann übereinstimmend der Einfluss der Indikation auf die notwendigen Distraktionskräfte erkannt werden. Dabei traten bei angeborenen Verkürzungen deutlich höhere maximale Kräfte wie auch eine größere Kraftrelaxation auf. Bei erworbenen Verkürzungen konnte mit einer maximalen Distraktionskraft von circa 500 N gerechnet werden. Unter Berücksichtigung der Fixateursteifigkeit muss diese jedoch deutlich höher erwartet werden (siehe Kapitel 6.2).

Abbildung 3-30 Distraktionskraftverlauf bei mono- und bifokaler Verlängerung

Zunächst wurde bifokal (bis „End of distal distraction“) und anschließend monofokal verlängert (bis „End of proximal distraction“). Nach Abschluss der Verlängerung ging die Kraft exponentiell auf ungefähr die Hälfte des Maximalwertes zurück (Aarnes et al. 2002 a).

Die Gründe für die sehr hohen Distraktionskräfte bei angeborenen Verkürzungen konnten bisher nicht geklärt werden.