• Keine Ergebnisse gefunden

Mögliche Kostenentwicklungen in einer individualisierten

Im Dokument Individualisierte Medizin (2014) (Seite 81-84)

8 Wirtschaftliche Aspekte der Individualisierten Medizin

8.5 Mögliche Kostenentwicklungen in einer individualisierten

Gesundheitsversorgung

Viele Kritiker der Individualisier-ten Medizin sehen in ihr die Gefahr einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen.

Die möglichen ökonomischen Konse-quenzen einer Individualisierten Medizin sind hochkomplex und lassen sich nur schwer abschätzen (Hatz et al., 2014).

Dieses gilt jedoch gleichermaßen für vie-le „nicht individualisierte“ Innovationen in der Medizin (Bratan & Wydra, 2013).

Klarheit werden wohl erst die Praxis und langjährige Versorgungs­ und Therapie­

optimierungsstudien bringen können.

Vor dem Hintergrund einer stei-genden Lebenserwartung der Gesamtbe-völkerung und dem gehäuften Auftreten chronischer Erkrankungen vertreten Be-fürworter der Individualisierten Medizin die Meinung, dass insbesondere durch den vermehrten Einsatz von Biomarkern zur Vorhersage der therapeutischen Ant-wort von Patienten (s. Kap. 3.2) zahlrei-che unnötige Behandlungen vermieden werden können. Statt zunächst verschie-dene unwirksame Medikamente auszu-probieren, sollen Patienten also in Zu-kunft immer häufiger sofort das für sie wirksame Mittel erhalten können. Ferner erhofft man sich, dass der vermehrte Ein-satz zielgerichteter, nebenwirkungsarmer Therapien, z. B. in der Tumortherapie, weg von kostenintensiven stationären Be-handlungen hin zur vorwiegend ambulan-ten Patienambulan-tenversorgung führt.

Demgegenüber stehen die in der Regel sehr hohen Kosten individualisier-ter Therapien, die mitunindividualisier-ter die Größen-ordnung von 100 000 Euro pro Jahr und mehr erreichen können, insbesondere, wenn sie auf dem Einsatz von Antikörpern oder zellbasierten Therapiean sätzen (s.

Kap. 6.2.3) beruhen. Es ist allerdings zu erwarten, dass nach Ablauf der entspre-chenden Patentrechte viele der neuen The-rapien weitaus preisgünstiger zu erhalten sein werden. Die Patientenstratifizierung und damit einhergehende Wirksamkeits-gewinne können auch die Entwicklungs-kosten pro Therapie verringern. Dafür gibt es mehrere Gründe: weniger Patien-ten in der klinischen Entwicklungspha-se II und III, eine kürzere Studiendauer, eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit im Markt, eine geringere Ausfallrate und die Option für eine schnellere Markteinfüh-rung durch verkürzte Zulassungszeiten (Blair et al., 2012).

Wenn Therapien besser wirken, steigt normalerweise auch die Thera-pietreue (compliance) von Patienten. Dies könnte zu einer verstärkten

Arzneimittel-nachfrage führen und sich damit wieder-um ausgabenerhöhend bei den Kranken-kassen niederschlagen. Neben den reinen Behandlungskosten sollten aber auch se-kundäre Effekte, z. B. Produktivitätssteige-rung, Reisekosten, Kosten für die Familie des Patienten usw., bis hin zu den Kosten für die Gesellschaft betrachtet werden.

Die fortschreitende Patienten­

stratifizierung beeinflusst die Kosten im Diagnostikbereich. Kostenintensiv sind insbesondere die Validierung und Quali-fizierung neuer Biomarker (s. Kap. 3.4).

Da die Behandlungskosten, z. B. im Be-reich der Tumorbehandlung, häufig be-reits mehrere Zehn- bis Hunderttausend Euro betragen, machen zugehörige Bio-markertests (z. B. HER2­Überexpression:

100 bis 1000 Euro; kombinierter Test für BRCA1 und BRCA2: 1000 bis 1500 Euro;

BRAF-V600E: ca. 100 Euro; MRT mit Kontrastmittel: 500 bis 1000 Euro) meist nur wenige Prozent der Gesamtkosten der Behandlung aus. Während in diesen Situationen die möglichen Einsparungen bei der Therapie den diagnostischen Auf-wand leicht rechtfertigen, kann das Bild wiederum bei regelmäßig erforderlichen Vorsorgeuntersuchungen oder weniger kostenintensiven Therapien ganz anders aussehen (Davis et al., 2009). Weiterhin hängt die Kosteneffektivität (s. Kap. 8.2) der Tests davon ab, bei wie viel Prozent der Patienten das zugehörige Medikament durchschnittlich wirkt (Blair et al., 2012).

Den sinkenden Kosten der Gesamtgenom-sequenzierung steht gegenüber, dass die anschließende Auswertung zusätzliches Fachpersonal erfordert und der Bedarf an genetischer Beratung der Patienten deut-lich steigen wird (s. Kap. 7.7). Die Kosten für Speicherung, Auswertung und Verwal-tung der Daten aus Omics­Analysen haben die Kosten der Datenerhebung längst über-holt (Europäische Kommission, 2013).

Eine Hoffnung vieler Befürworter der Individualisierten Medizin ist, dass die ausgereifte Prädiktion und

Präven-tion (s. Kap. 5) zu einem allmählichen Wandel von der derzeitigen überwiegend reaktiven in eine präventiv­proaktive Ausrichtung der Gesundheitsversorgung führt (Hunter et al., 2013). Nach dem Ergebnis mehrerer Studien in den USA hatten präventive Maßnahmen, wie bei-spielsweise die Einnahme blutdruck­

oder cholesterinspiegelsenkender Mittel, Vorsorgeuntersuchungen zur Früher-kennung von Tumoren oder präventive Operationen, bisher allerdings nur Kos-tensteigerungen für die Gesundheitsver-sorgung zur Folge (Russell, 2009). Nach den Prinzipien der Pharmakogenetik könnte jedoch die passgenaue Auswahl präventiver Maßnahmen deren Kosten-effektivität deutlich steigern (Russell, 2009). Einerseits werden z. B. Krebsvor-sorgeuntersuchungen bei Personen mit hohem erblich bedingtem Risiko bereits sehr viel engmaschiger durchgeführt als früher (s. Kap. 5.7.1). Andererseits soll-ten zukünftig auch gezielt Niedrigrisiko-personen identifiziert werden, bei denen bestimmte Kontrollen seltener erfolgen können oder auf Kontrollen verzich-tet werden kann. So liegen für das breit genutzte Brustkrebs­Screening bereits neue Konzepte (Onega et al., 2014) und Bewertungsansätze (Vilaprinyo et al., 2014) zur Auswahl optimaler individua-lisierter Strategien vor.

Für die meisten häufigen chroni-schen Krankheiten sind im Moment noch wenige zuverlässige Risikobiomarker und präventive Maßnahmen verfügbar (s.

Kap. 5.7). Es ist jedoch sehr wahrschein-lich, dass insbesondere im Zuge weiterer Studien an molekular definierten Per-sonengruppen das Verständnis der Ur-sachen von Erkrankungen, z. B. Herz­

Kreislauf­Beschwerden, Diabetes oder neurodegenerative Erkrankungen, wächst und damit die Optionen für frühzeitige, individualisierte Interventionen zuneh-men, jedoch mit derzeit noch unklaren Auswirkungen auf die Kosten im Gesund-heitswesen.

8.6 Fazit

Individualisierte Diagnostik und Therapie werden mit der Hoffnung auf größere Hei-lungschancen verbunden, sind aber auf-grund der kleineren Patientenzielgruppen deutlich teurer als nicht zielgruppenspe-zifische Behandlungsmethoden. Nichts-destotrotz ist ein marktwirtschaftlicher Trend zur Entwicklung von Therapien und Diagnostika für kleinere, definier-te Märkdefinier-te deutlich. Um die Entwicklung von Therapien für seltene Krankheiten zu fördern, sind Ausnahmeregelungen für die Nutzenbewertungen und erleichterte Erstattungsmodalitäten sinnvoll. Dabei sollte allerdings sorgfältig darauf geachtet werden, dass sich die Therapien mit dem höchsten Nutzen für die Patienten lang-fristig durchsetzen können und wirkungs-lose Therapien vermieden werden.

Der wachsende Versorgungsbedarf gerade bei älteren, häufig multimorbi-den Patienten führt zu einer steigenmultimorbi-den finanziellen Belastung für das Gesund-heitssystem. Dieser Entwicklung könnte der gezielte Einsatz individualisierter the-rapeutischer Interventionen, die Verrin-gerung von Nebenwirkungen, verkürzte Krankenhausaufenthaltszeiten und eine teilweise Verlagerung von Therapien in die ambulante Versorgung entgegenwir-ken. Kostenträger werden zukünftig einem vermehrten Bedarf an differenzieller Dia-gnostik zur gezielteren Patientenauswahl und darüber hinaus einer möglichen Ver-lagerung der Versorgung hin zur individu-alisierten Krankheitsprävention Rechnung tragen müssen. Grundsätzlich ist festzu-halten, dass sich die langfristigen Kosten-auswirkungen der Individualisierten Me-dizin im Gesundheitswesen ambivalent und hochkomplex darstellen. Es fehlt noch an belastbaren Zahlen, um eine verläss-liche gesamtwirtschaftverläss-liche Betrachtung anzustellen. Klarheit könnte erst die mehr-jährige Praxis und ökonomische Begleit-forschung, z. B. mittels Versorgungs­ und Therapieoptimierungsstudien, bringen.

9 Rahmenbedingungen für die

Im Dokument Individualisierte Medizin (2014) (Seite 81-84)