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5 Mathematische Epidemiologie

Im Dokument ¨Okologie und Epidemiologie (Seite 54-67)

Nehmen wir an, dass sich eine neue Infektionskrankheit in einer Bev¨olkerung ausbreitet.

Wir interessieren uns f¨ur die Dynamik in der Zahl der Infizierten, von Menschen, die die Krankheit “durchgemacht” haben und jetzt eventuell immun sind und m¨oglicherweise von weiteren Gruppen (z.B. Personen im Krankenhaus oder die Anzahl der Verstorbenen). Die Konstruktion von Modellen f¨ur solche Krankheitsdynamiken ist die Aufgabe der mathemati-schen Epidemiologie, Wie wir sehen werden, sind die Modelle mit denen der mathematimathemati-schen Okologie eng verwandt, aber die Fragestellungen sind typischerweise etwas anders.¨

Einer der “V¨ater” der epidemiologischen Modellbildung war Sir Ronald Ross (1857 – 1932, Nobelpreis 1902), der Entdecker der ¨Ubertragung von Malaria ¨uber AnophelesMoskitos. Er schlug vor, Malaria durch die Bek¨ampfung der Moskitos auszurotten. Es war freilich klar, dass es nie m¨oglich sein w¨urde, alle Moskitos nachhaltig zu beseitigen und seine Zeitgenossen waren sehr skeptisch. Sir Ronald entwarf daraufhin ein (gr¨oßtenteils verbales) mathematisches Modell, um zu zeigen, dass seine Strategie dennoch erfolgreich sein k¨onnte.

Ein Sch¨uler von Ross, der schottische Milit¨ararzt Andersen McKendrick, hatte sich bei seinen Feldforschungen mit einer Tropenkrankheit angesteckt und musste als Invalider nach Edinburgh zur¨uckkehren. Hier traf er auf William Kermack, einen jungen Chemiker, der bei einer Explosion im Labor sein Augenlicht verloren hatte. Nachdem beide ihre empirischen Forschungen nicht mehr fortsetzen konnten, wandten sie sich, als begabte Amateure, der mathematischen Modellierung zu. Auf ihren Arbeiten aus den Jahren 1927 bis 1933 basiert das sogenannte SIR Modell und die Kermack-McKendrick-Theorie, die auch heute noch die konzeptuelle Grundlage der mathematischen Epidemiologie darstellt.

5.1 Das SIS Modell

Der Modellansatz von Kermack und McKendrick ist es, die Population in verschiedene Kom-partimente aufzuteilen, die jeweils durch einen Zustand der Infektion gekennzeichnet sind.

Individuen innerhalb des selben Kompartiments verhalten sich bez¨uglich der epidemiologi-schen Dynamik identisch. Durch Interaktionen oder andere Prozesse k¨onnen Individuen von einem Kompartiment in ein anderes wechseln.

S

𝛽 𝑆 𝑡 𝐼(𝑡)𝑁

I

𝛾 𝐼(𝑡)

S

Abbildung 12: SIS Modell mit Kompartimenten S (suszeptibel, infizierbar) und I (krank, infekti¨os) und ¨Ubergangsraten.

Im einfachsten Fall besteht die Population nur aus zwei Klassen, suszeptiblen (gesunden und infizierbaren) Personen S(t) und momentan infizierten (kranken und infekti¨osen) Perso-nen I(t). Wir nehmen an, dass die epidemiologische Dynamik sehr viel schneller abl¨auft als die Populationsdynamik der betroffenen Population. Wir ignorieren deshalb Geburten und Tode, sodass die Gesamtgr¨oße der Population zeitlich konstant ist,

N =S(t) +I(t). (95)

Arbeitsblatt zur 9. Vorlesung, WS 2020/2021 55 Es gibt zwei grundlegende Prozesse f¨ur den ¨Ubergang zwischenS undI: Neuinfektion und Genesung.

1. Neuinfektionen geschehen durch ¨Ubertragung der Krankheit von einer infizierten Per-son auf eine suszeptible PerPer-son. Sie ist deshalb proportional zur Anzahl der Kontakte zwischen Personen dieser Gruppen. Im einfachsten Fall ist die Rate der Neuinfektionen (die sogenannte Inzidenz) einfach proportional zur Gr¨oße beider Kompartimente,

F(S, I) =βS(t)·I(t)

N . (96)

Dabei ist β die Kontaktrate pro Individuum und I(t)/N die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zufallskontakt tats¨achlich ein Kontakt mit einer infizierten Person ist.

2. Genesung von Infizierten geschieht im einfachsten Fall mit einer konstanten Rate γ pro infizierte Person, also

G(I) =γI(t). (97)

Eine genesene Person ist wieder in KompartimentS und kann insbesondere auch direkt wieder infiziert werden. Es gibt in diesem Modell also keine Immunit¨at. Andererseits werden mit der Zeit alle Personen irgendwann wieder genesen, die Krankheit ist also insbesondere nicht t¨otlich.

Mit diesen Annahmen erhalten wir das folgende System von Differentialgleichungen f¨ur die Anderung in beiden Kompartimenten,¨

S(t) =˙ −F(S, I) +G(I) =−βS(t)I(t)

N +γI(t) (98)

I˙(t) =F(S, I)−G(I) = βS(t)I(t)

N −γI(t). (99)

Obwohl dies wie ein zweidimensionales Problem aussieht, kann es ¨uber die Randbedingung S(t) = N −I(t) leicht in ein eindimensionales Problem umgewandelt werden. Wenn wir insbesondere denAnteilder Infizierten an der Gesamtbev¨olkerung

p(t) = I(t) N betrachten, gilt

˙

p(t) :=g(p) =β(1−p(t))p(t)−γp(t) = (β−γ)p(t)

1− p(t) 1−γ/β

. (100)

Dies ist nichts anderes als (einmal mehr) die logistische Differentialgleichung mit pro-Kopf Wachstumsrate λ = β −γ und Kapazit¨at K = 1 −γ/β. Aus (100) sehen wir, dass das dynamische System zwei Gleichgewichtspunkte hat, p1 = 0 und p2 = K = 1−γ/β. F¨ur β > γ ist das sogenannte endemische Gleichgewicht p2 = K stabil, aber f¨ur β < γ ist K < 0 und unbiologisch und das Gleichgewicht ohne Krankheitserreger p1 = 0 ist stabil.

Am ¨Ubergangspunktβ=γ hat das dynamische System einetranskritische Bifurkation: beide Gleichgewichte treffen aufeinander und tauschen ihre Stabilit¨at aus.

Arbeitsblatt zur 9. Vorlesung, WS 2020/2021 56

g(p) g(p)

p p

Abbildung 13: Phasenliniendiagramm f¨ur das SIS Modell (100). Links:β > γ, rechts: β < γ.

Ronald Ross’ Argument

Das SIS Modell in der Form (100) kann als eine Mathematisierung von Ronald Ross’ ursr¨ ung-lichem Modell f¨ur die ¨Ubertragung von Malaria gesehen werden. Im Fall von Malaria wird der Erreger (Plasmodium) durch die Anopheles-M¨ucke als (biologischer) Vektor von Mensch zu Mensch ¨ubertragen. Im einfachsten Fall k¨onnen wir deshalb annehmen, dass die Kontaktrate β proportional zur Dichte derAnophelesMoskitos ist. Eine Reduktion der M¨uckendichte f¨uhrt dann zu einer proportionalen Reduktion von β. Die Analyse oben zweigt nun, dass wir gar nicht alle M¨ucken zu vernichten brauchen, um die Krankheit auszurotten. Es gen¨ugt v¨ollig, β unter den Bifurkations-Schwellenwert γ zu dr¨ucken.

Dies war Ronald Ross’ Einsicht und er versuchte seine Mitmenschen mit Hilfe seiner Mo-delle zu ¨uberzeugen. In der Tat hielt er selbst diese Modelle (trotz seines Nobelpreises) immer f¨ur seinen bedeutendsten Beitrag zur Wissenschaft. Er hat freilich zu Lebzeiten nur wenige davon ¨uberzeugen k¨onnen. Erst Jahre nach seinem Tod hat sich die mathematische Epide-miologie (mit Hilfe seines Sch¨ulers McKendrick) zu einem weit beachteten Forschungszweig entwickelt. ¨Ubertragungsraten unter eine kritische Schwelle zu dr¨ucken (mit Insktiziden oder mit Moskitonetzen), um die Krankheit gegebenenfalls lokal auszurotten ist auch heute noch ein epidemiologisches Ziel.

Infektionsdauer und Reproduktionszahl

Eine hilfreiche Sichtweise auf die epidemiologische Dynamik betrachtet nicht die einzelnen Kompartimente oder Klassen, sondern eine einzelne infizierte Person und fragt nach der (er-warteten) Dauer ihrer Infektion und nach der Anzahl an Sekund¨arinfektionen, die sie in dieser Zeit verursacht. Laut Modellannahme wird eine infizierte Person mit zeitlich konstanter Rate γ wieder gesund. Sei qI(t) die Wahrscheinlichkeit, dass die Person nach Zeit t noch immer krank (und damit auch infekti¨os) ist. Dann ist

˙

qI(t) =−γqI(t) ⇒ qI(t) = exp[−γt] (101) mit der AnfangsbedingungqI(0) = 1. Mit anderen Worten: die Infektionsdauer ist exponential-verteiltmit Parameterγ und Dichteγexp[−γt]. Damit ergibt sich die mittlere Infektionsdauer

Arbeitsblatt zur 9. Vorlesung, WS 2020/2021 57

Die Neuinfektionsrate zum Zeitpunktt, die auf ein einziges infiziertes Individuum zur¨uckgeht ist

die erwartete Anzahl an Sekud¨arinfektionen durch eine zum Zeitpunkt t infizierte Person.

R(t) wird auch alseffektive Reproduktionszahl bezeichnet. Sie h¨angt vom Anteil S(t)/N der suzeptiblen Individuen ab und ¨andert sich deshalb w¨ahrend eines Ausbruchs. Wir haben

I˙(t) =γ(R(t)−1)I(t)

und schließen daraus, dass die Zahl der Infizierten solange ansteigt, wie R(t) > 1 ist. F¨ur Werte R(t) < 1 nimmt I(t) ab und der Ausbruch ist “unter Kontrolle”. Von besonderem Interesse ist die Frage, ob sich eine Krankheit ausbreiten kann, wenn sie neu in einer Popu-lation auftritt. Wir k¨onnen dann annehmen, dassS(t)≈N ist und die erwartete Anzahl an Sekund¨arinfektionen wir durch die sogenannte Basisreproduktionszahl

R0 =TIβ= β

γ . (104)

angegeben. Analog zu β kann auch R0 die Rolle eines Bifurkationsparameters spielen: f¨ur R0 >1 kann eine neu auftretende Infektion einen epidemischen Ausbruch ausl¨osen, w¨ahrend sie bei R0 <1 rasch wieder ausstirbt.

Die Basisreproduktionszahl bestimmt (fast) alle relevanten Gr¨oßen eines epidemischen Ausbruchs. Mit einer reskalierten Zeiteinheitτ =γt k¨onnen wir die Differentialgleichung f¨ur den Anteil der Infekti¨osen schreiben als

˙

Damit ist insbesondere der anf¨angliche exponentielle Anstieg einer neuen Krankheit exp[(R0−1)τ] = exp[(R0−1)γt]

und das endemische Gleichgewicht K= 1− R−10 . Impfungen und Herdenimmunit¨at

Ein wesentliche Fragestellung der Epidemiologie ist die Auswirkung von Impfungen auf die Dynamik eines Ausbruchs. Insbesondere interessiert man sich daf¨ur, wann man durch Imp-fung den Ausbruch einer Krankheit in der Population ganz verhindern kann. Das wesentliche Konzept f¨ur diese Frage ist das derHerdenimmunit¨at.

Wir nehmen an, dass eine Impfung zu einer sofortigen dauerhaften Immunit¨at der ge-impften Personen gegen die Krankheit f¨uhrt. Wir nehmen weiter an, dass ein Anteil κI der

Arbeitsblatt zur 9. Vorlesung, WS 2020/2021 58 Population geimpft ist. Wir k¨onnen fragen, wie hoch dieser Anteil sein muss, damit die Krank-heit nicht ausbrechen kann. F¨ur eine Antwort verwenden wir wieder die Sichtweise mit den Sekund¨arinfektionen. Ohne Impfung ist die erwartete Anzahl solcher Sekund¨arinfektionen zu Beginn des Ausbruchs gerade durchR0 gegeben. Mit einer Impfrate vonκIerkrankt aber nur ein Anteil 1−κI und kann seinerseits die Infektion weitergeben. Ein Ausbruch kann deshalb verhindert werden wenn

(1−κI)R0 ≤1 ist, bzw. f¨ur

κI ≥κˆI= R0−1

R0 . (106)

Der Schwellenwert ˆκI(R0−1)/R0 wird auch alsHerdenimmunit¨atslevel bezeichnet. Wenn er erreicht wird, ist auch der verbleibende ungeimpfte Anteil der Population (maximal 1/R0) durch die “Herde” der Geimpften gesch¨utzt, da die Krankheit sich nicht effektiv verbreiten kann.

Arbeitsblatt zur 10. Vorlesung, WS 2020/2021 59 5.2 Das SIR Infektionsmodell

Die Annahme, dass alle kranken Individuen wieder gesund werden und dann aber sofort vom selben Erreger wieder infiziert werden k¨onnen ist klarerweise f¨ur die meisten Infektionskrank-heiten wenig realistisch. Das menschliche Immunsystem sorgt in fast allen F¨allen daf¨ur, dass Individuen nach ¨uberstandener Krankheit zumindest ¨uber kurze Fristen immun sind. Ande-rerseits wird bei ernsthaften Erkrankungen ein Teil der Patienten auch sterben und somit auch nicht wieder in das S Kompartiment wechseln. Beide diese Effekte werden im sogenannten SIR (susceptible – infectious – removed) Modell ber¨ucksichtigt.

S

𝛽 𝑆 𝑡 𝐼(𝑡)𝑁

I

𝛾 𝐼(𝑡)

R

Abbildung 14: SIR Modell mit Kompartimenten S (suszeptibel, infizierbar) und I (krank, infekti¨os) und R (immun oder tot = “removed”) und ¨Ubergangsraten.

Im Gegensatz zum SIS Modell ist die Grundannahme beim SIR Modell, dass Personen die Krankheit (innerhalb des modellierten Zeitraums) nur ein einziges Mal bekommen kann. Die (wie beim SIS Modell konstante) Population wird dann in drei Kompartimente eingeteilt:

1. Suszeptible S(t) hatten die Krankheit noch nicht und k¨onnen infiziert werden.

2. Infekti¨ose I(t) sind krank und k¨onnen die Krankheit weitergeben.

3. Personen in der “Removed” Klasse R(t) haben die Krankheit durchgemacht und sind nicht mehr infekti¨os. Sie k¨onnen im SIR Modell entweder gesund und vollst¨andig immun sein oder auch (an der Krankheit) verstorben. In beiden F¨allen nehmen sie an der weiteren epidemiologischen Dynamik nicht mehr Teil (deshalb “removed”). Tote und Immune m¨ussen in einem einfachen Modell deshalb nicht unterschieden werden.

Die Dynamik selbst l¨auft analog zum SIS Modell ab und f¨uhrt in diesem Fall aber auf ein System von drei Differentialgleichungen f¨ur die drei Kompartimente. Mit den Variablen f¨ur die jeweiligen Anteile an der Gesamtpopulation

s(t) := S(t)

N ; p(t) := I(t)

N ; r(t) := R(t)

N (107)

erhalten wir

˙

s(t) =−βs(t)p(t) (108a)

˙

p(t) =βs(t)p(t)−γp(t) (108b)

˙

r(t) =γp(t). (108c)

β ist wieder die Kontaktrate (f¨ur Kontakte, die prinzipiell eine ¨Ubertragung der Krankheit erlauben w¨urden).γist die Rate, mit der Infekti¨ose “removed” werden. Dies kann in der Praxis entweder heißen, dass die Person immun ist oder in strikter Quarant¨ane oder auch verstorben.

Arbeitsblatt zur 10. Vorlesung, WS 2020/2021 60 Im SIR Modell untersucht man in der Regel die Dynamik einer neuen Infektionskrankheit in der Population. Dann haben wir die Anfangsbedingungen

s(0) =s0 ; p(0) =p0= 1−s0 ; r(0) = 0.

wobei p0 typischerweise klein ist. Unter Verwendung der Randbedingung s(t) +p(t) +r(t) = 1

einer konstanten Populationsgr¨oße k¨onnen wir die Dimension des dynamischen Systems wieder um 1 (von 3 auf 2) reduzieren. Da die Dynamik von s(t) und p(t) ohnehin nicht von r(t) abh¨angt, k¨onnen wir daf¨ur einfach die beiden ersten Gleichungen in (108) verwenden. Wenn wir diese mit dem System (69) vergleichen, sehen wir, dass dies gerade einem Spezialfall des Lotka-Voterra R¨auber-Beute Modells entspricht, allerdings ohne intrinsisches Wachstum der Beute (hier: der Suszeptiblen) und ohne Konkurrenz innerhalb der Gruppen. Außerdem sieht man leicht:

• Der Anteil der Suszeptiblens(t) f¨allt monoton und ist auf das Intervall [0;s0] beschr¨ankt.

Er wird deshalb gegen einen Wert s konvergieren.

• Der gemeinsame Anteil der Suszeptiblen und Infekti¨osen, s(t) + p(t), f¨allt ebenfalls monoton im Intervall [0; 1]. Das(t) gegen einen Grenzwert konvergiert muss auchp(t)→ p konvergieren.

• Die Betrachtung der Nullisoklinen zeigt, dass das dynamische System gerade einem degenerierten Fall entspricht: alle Punkte der Achse p = 0 sind Gleichgewichtspunkte und es gibt keine Gleichgewichtspunkte mit p > 0. Wir schließen, dass die Klasse der Infekti¨osen nach langer Zeit immer leer sein wird, p= 0.

Im Unterschied zum SIS Modell gibt es beim SIR Modell also keinendemisches Gleichgewicht.

In der praktischen Anwendung des Modells sind stattdessen andere Fragen von Interesse, die wir in den folgenden Abschnitten besprechen werden.

Wann kann es zu einem epidemischen Ausbruch kommen? Nachdem die Krankheit zum ersten Mal in der Population aufgetreten ist (z.B. durch Immigration) stellt sich wie beim SIS Modell die Frage, ob sie sich “von selbst” (ohne weitere Immigration, durch community transmission) weiter ausbreiten kann. Mit

˙

p(t) = (βs(t)−γ)p(t) sehen wir, dass ˙p(t)>0 genau wieder auf die Bedingung

R(t) = βs(t)

γ >1. (109)

f¨uhrt. Der Infekti¨osenanteils p(t) wird also genau dann wachsen, wenn die effektive Repro-duktionszahl R(t) gr¨oßer 1 ist. Analog zum SIS Modell hat R(t) wieder die Bedeutung der erwarteten Anzahl an Sekund¨arinfektionen durch eine infizierte Person bis sie “removed”

wird. Am Anfang eines Ausbruchs wenn s0 ≈ 1 ist, f¨uhrt das Kriterium gerade wieder auf

Arbeitsblatt zur 10. Vorlesung, WS 2020/2021 61 die Basisreproduktionszahl R0 = β/γ. Wie im SIS Modell berechnet sich der anf¨angliche exponentielle Anstieg der Zahl der Infekti¨osen zu

I(t) = exp [(R0−1)t/TI]I0

mit der erwarteten Infektionsdauer TI = 1/γ. Die Basisreproduktionszahl R0 kann deshalb aus dem anf¨anglichen Anstieg der Fallzahlen wie folgt abgesch¨atzt werden,

R0= 1 +TIlog

Die maximale Zahl (gleichzeitig) infekti¨oser Individuen. Im Fall eines epidemischen Ausbruchs (f¨ur R0 > 1) wird der Anteil der infekti¨osen Individuen zuerst ansteigen und der Anteil der Suszeptiblen abfallen bis die effektive Reproduktionszahl den Schwellenwert 1 erreicht,

R(t) = βs(t)

γ = 1 ⇒ s(t) = γ β = 1

R0.

Mit weiter abfallendem s(t) wird ab diesem Zeitpunkt auch p(t) fallen und letztendlich p = 0 erreichen. Bei einer “realen” Epidemie interessiert man sich oft f¨ur die maximale Anzahl gleichzeitig infizierter Individuen, um daraus u.a. den Bedarf an Krankenhausbetten absch¨atzen zu k¨onnen. Um dieses Maximum zu berechnen, dr¨uckt man die ¨Anderung von I als Funktion vonS aus,

f¨urp6= 0. Mit der Anfangsbedingung p(s0) =p0, erhalten wir nach Integration p(s) =p0+ 1

R0log[s]−s− 1

R0log[s0] +s0= 1−s+ 1

R0 log[s/s0]. (111) Das Maximum wird bei s= 1/R0 erreicht, damit

pmax= 1−1−log[1/(s0R0)]

R0 ≈1−1 + log[R0]

R0 , (112)

f¨urs0 ≈1. Der maximale Anteil infekti¨oser Individuen in der Population ist damit eindeutig durchR0 bestimmt. Er kann Werte zwischen 0 (f¨urR0= 1) und 1 (f¨urR0 → ∞) annehmen.

WennR0 nur wenig gr¨oßer als 1 ist, erhalten wir pmax ≈(R0−1)2/2 (der maximale Anteil infekti¨oser Individuen nimmt also quadratisch wennR0 gegen 1 geht).

Wie viele Individuen werden infiziert? Wir wissen, dass die Zahl der infekti¨osen In-dividuen am Ende des epidemischen Ausbruchs gegen 0 gehen muss,I= 0. Da jedoch alle Punkte der AchseI = 0 Gleichgewichtspunkte sind, ist damit nicht klar, wie viele Individuen bis zum Ende des Ausbruchs infiziert werden und wie viele (eventuell) im S-Kompartiment verbleiben. Die Gr¨oße dieses Anteils ist offensichtlich von Interesse, besonders bei einer schwe-ren Krankheit. Mit Hilfe der ersten und dritten Gleichung in (108) erhalten wir

ds

dr = −βs

γ =−R0s

Arbeitsblatt zur 10. Vorlesung, WS 2020/2021 62 und damit

s(r) =s0exp [−R0r].

Mits= 1−r erhalten wir s als L¨osung der transzendenten Gleichung

s=s0exp[−R0(1−s)]>0. (113) Es gibt also immer einen Anteil nie infizierter Individuen am Ende eines epidemischen Aus-bruchs. Bei s0 ≈1 ist dieser Anteil die kleinste L¨osung

s= exp[R0(s−1)].

F¨urR0 von 1 bis∞f¨alltsvon 1 auf 0. F¨urR0 nahe 1, k¨onnen wir den Anteilrerkrankter Individuen approximieren als

r= 1−s≈ 2(R0−1)

R20 ≈2(R0−1). Man nenntrauch die Gr¨oße (final size) der Epidemie.

Impfungen/Herdenimmunit¨at Eine Impfung eines AnteilsκIder Bev¨olkerung mit einem Impfstoff, der zu vollst¨andiger Immunit¨at f¨uhrt, entspricht im SIR Modell einfach einem entsprechenden Anteil der Population, der von Anfang an im KompartimentRist. Wir haben als Anfangsbedingung alsor0I und f¨ur eine neu auftretende Krankheits0 ≈1−κI. Die Epidemie wird ausbrechen, wenn das Gleichgewicht

(s0, p) = (1−κI,0)

instabil ist. Wir k¨onnen dies ¨uber die Eigenwerte der Jacobi-Matrix analysieren. F¨ur das System ( ˙s,p) erhalten wir˙

Deshalb ist ein Ausbruch m¨oglich f¨ur

β(1−κI)−γ >0 → κI≤ˆκI = β−γ

β = R0−1 R0 .

Das ist offensichtlich das gleiche Ergebnis wie oben (106) f¨ur das SIS Modell berechnet: f¨ur ein Anwachsen der F¨alle ganz am Anfang der Epidemie ist es unerheblich, ob Patienten nach ¨uberstandener Krankheit sebst wieder infizierbar werden oder nicht. Wir sehen auch, dass beide Ans¨atze zur Berechnung, Betrachtung der Sekund¨arinfektionen (beim SIS Modell verwendet) und die Jacobi-Matrix (nat¨urlich) das gleiche Resultat ergeben.

Wir sehen aus dem Resultat insbesondere, dass die ben¨otigten Impfraten f¨ur eine Her-denimmunit¨at stark von der Basisreproduktionszahl abh¨angen. F¨ur Sars-Cov-2 mit einem gesch¨atztenR0 von 2.5−4 ist folglich einκI zwischen 60% und 75% notwendig. F¨ur Masern mit einem sehr hohen R0 ≈ 12.5 sind es 92%. Schließlich ist es instruktiv, das Herdenim-munit¨atslevel mit der Gr¨oße (final size) der Epidemie zu vergleichen. F¨ur Sars-Cov-2 mit R0 ∈[2.5; 4] beispielsweise bekommen wir einefinal sizer∈[89%; 98%], die deutlich h¨oher als das Herdenimmunit¨atslevelκI liegt (sogenannterinfection overshoot). Der Grund ist, dass nach Erreichen vonκI die Gesamtzahl der momentan infekti¨osen Personen zwar absinkt, sich aber immer noch zahlreiche Personen neu anstecken.

Arbeitsblatt zur 10. Vorlesung, WS 2020/2021 63 Ubungsaufgaben 10¨

Aufgabe 10.1 SIRS Modell. Bei vielen Krankheiten nimmt die zun¨achst gewonnene Im-munit¨at wieder ab. Startet man mit dem SIR Modell und nimmt an, dass die Zeit, in der Individuen immun sind, exponentiell mit Rate ρ abnimmt, so kann man das durch folgendes SIRS Modell beschreiben:

S−−−−→βSI/N I −→γI R−ρR−→S mitβ, γ, ρ >0.

(a) Stelle das entsprechende System von Differentialgleichungen auf, sowohl f¨ur absolute Gr¨oßen, als auch f¨ur Anteile an der (konstanten) Gesamtpopulation.

(b) Berechne die Basisreproduktionszahl R0.

(c) Berechne alle m¨oglichen Gleichgewichtspunkte und ihre Stabilit¨at. Wann ist die Krank-heit endemisch? (I >0 im Gleichgewicht)

(d) Vergleiche die Resultate mit dem SIR Modell.

Aufgabe 10.2 SEIR Modell. Bei den meisten Infektionskrankheiten sind neu infizierte Per-sonen nicht sofort selbst infekti¨os, sondern erst nach einer gewissen Latenzzeit, in der sich der Erreger im neuen Wirtsorganismus vermehrt. Dies kann man, ausgehend vom SIR Modell, durch ein zus¨atzliches Kompartiment E f¨ur den latenten Zustand ber¨ucksichtigen.

(a) Wir nehmen an, dass die Zeit im E Kompartiment exponentiell verteilt ist mit einer mittleren Aufenthaltsdauer TE. Alle anderen Parameter bleiben wie im SIR Modell.

Stelle wieder das entsprechende System von Differentialgleichungen auf, sowohl f¨ur ab-solute Gr¨oßen, als auch f¨ur Anteile an der (konstanten) Gesamtpopulation.

(b) Berechne wieder die Basisreproduktionszahl R0.

(c) Berechne die final size der SEIR Epidemie und die maximale Anzahl der Individuen, die gleichzeitig in der E Klasse sind. Vergleiche mit dem SIR Modell.

Aufgabe 10.3 Sars-Cov-2. Wir modellieren die Epidemiologie von Sars-Cov-2 mit einem einfachen SIR Modell. Wir nehmen eine BasisreproduktionszahlR0= 2.5 an. Die Infektions-sterblichkeit (infection fatality ratio) liegt bei∼0.5%.

(a) Unter der hypothetischen Annahme, dass keinerlei Maßnahmen ergriffen werden, um die Verbreitung zu reduzieren, wie hoch w¨are (in diesem einfachen Modell) die Zahl der erwarteten Tode durch die Epidemie in ¨Osterreich (9 Mio Einwohner)?

(b) Infizierte sind im Mittel f¨ur 4 Tage infekti¨os, bevor sie isoliert werden. Derzeit besteht in ¨Osterreich f¨ur rund 1% der neu Infizierten Bedarf an einem Platz auf der Intensiv-station. Wir nehmen eine durchschnittliche Liegedauer von 10 Tagen an. Gib eine grobe Absch¨atzung des maximalen Intensivbedarfs bei nicht-reduzierter Ausbreitung an.

(c) Derzeit gibt es rund 60000 “aktive F¨alle” (= I Klasse) in ¨Osterreich. Wir nehmen au-ßerdem an, dass 5% der Bev¨olkerung die Krankheit bereits ¨uberstanden hat und immun ist. Wie viele Erkrankungen wird es noch geben, wenn die Basisreproduktionszahl durch Maßnahmen auf 0.9 gedr¨uckt werden konnte (und dann da bleibt)? Wie viele sind es bei R0 = 0.8?

Arbeitsblatt zur 10. Vorlesung, WS 2020/2021 64 (d) Modellkritik: Welche Annahmen des einfachen SIR Modells sind klarerweise

unreali-stisch? Wie w¨urden sich realistischere Annahmen auswirken?

Arbeitsblatt zur 11. Vorlesung, WS 2020/2021 65 5.3 SIR Endemien

Bisher haben wir angenommen, dass die epidemiologische Dynamik auf einer schnelleren Zeit-skala stattfindet als die Populationsdynamik des Wirtsorganismus. ¨Uber l¨angere Zeitr¨aume ist diese Sichtweise nicht mehr haltbar und wir m¨ussen Geburten und (nicht durch die Krankheit bedingte) Tode mit in das Modell einbeziehen. Ausgehend vom SIR Modell erhalten wir dann die folgenden Gleichungen:

S(t) =˙ −βS(t)I(t)

N(t) +bN(t)−dS(t), (115a)

I(t) =˙ βS(t)I(t)

N(t) −γI(t)−dI(t), (115b)

R(t) =˙ γI(t)−dR(t), (115c)

mit einer Rated f¨ur von der Krankheit unabh¨angige Tode und einer Geburtenrate b. Dabei nehmen wir an, dass alle Neugeborenen suszeptibel sind. Wir nehmen auch an, dass sich Geburten in allen Kompartimenten S, I und R mit der gleichen Rate ereignen. Das heißt insbesondere, dass alle Individuen inRnoch am Leben sind und gegen die Krankheit immun – und nicht etwa an der Krankheit verstorben. F¨ur die Dynamik der Gesamtpopulation ergibt sich dann

N˙(t) = ˙S(t) + ˙I(t) + ˙R(t) = (b−d)N(t) ⇒ N(t) =N0exp[(b−d)t]. (116) Ein exponentieller Anstieg oder Abfall ist ¨uber einen l¨angeren Zeitraum nat¨urlich unreali-stisch. Wir brauchen also einen Mechanismus der Populationskontrolle. Die einfachste L¨osung ist, dass wir annehmen, dass die Geburten- und Todesraten gleich sind, b =d. Wir k¨onnen dann wieder zu den reskalierten Gr¨oßens=S/N,p=I/N und r=R/N ¨ubergehen,

˙

s(t) =−βs(t)p(t) +b(1−s(t)), (117a)

˙

p(t) = (βs(t)−γ−b)p(t), (117b)

˙

r(t) =γp(t)−br(t). (117c)

Mit der Randbedingung s(t) +p(t) +r(t) = 1 ist das effektiv wieder ein 2-dimensionales dynamisches System. Wir machen die folgenden Beobachtungen:

• Im Unterschied zum SIR Modell ohne Populationsdynamik haben wir jetzt ein positives Wachstum der Suszeptiblen durch neue Geburten. Im Unterschied zum R¨auber-Beute Modell (69) ist dies aber kein Wachstum pro Kopf (∼ s(t)), sondern nimmt mit

• Im Unterschied zum SIR Modell ohne Populationsdynamik haben wir jetzt ein positives Wachstum der Suszeptiblen durch neue Geburten. Im Unterschied zum R¨auber-Beute Modell (69) ist dies aber kein Wachstum pro Kopf (∼ s(t)), sondern nimmt mit

Im Dokument ¨Okologie und Epidemiologie (Seite 54-67)