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4.3 Die Bedeutung der Sanktionen des NCLB für den amerikanischen

4.3.1 Die ‘Madison Middle School’

Die ‘Madison MS’ gehört zum Schulbezirk ‚Oakland Unified School District’. Dieser ist im Gegensatz zum ‚Cotati Rohnert Park Unified District’, welchem die ‚Mountain Shadows MS’ angehört, sechsmal größer. Die örtliche LEA hat hundertzehn Schulen zu

betreuen und liegt so mit neunzig Schulen über dem kalifornischen Betreuungsdurchschnitt der LEAs. Im Gegensatz zur ‚Mountain Shadows MS’ wird die

‚Madison MS’ fast ausschließlich von Kindern hispanischer und afroamerikanischer Herkunft besucht. Nur 4% der Schüler sind asiatischer Herkunft.233 Angaben über Kinder der Klassifizierung ‚White’ werden in der Statistik nicht aufgeführt.234 Die

‚Madison MS’ zählt mit nur dreihundertachtundachtzig Schülern und nur achtzehn Lehrern zu den kleineren MSs.

Das Einzugsgebiet in dem die Schule liegt, gehört zu den ärmeren in Oakland;

zu den in Oakland bekannten ‚flatland schools’. Diese Schulen sind im Tal angesiedelt und haben einen besonders hohen Anteil an Schülern, die aus finanz- und sozialschwachen Familien stammen und sich so für kostenloses Schulessen qualifizieren.235 Schulen, die im gleichen Schulbezirk auf den Hügeln angesiedelt sind, den sogenannten ‚open hill schools’, entsprechen in ihrem Anteil an Kindern mit freiem Schulessen und sozialem Status in ungefähr der ‚Mountain Shadows MS’.236 Der Anteil der über fünfundzwanzigjährigen mit einem College-Abschluss liegt im Tal teilweise unter 12% und so mehr als Zweidrittel unterhalb des kalifornischen Durchschnitts. Die guten Platzierungschancen der Einwohner im Tal in die Gesamtgesellschaft sind durch den niedrigen Bildungsstatus recht niedrig. Die Schulen in diesem Gebiet zählen mit Blick auf ihre Finanzkraft und die Fördermöglichkeit durch die Eltern zu den benachteiligsten Schulen in ganz Kalifornien.

Mr. Mola, der Konrektor der ‚Madison MS’ beschreibt die Situation an seiner Schule als problematisch. Besonders in Bezug auf die Lehrer sei die Situation sehr schwierig. Das liege v.a. an der sinkenden Moral der Lehrer, die sich seiner Meinung aus der steigenden Anzahl der zu betreuenden Schüler ergebe. Dies mag ein Grund sein.

Andere Vermutungen über das Absinken der Moral kann jedoch auch auf den Status der Schule als Brennpunktschule zurückzuführen sein. Die Tallage der Schule und die dortige hohe Kriminalitätslage rufen weitere Probleme und Gefahren hervor, die viele Lehrer demotiviert und abschreckt. Zum Zeitpunkt meines Besuches im Oktober 2004

233 In den 4% sind ca. 2% an Kindern der Klassifizierung ‚Pacific Islander’ berücksichtigt. Vgl. Held;

Sauer (2005), S. 15.

234 Siehe: http://www.publicschoolreview.com/school_ov/school_id/10175 ; 15.02.2006.

235 Beispielsweise qualifizieren sich 78% der Schüler an der ‘Madison MS’, 70% der Schüler an der

‚Havenscourt MS’ und 67% der Schüler an der ‚Elmhurst MS’ für kostenfreies Schulessen. Siehe:

http://www.publicschoolreview.com/school_ov/school_id/10175 ; 15.02.2006 http://www.publicschoolreview.com/school_ov/school_id/10168 ; 15.02.2006.

http://www.publicschoolreview.com/school_ov/school_id/10157 ; 15.02.2006.

236 19% der Schüler an der ‘Montera MS’ qualifizieren sich für kostenfreies Schulessen. Siehe:

http://www.publicschoolreview.com/school_ov/school_id/10200 ; 15.02.2006.

waren einen Monat zuvor ein paar Schüler vor den Toren der Schule erschossen worden. Die Zufahrtswege zur Schule sind von kurz aufeinanderfolgenden Bremshügeln geprägt. Diese sind laut verschiedenen Aussagen während meines Besuchs vornehmlich nicht für das Regulieren der Fahrtgeschwindigkeiten der Fahrzeuge aufgestellt worden, sondern um ein Treffen von Waffenkugeln während einer Fahrt zu erschweren. Die Schule selbst wird von einem hohen Zaun umrandet, der als Schutzwall dienen soll. Der Gefahrenraum der Schule mag daher sicherlich ein weiterer Grund sein, dass sich viele der dortigen Lehrer häufig krank melden.

Im Fall einer Krankmeldung eines Lehrers werden dessen Klassen durch Ersatzlehrer (‚substitute teachers’) unterrichtet. Oft sei dies an der ‚Madison MS’

jedoch nicht der Fall, weil kaum noch Lehrer mit ausreichender Akkreditierung als Ersatzlehrer von den LEAs eingesetzt werden könnten.237 Daher werden in der Regel die Schüler ausfallender Klassen in der großen Frühstückshalle beschäftigt, allerdings nicht fachspezifisch. Folglich geht dabei sehr viel Lehr- und Lernzeit verloren. Die Schüler können kaum den Lehrstoff aufholen, erfassen und/oder richtig verarbeiten. Das Fehlverhalten der Lehrerschaft bzw. der Lehrmoral ist somit ein gewichtiger Störfaktor, welcher die Berechnungen des AYP und API und deren Hürdenbewältigung unmöglich erscheinen lässt und zu weiteren finanziellen Sanktionen durch den Staat führt. Dieser Störfaktor und die hohe Durchgangsquote des Lehrkörpers an dieser Schule kann sogar als einer der Hauptgründe für die Klassifizierung der ‚Madison MS’ als ‚hilfsbedürftige’

Schule seit Einführung des NCLB gewertet werden.238 Schließlich kann diese Art der Instabilität des Schulalltags der Kinder negativen Einfluss auf die Lernaktivitäten der Kinder nehmen.239 Die Bedeutung der Stabilität im Schulalltag wird auch von einem der Lehrer, Mr. Nowar, und aber auch von undokumentierten Seiten an der Schule vertreten.

“Now in the time that I’ve been here, the first two years I was here there was an 80%

turnover rate: teachers, teachers just being cycled and cycled and cycled. And what would happen is, you would get these people with just huge resentments about being here in the first place, plus in addition to that, they were inappropriate for being here in

237 Vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit

238 Wie im Kapitel 3 dieser Arbeit beschrieben wurde, tragen zur Abwanderung der Lehrerschaft und somit zu einer hohen Durchgangsquote an Schulen folgende Faktoren bei: das Ansehen einer Schule, sowie die Möglichkeit eines Karriereaufstiegs an dieser Schule. Besteht beides in nicht oder nur in negativer Form, wie dies der Fall ist an der ‚Madison MS’, bitten selbst durch den Staat eingesetzte Lehrer (z.B. durch die LEAs) um eine schnelle Versetzung an eine andere Schule.

239 Hanushek; Raymond (2003), S. 207.

the first place. Afterwards, you get a principal who settles in and is able to maintain the teaching staff. So we’ve had maybe, you know, 10%, 20% turnover for the last three years. It creates stability. More than anything else, children need structure and stability. Even if it’s unfair, as long as it’s consistent, they can handle it .”240

Aus seinen Aussagen ergibt sich auch, dass die Schule nur durch die Hand einer starken Leitung, welche die Lehrkörper anzuweisen weiß, wieder auf einen guten Kurs gebracht werden kann. Zudem bestätigen seine Aussagen, dass das Handeln der Schule und die Kompromissbereitschaft aller am Schulleben beteiligten wichtig ist, um eine von der staatlichen Übernahme bedrohten Schule wieder mehr Autonomie in ihrer Selbstverwaltung erreichen zu lassen. Diese Kompromisse müssen jedoch häufig auf Kosten der nachmittäglichen Freizeitprogramme der Schüler (‚after school programs’) eingegangen werden. Dabei werden die Freizeitprogramme verstärkt durch Förderprogramme für die Schüler ersetzt. Diese Programme sollen helfen, dass die Leistungen der Schüler und so der Schule die Anforderungen des NCLB treffen.241 Die Schüler selbst sind es somit, die einen erhöhten Einsatz bringen müssen, um der Schule und sich selbst noch helfen zu können weiteren staatlichen Sanktionen zu entkommen.

Sie sind folglich die Leidtragenden, welche das Versagen des Lehrkörpers und des Staates ausgleichen müssen. Leidtragend sind sie v.a. deshalb, da sie auf Freizeit und Fächer, wie Musik, Sport, Kunst, etc, die für die Berechnung des AYP und API nicht notwendig sind, und vielmehr andere Ziele und Interessen verfolgen, verzichten müssen ohne die hundertprozentige Garantie einer ausreichend zukunftssichernden Ausbildung.

Ob der Verzicht auf die Nachmittagsprogramme wirklich sinnvoll ist und nicht nur die Freizeit, sondern auch die Sozialkompetenz und außerschulische Talente vernachlässigt und unterentwickelt bleiben, ist fraglich. Im Herbst 2004 bestand das zusätzliche Förderprogramm an der ‚Madison MS’ bereits an vier Nachmittagen zu je 1,5 Stunden.

Sicherlich können der Lehrkörper der Schule und der Staat die Eltern der Schüler zur Mitverantwortung für das Nichtbestehen der staatlichen Anforderungen ziehen, da diese an der schulischen Erziehung ihrer Kinder teilhaben sollen. Allerdings ist dies im Fall von sogenannten Brennpunktschulen, wie es die ‚Madison MS’ ist, leicht und eher unbedacht dahergesagt. Wie im Interview mit Konrektor Mr. Mola bestätigt wurde, handelt es sich bei seiner Schülerschaft um Schüler deren Eltern selbst

240 Vgl. Interviewanhang mit Mr. Nowar, S.xxiii-xxv.

241 Vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit.

kaum die Schule beendet haben, geschweige denn einen College-Abschluss besitzen.242 Die meisten der Eltern seien, wie auch an anderen Schulen im Einzugsgebiet, nicht einmal der englischen Sprache in ausreichendem Maße mächtig. Viele Eltern sind daneben berufstätig oder berufstätig und alleinerziehend zugleich. Folglich bleibt den Eltern kaum Zeit, sich verstärkt um ihre Kinder zu kümmern. Sie besitzen weder das Wissen ihren Kindern zu helfen, noch das Geld um ihren Kindern weitere Nachhilfe zu finanzieren. Zwar bietet das Safe Passage Safe School Program an der ‚Madison MS’ in Form eines Sozialdienstes den Eltern Hilfe bei der Unterstützung der schulischen Ausbildung ihrer Kinder,243 doch erscheint dies unter den gegebenen Umständen nur

‚wie ein Tropfen auf den heißen Stein’. Die Situation der ‚Madison MS’ und so auch vieler anderer Schulen in den USA und besonders im Raum Oakland ist bereits zu gravierend. Daher müssen in diesen Gebieten weitere Sozialdienste der Gemeinden und Kirchen als Hilfen gebildet und eingesetzt werden. Das NCLB-Programm erscheint in diesen Fällen daher vielmehr als hinderlich denn als hilfreich, um eine Steigerung der Bildungsqualität der Schüler zu erreichen und ihnen so bessere Chancen für ihre Zukunft zu ermöglichen. Der Druck, welcher durch das Erreichen des AYP und API den Schulen auferlegt wird, sowie die staatlichen Kürzungen der Fördermittel für die Schulen sorgen für weitere Hürden in der Bildung als das sie unterstützend wirken. Ist eine Schule von staatlichen Sanktionen betroffen bleibt nur die Flucht an eine andere Schule oder die Umgestaltung der Schule und Schülerschaft in eine oder sogar mehrere

‚Charter Schools’. Dafür ist allerdings ein erhöhter Einsatz der Eltern gefragt, welchen viele der Eltern nicht leisten können.244