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Logiken der klimatologischen Erhebung

Strenge Methoden statt Beliebigkeit, staatlich finanzierte Sammelstellen statt zusammenhangslose Beobachtungen: Die ab Mitte des 19. Jahrhunderts ge-gründeten Wetterbeobachtungsnetze waren Versuche, die Meteorologie und Klimatologie als wissenschaftliche Disziplinen zu stärken. Die Aussicht auf verlässliches Material, aus dem sich vergleichbare Mittelwerte ableiten liessen, weckte hohe Erwartungen. Beobachtungsresultate im Hinblick auf geografi-sche Faktoren zu analysieren, schien der Schlüssel zu kausalen Erklärungen und der Entdeckung von Gesetzmässigkeiten zu sein. Zunächst ging es aber darum,

«möglichst viele Thatsachen über die climaterischen Verhältnisse» zu sammeln, wie es die Organisatoren des schweizerischen meteorologischen Beobachtungs-netzes ausdrückten.1 Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt war 1863 mit dem Zweck gegründet worden, die Tabellen aller Beobachtungsstatio-nen der Schweiz zu bearbeiten und zu publizieren. Dieses Sammeln von «That-sachen» und sich darauf stützende Vergleiche verschiedener Klimate blieben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die dominierenden Tätigkeiten im Bereich der Klimatologie. In der Zeit von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhun-derts wurde die Klimatologie in der Regel als ein Teil der «Meteorologie im wei-teren Sinne» aufgefasst.2 Sie galt als «mehr beschreibend» als die «Meteorologie im engeren Sinne», die versuchte, atmosphärische Phänomene auf physikalische Gesetze zurückzuführen.3 Dennoch verfolgte auch die Klimatologie das Ziel, Zusammenhänge zu erklären.4 Im Folgenden wird nicht der Frage nachge-gangen, inwiefern dieser Anspruch eingelöst wurde, sondern welche Leitideen für die institutionalisierte Datenproduktion auf nationaler Ebene massgeblich waren, welche Verfahren sich dabei ausbildeten und welche Darstellungen dar-aus resultierten.

Zunächst steht dabei das Beobachtungsprogramm der meteorologischen Stati-onen im Vordergrund, wobei die Veränderungen im Spektrum der Datenerhe-bung während der ersten fünf Jahrzehnte verfolgt werden. Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt versuchte, die Messbedingungen der Stationen unverändert beizubehalten, um langfristige Vergleichbarkeit zu sichern. Diese

1 Mousson 1864, S. 239.

2 Siehe das Handbuch der Klimatologie: Hann 1883, S. 2.

3 Hann 1883, S. 2 f. Siehe auch Hann 1901, S. 1.

4 Siehe Köppen 1895. Als Überblick zur Entwicklung der Klimatologie siehe Nebeker 1995, S. 11–26; Heymann 2009.

Bemühungen erscheinen ausgesprochen deutlich bei den Beobachtungszeiten.

Um eine Verschiebung der Termine zu verhindern, lehnte die Zentralanstalt eine Anpassung an das globale Zeitzonensystem ab. In einem anschliessenden Teil fokussiert die Untersuchung die statistischen Verfahren und ihre Auswirkun-gen auf das Verständnis von Klima und Wetter. Besonders klar lässt sich dies am Beispiel der Bauernregel zu den sogenannten Eisheiligen illustrieren. Als Letztes wird anhand der 1909 fertiggestellten Publikation Das Klima der Schweiz ge-zeigt, dass die Nation zu einem wichtigen Ordnungsprinzip der Klimatologie wurde und umgekehrt die Darstellung des Klimas eine nationsbildende Wirkung entfaltete.5

Das Spektrum der Wetterbeobachtung

Die Wissenschaftsgeschichte hat sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt der Frage zugewandt, wie wissenschaftliche Daten überhaupt zu Daten, zu Infor-mation in numerischer Form, geworden sind. Pionierhaften Charakter haben hierbei besonders die Arbeiten von Bruno Latour. Er ergänzt die historische Objektivitätsforschung mit dem wichtigen Zusatz, dass Zahlen nicht den An-fang, sondern einen Zwischenschritt in einem komplexen Prozess darstellen.

Dementsprechend problematisiert Latour die Bezeichnung «Daten», ein Wort, das seinem lateinischen Ursprung nach «das Gegebene» bedeutet.6 Stattdessen spricht er von «Sublata», dem Erhobenen. Gemeinsam mit Steve Woolgar argu-mentiert Latour, dass die Produktion von textlichen oder bildlichen Informati-onsträgern einen wesentlichen Bestandteil wissenschaftlicher Forschung bildet.

Dabei übernehmen die beiden den Begriff «Inskription» von Jacques Derrida, um zu beschrieben, wie materielle Substanzen oder Naturphänomene in Wor-ten, Zahlen, Kurven oder Bildern festgehalten werden.7 Latour bezeichnet sol-che Inskriptionen auch als unveränderlisol-che und transportierbare Elemente, als sogenannte «immutable mobiles».8 Zudem hat er das Konzept der zirkulieren-den Referenz entworfen, mit dem er Übersetzungsvorgänge zwischen einer Be-obachtung und ihrer wissenschaftlichen Verwertung analysiert.9 Auch für die Meteorologie und ihr Teilgebiet Klimatologie gilt: Das Beobachten war kein Akt

5 Teile der folgenden Argumente sind publiziert in Hupfer 2017.

6 Latour 2002, S. 55. Zur Herstellung des «Gegebenen» siehe auch Rheinberger 2001; Gugerli et al. 2007. Zu Bedeutungsverschiebungen des Begriffs «Daten» siehe Von Oertzen 2017; Aro-nova/Sepkoski/von Oertzen 2017. Allgemein zu einer prozesshaften Konzeption von Wissen siehe Fleck 1980 [1935].

7 Latour/Woolgar 1986, S. 51.

8 Latour 1987.

9 Latour plädiert dafür, die einzelnen Umformungen sichtbar zu machen und so das Endprodukt

simpler Repräsentation von Naturwirklichkeit, sondern ein Konstruktions- und Übersetzungsprozess, bei dem Momentaufnahmen flüchtiger Wetterphänomene in Tabellenwerte verwandelt wurden.

Die Selektion der Phänomene und ihre formalisierte Beschreibung sind inter-essante Praktiken, weil an ihnen sichtbar wird, dass Wetter nicht schlicht war, sondern hervorgebracht wurde. Damit rücken meteorologische Daten wie Mo-natstabellen als wissenschaftshistorische Quellen ins Blickfeld. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die zahlenmässige Erfassung eine entschei-dende Rolle: Der wissenschaftliche Zugriff auf das Wetter war in erster Linie ein messender. Hatten die Naturforscher des 18. Jahrhunderts noch verschie-dene, auch nicht quantifizierende Ansätze verfolgt, dominierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die instrumentell gestützte Wetterbeobachtung.10 Das heisst, die Beobachter erfassten in erster Linie das, was messbar und somit numerisch handhabbar war: die Temperatur, den Druck und die Feuchtigkeit der Luft sowie die Niederschlagsmenge. Dass solche zahlenmässigen Erfassun-gen eine Reduktion der Wirklichkeit auf wenige Dimensionen bedeuteten, hat Theodore Porter in seiner vielzitierten Studie Making Things Quantitative be-tont.11 Im schweizerischen Beobachtungsnetz wurde auch ein meteorologisches Element quantifiziert, das man mit der Stationsausrüstung nicht instrumentell messen konnte: die Bewölkung. Deren Intensität schätzten die Beobachter mit blossem Auge ab und definierten danach einen Wert auf einer Skala von null bis zehn.12 Durch diese numerische Abstraktion liessen sich die Bewölkungsbeob-achtungen statistisch bearbeiten. Zahlen suggerierten zudem wissenschaftliche Exaktheit und Objektivität.13 Die Beobachtungstabellen enthielten aber auch eine Spalte mit qualitativen Angaben, die den aktuellen Wetterzustand charak-terisierten.14 Standardisiert waren diese Beschreibungen nicht. Doch sie wurden einheitlicher, als die Zentralanstalt Mitte der 1870er-Jahre international verein-barte Symbole für verschiedene Niederschlagsarten und Phänomene wie Blitze, Regenbogen oder Glatteis einführte.15

in seine Einzelteile zu zerlegen. Siehe seine Fallstudie zu einer bodenkundlichen Untersuchung im Amazonasgebiet: Latour 2002, S. 36–95.

10 Siehe zu verschiedenen Formen des Wissens über das Wetter in der Zeit von 1750 bis 1850 das laufende Projekt von Linda Richter (Goethe-Universität Frankfurt, Sonderforschungsbereich

«Schwächediskurse und Ressourcenregime»).

11 Porter 1994.

12 Mousson 1863c, S. 9. Ab 1893 wurde zudem die Dicke der Wolkenschicht mit einem Exponen-ten angegeben. Siehe Billwiller 1893b, S. 23.

13 Zum quantifizierenden Zugang zur Natur siehe Heintz 2007; Sepkoski 2013.

14 Diese Ergänzung zu den Zahlenangaben sollte über die Gesamtwirkung der meteorologi-schen Elemente informieren. Siehe Billwillers Erklärungen zu den Rubriken «Witterung» und

«Bemerkungen»: Billwiller 1893b, S. 23.

15 Siehe dazu Kapitel 3.

Auf der Rückseite der Monatstabellen war eine halbe Seite für Beobachtun-gen zu jahreszeitlich wiederkehrenden Entwicklungsphasen von Pflanzen und Verhaltensweisen von Tieren reserviert. Diese sogenannten phänologischen Er-scheinungen waren vom Wetterablauf abhängig und konnten diesen somit in-direkt dokumentieren. Ihre Beobachtung hatte innerhalb der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft Tradition. An die kantonalen Zweiggesellschaf-ten waren in den 1840er- und 1850er-Jahren Formulare mit Fragen zu Vögeln und Pflanzen verteilt worden.16 Nun sollte auch das 1863 in Betrieb genommene meteorologische Beobachtungsnetz solche Informationen sammeln. Die Beob-achter wurden aufgefordert, auf der Rückseite ihrer Tabellen zu notieren, wann die ersten Schwalben ankamen, die Blüten der Buchen austrieben, die Kirschen reiften oder die Weinernte begann. Zwei Vogel- und elf Pflanzenarten waren im Beobachtungshandbuch von 1863 aufgeführt.17 Auch dessen revidierte Auflage von 1893 enthielt eine Liste von Pflanzen, die beobachtet werden sollten. Aller-dings wurden die phänologischen Aufzeichnungen nun als fakultativ bezeich-net.18 Damit reagierte die Meteorologische Zentralanstalt darauf, dass bisher nur wenige Beobachter die gewünschten Angaben konsequent geliefert hatten.19 In welcher Form die nicht instrumentellen phänologischen Aufzeichnungen bear-beitet werden sollten, hatten die Organisatoren des schweizerischen meteorolo-gischen Beobachtungsnetzes nicht festgelegt. Die Zentralanstalt publizierte in den Jahresbänden jeweils eine lose Auswahl an Informationen, beispielsweise, dass der Beobachter der Station Glarus 1865 bereits Mitte Februar Wachholder-drosseln gesichtet hatte.20 Später wurden die Angaben nach Pflanzen- und Tier-arten geordnet aufgelistet.21

Doch es war unsicher, welchen Stellenwert phänologische Beobachtungen für die Meteorologie – genauer für ihren klimatologischen Zweig – haben sollten.

16 Siehe die im Jahrbuch der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft publizierte «Auf-forderung zur Untersuchung der periodischen Erscheinungen in der Pflanzen und Thierwelt»:

Heer 1844. Siehe auch Oswald Heers Neuauflage des Schemas von 1857, ebenfalls im Namen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft: «Beobachtungen über die periodischen Erscheinungen der Natur» (BBB, GA SANW, 221). Zu Phänologie als Bestandteil der natur-kundlichen Lokalforschung siehe Scheidegger 2017, S. 136 f.

17 Mousson 1863c, S. 11.

18 Die Beobachter wurden angehalten, phänologische Notizen zu machen, sofern sich ihnen Möglichkeit dazu bot. Siehe Billwiller 1893b, S. 27. Auf den Beobachtungsformularen war ab Anfang der 1880er-Jahre kein separates Feld mehr für «Periodische Erscheinungen» vorhan-den, aber nach wie vor eines für «Bemerkungen».

19 Bereits nach dem ersten Beobachtungsjahr hatte die Meteorologische Kommission konstatie-ren müssen, dass phänologische Beobachtungen kaum und nur lückenhaft eintrafen. Mousson 1864, S. 228.

20 Siehe Schweizerische Meteorologische Beobachtungen, 2 (1865), S. 150.

21 «Periodische Erscheinungen: April und Mai 1872», in: Schweizerische Meteorologische Beob-achtungen, 9 (1872), S. 312.

Der Zentralanstaltsdirektor Robert Billwiller sprach sich 1893 zwar dafür aus, weiterhin Pflanzen zu beobachten, betonte aber gleichzeitig, dass die Vegetati-onsphasen nicht nur vom Klima, sondern auch von der Bodenbeschaffenheit ab-hingen.22 Weder Billwiller noch seine Fachkollegen fanden Methoden, um den Zusammenhang zwischen phänologischen Informationen und dem Klima zu systematisieren. Der Direktor der Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmag-netismus in Wien, Julius Hann, schrieb sogar, die phänologischen Beobachtun-gen kosteten «Mühe und Arbeit», ohne dass dabei viel herausschaue.23 Es lässt sich also folgende Entwicklung konstatieren: Nachdem die staatlichen meteo-rologischen Einrichtungen sich anfangs mit Elan den phänologischen Beobach-tungen gewidmet hatten, stellten sie zunehmend infrage, ob diese überhaupt in ihren Zuständigkeitsbereich fielen.24 Beobachtungen qualitativer Art über Tiere und Pflanzen waren schwierig in die neuen Wissensbestände einzugliedern. Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt schenkte der Phänologie immer weniger Aufmerksamkeit, obwohl einzelne Beobachter regelmässig entspre-chende Angaben einsandten.25 Das Interesse an phänologischen Beobachtungen

22 Billwiller 1893b, S. 27.

23 Hann 1881, S. 463. Die Bezeichnung der k. k. Institution, die 1851 als «Centralanstalt für mete-orologische und magnetische Beobachtungen» gegründet worden war, variierte leicht. Hier wird durchgängig die Schreibweise «Zentralanstalt» verwendet. Siehe zu ihrer Entwicklung:

Ficker 1951; Hammerl et al. 2001.

24 Als die Meteorologische Zentralanstalt 1880 in einem Bericht an die Bundesversammlung ihre zukünftigen Tätigkeiten skizzierte, bezeichnete sie es als offene Frage, ob es ihre Aufgabe sei, phänologische Informationen zu sammeln. Siehe Wolf/Billwiller 1880, S. 408.

25 Einige Vertreter der Historischen Klimatologie haben die These formuliert, dass die Meteoro-logen nach der Einrichtung meteorologischer Netze in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Abb. 18: Auszug aus der Liste «Periodische Erscheinungen: April und Mai 1872», die in den Schweizerischen Meteorologischen Beobachtungen publiziert wurde.

sank, bis diese Mitte des 20. Jahrhunderts einen erneuten Aufschwung erleb-ten, der sich in der Gründung eines separaten phänologischen Beobachtungs-netzes manifestierte. Ein zweiter, grösserer Aufschwung erlebte die Phänologie ab Ende des 20. Jahrhunderts, wobei sie sich als Werkzeug der Klimafolgenfor-schung etablierte.26 Viele wissenschaftliche Institutionen suchten dabei unter dem Schlagwort «Citizen Science» die Zusammenarbeit mit Freiwilligen.27 Das meteorologische Beobachtungsspektrum veränderte sich nicht nur bei der Dokumentation phänologischer Ereignisse, sondern auch in Bezug auf Erdbe-ben. Waren Wetter- und Erdbebenbeobachtungen im 18. Jahrhundert häufig kombiniert worden, separierten sie sich im 19. Jahrhundert zunehmend in zwei eigenständige Disziplinen.28 Im Fall der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt kam es aber zu einer engen Zusammenarbeit mit der Erdbeben-kommission, die 1878 von der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft gegründet worden war.29 Diese hatte ein Netz von Korrespondenten organi-siert. Ihre Berichte zu den gesammelten, nicht instrumentellen Beobachtungen erschienen ab 1888 in den Jahrbüchern der Meteorologischen Zentralanstalt, was für die Naturforschende Gesellschaft eine finanzielle Entlastung bedeute-te.30 Zudem war die Erdbebenkommission sowohl mit der Meteorologischen Kommission als auch mit der Meteorologischen Zentralanstalt durch personelle Überlappungen verbunden. Robert Billwiller war ab 1892 nicht nur Direktor der Meteorologischen Zentralanstalt, sondern auch ehrenamtlicher Präsident der Erdbebenkommission.31 In dieser Personalunion brachte er viele seiner

me-voll auf die instrumentelle Erfassung des Wetters gesetzt hätten. Den Bedeutungsverlust phä-nologischer Beobachtungen stellen sie also in direkten Zusammenhang zur Standardisierung von Instrumentenmessungen. Siehe Wetter/Pfister 2014, S. 69 f. So naheliegend diese Lesart scheint, so schwierig ist sie zu beweisen. Um zu erklären, weshalb viele Zentralanstalten phäno-logische Beobachtungen zunächst förderten, später aber kaum mehr berücksichtigten, müssen weitere Faktoren einbezogen werden.

26 Siehe Rutishauser/Studer 2007; Rutishauser/Jeanneret 2009; Wetter/Pfister 2014. Siehe zudem als Überblick zu phänologischen Aufzeichnungen in der Schweiz seit 1808: Defila et al. 2016.

27 Siehe dazu das seit 2015 laufende Forschungsprojekt «The Rise of the Citizen Science: Rethin-king Public Participation in Science» unter der Leitung von Bruno Strasser (Universität Genf).

Siehe auch das 2016 erschienene Gesnerus-Heft (Jahrgang 73) zu Amateurismus in den Wis-senschaften, das Nathalie Richard und Hervé Guillemain als Gastherausgeber realisiert haben.

Siehe zudem Allen 2009.

28 Zur Institutionalisierung der Erdbebenbeobachtung siehe Coen 2012a; Coen 2013 und Valder-rama 2015.

29 Siehe zu dieser Kommission, welche die weltweit erste nationale Kommission zur fortlaufen-den Beobachtung von Erdbeben war: Westermann 2011a; Coen 2012b; Grolimund/Fäh 2014 und Grolimund 2015.

30 Siehe «Die Erdbeben der Schweiz in den Jahren 1888–91» im 28. Jahrgang (1891) der Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Central-Anstalt. Die Erdbebenverzeichnisse erschienen bis 1955 in den Annalen.

31 Jahresbericht des Central-Comité 1892, S. 77.

teorologischen Beobachter dazu, auch für die Erdbebenkommission zu rap-portieren.32 Zusätzlich zu solchen nicht instrumentellen Beobachtungen plante und realisierte die Erdbebenkommission ein Observatorium mit Messappara-ten, das 1911 als Schweizerische Erdbebenwarte oberhalb von Zürich errichtet wurde. Doch weil die Handhabung der drei installierten Seismografen sehr viel Zeit beanspruchte, war die ehrenamtlich arbeitende Kommission der Schwei-zerischen Naturforschenden Gesellschaft mit dem Betrieb der Erdbebenwarte überfordert.

Dies war für den Bundesstaat ein Problem, weil er sich 1904 mit dem Beitritt zur Internationalen Seismologischen Assoziation verpflichtet hatte, auf seinem Ter-ritorium Erdbeben zu überwachen und sich am internationalen Datenaustausch zu beteiligen.33 Die schweizerische Regierung suchte also nach einer Alternative zur bisherigen Delegation der Aufgaben an die Naturforschende Gesellschaft.

Eine Integration in die Meteorologische Zentralanstalt hielt der Bundesrat für die beste Lösung. Schliesslich arbeiteten in der Erdbebenkommission sowohl der Direktor der Zentralanstalt – seit 1905 Julius Maurer – als auch deren oberster Assistent Alfred de Quervain mit. Letzterer hatte sich bis anhin in seiner Freizeit um die Erdbebenwarte gekümmert.34 Julius Maurer wehrte sich zunächst gegen die geplante Eingliederung, was ein Indiz dafür ist, dass die Zentralanstalt die Bereiche Meteorologie und Klimatologie zunehmend enger definierte und ihr Profil schärfen wollte. Trotzdem fügte sich Maurer schliesslich den Plänen des Bundesrats. So hatte die Meteorologische Zentralanstalt ab Dezember 1913 eine neue Abteilung mit der Bezeichnung «Schweizerischer Erdbebendienst».35 Die Zentralanstalt leistete damit neben ihren Kernaufgaben auch eine landesweite seismologische Überwachung. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1957, wurde der Erdbebendienst jedoch wieder abgetrennt. Nach dem Tod des bisherigen Leiters der Erdbebenabteilung fehlte es der Meteorologischen Zentralanstalt nämlich

32 Die fakultative Zusatzaufgabe bestand darin, bei bemerkten Erschütterungen einen Fragebo-gen auszufüllen. Diesen konnten die meteorologischen Beobachter direkt bei der Zentralanstalt beziehen. Siehe Billwiller 1893b, S. 26. Siehe dazu auch Grolimund/Fäh 2014, S. 5–7. Zum schwachen Formalisierungsgrad der Erdbebenbeobachtungen siehe Coen 2012b.

33 Die Assoziation war 1903 gegründet worden. Siehe dazu das Dossier «Internationale seismo-logische Assoziation» im Bundesarchiv: BAR, E88 1000/1167, 156. Als historischen Überblick zur Erdbebenüberwachung in der Schweiz siehe Fäh/Grolimund 2014. Zur internationalen Institutionalisierung der Erdbebenforschung siehe Herren 2000, S. 157.

34 Zu Alfred de Quervain (1879–1927) und der Verhandlung von amtlicher versus ehrenamtlicher Forschung siehe Grolimund 2015.

35 Die Zentralanstalt war neu auch die Sammelstelle für die Erdbebenberichte. Siehe zum Gesetz über die Aufgabenerweiterung, das 1914 in Kraft trat: Nationalrat (18. Dez.) 1913, S. 904. Auch in Österreich waren Meteorologie und Erdbebendienst institutionell gekoppelt, seit die k. k.

Zentralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus in Wien 1904 den seismischen Dienst übernommen hatte und fortan den Namen «k. k. Zentralanstalt für Meteorologie und Geody-namik» trug. Siehe Hammerl et al. 2001, S. 86–92.

an seismologischem Fachwissen. Deshalb fand der Bundesrat, dass der nationale Erdbebendienst am 1934 gegründeten Institut für Geophysik der Eidgenössi-schen TechniEidgenössi-schen Hochschule besser aufgehoben sei.36

Die wandelnde Institutionenanbindung der Erdbebenbeobachtungen doku-mentiert ebenso wie das schwankende Interesse an der Phänologie, dass sich die Konturen der amtlich-meteorologischen Datenerhebung erst mit der Zeit schärften. Was die Zentralanstalt alles erfassen sollte, war nicht von Anfang an stabil definiert, sondern Gegenstand eines längerfristigen Aushandlungspro-zesses. In den ersten fünf Jahrzehnten nach der Gründung verloren phänologi-sche Beobachtungen an Bedeutung, zahlreiche andere Beobachtungen dagegen kamen zum Basisprogramm dazu. Ein Blick in den 50. Jahrgang der Annalen der Schweizerischen Meteorologischen Zentral­Anstalt von 1913 zeigt: Fast ebenso viel Raum wie die Zusammenstellungen der Daten aus dem 1863 einge-richteten Beobachtungsnetz nahmen ergänzende Beobachtungen ein. Darunter fielen Erdbebenbeobachtungen, Aufzeichnungen verschiedener autografischer Apparate, Niederschlagsmessungen, Gewitterberichte und Beobachtungen mit unbemannten Ballonen.37 Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt zog also ihren Aufgabenkreis immer weiter. Meistens tat sie dies aus eigener Initiative, im Fall der Erdbebenbeobachtungen wurde sie vom Bundesrat dazu gedrängt. Wie bei den Aufzeichnungen der ursprünglichen meteorologischen Beobachtungsstationen strebte die Zentralanstalt auch bei den ergänzenden Beobachtungen eine möglichst langfristige Erfassung an. Damit waren etwa die zusätzlichen Niederschlags- oder Gewitterbeobachtungen nicht als Kurz-zeitprojekte konzipiert, sondern als permanente Programme innerhalb eines vergrös serten Tätigkeitsbereichs.

Beobachtungskontinuität als Ziel

Die Schweizerische Meteorologische Zentralanstalt bezeichnete ihren laufend anwachsenden Bestand an Beobachtungstabellen als Archiv.38 In den 1860er-Jah-ren war manchmal sogar der Begriff «Centralarchiv» für die Zentralanstalt als Ganzes verwendet worden.39 Die Bedeutung solcher Einrichtungen mit

36 Zum Übergang an die ETH siehe Botschaft des Bundesrates 1956, S. 1210.

37 Siehe zu den Niederschlagsmessungen Kapitel 7, zu den Gewitterberichten Kapitel 9 und zu den Beobachtungen mit unbemannten Ballonen das Kapitel 5.

38 Die Angestellten sortierten die aktuellen Tabellen in Fächern und banden die älteren zu Büchern zusammen. Siehe Billwiller 1890 (1891), S. VI.

39 Mousson 1863b, S. 112.

funktion ist bislang wenig erforscht.40 Lorraine Daston betont, die stereotype Gegenüberstellung von geschichtsbewusster Geisteswissenschaft und ahisto-rischer Naturwissenschaft sei verkürzend.41 Vielmehr hätten viele Naturwis-senschaftszweige Dokumentationssysteme entwickelt, um Informationen – in erster Linie Daten – langfristig aufzubewahren. Dementsprechend habe das Ar-chivieren von Informationen einen entscheidenden Anteil in der jeweiligen Wis-sensproduktion. Neben der Meteorologie verweist Daston auch auf Disziplinen wie die Astronomie, Geologie oder Paläontologie, bei denen das Archivieren von Informationen ebenfalls eine zentrale Rolle spielte. Solche «Sciences of the Archive» kennzeichnen sich laut Daston dadurch, dass sie das Sammeln, Sortie-ren, Klassifizieren und Aufbewahren als kollektives Unterfangen organisieren.42 Dabei würden die gegenwärtigen Praktiken nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Zukunft verbunden.

Dieses generationenübergreifende Konzept der «Sciences of the Archive» ma-nifestierte sich in der Meteorologie sehr deutlich. Daten wurden für eine For-schergemeinschaft aufbewahrt, die man als überzeitlich begriff. Damit künftige Wissenschaftler die Messreihen dereinst nutzen konnten, war es entscheidend, für möglichst unveränderte Messbedingungen zu sorgen. Die Beobachtungen sollten nicht nur in synchroner, sondern auch in diachroner Perspektive ver-gleichbar sein. Für die Wissensproduktion der Schweizerischen Meteorologi-schen Zentralanstalt gilt zudem, was Hans-Jörg Rheinberger für die biologische Laborforschung des 20. Jahrhunderts festgestellt hat: «Technische Konstruktio-nen sind im Prinzip darauf angelegt, Gegenwart zu sichern.»43 Laut dem Wissen-schaftshistoriker bestimmten technische Dinge wie Instrumente nicht nur «den Horizont und die Grenzen» von Untersuchungen, sondern entfalteten als

Dieses generationenübergreifende Konzept der «Sciences of the Archive» ma-nifestierte sich in der Meteorologie sehr deutlich. Daten wurden für eine For-schergemeinschaft aufbewahrt, die man als überzeitlich begriff. Damit künftige Wissenschaftler die Messreihen dereinst nutzen konnten, war es entscheidend, für möglichst unveränderte Messbedingungen zu sorgen. Die Beobachtungen sollten nicht nur in synchroner, sondern auch in diachroner Perspektive ver-gleichbar sein. Für die Wissensproduktion der Schweizerischen Meteorologi-schen Zentralanstalt gilt zudem, was Hans-Jörg Rheinberger für die biologische Laborforschung des 20. Jahrhunderts festgestellt hat: «Technische Konstruktio-nen sind im Prinzip darauf angelegt, Gegenwart zu sichern.»43 Laut dem Wissen-schaftshistoriker bestimmten technische Dinge wie Instrumente nicht nur «den Horizont und die Grenzen» von Untersuchungen, sondern entfalteten als