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Liminalität und Communitas – Die Funktion des Rituals nach Victor Turner

Im Dokument Katharina Kallenborn (Seite 38-46)

2. Ein Volksfest erforschen – mein Zugang zur Mainzer Fastnacht

4.2 Liminalität und Communitas – Die Funktion des Rituals nach Victor Turner

Victor Turner, ein Schüler Max Gluckmans, führte dessen Konzept der Rituale der Rebellion einen Schritt weiter und entwickelte die Konzepte von Liminalität und

35 Communitas. Er knüpfte an die rites de passage des französischen Ethnologen Arnold van Gennep an, welcher seine Übergangsriten in die drei Bereiche Tren-nungsritual, Schwellenritual und An- beziehungsweise Eingliederungsritual aufteilte (Ivanov 1993: 218). Es handelt sich bei diesen Übergangsriten um Rituale, die den Übergang von einem Lebensabschnitt zum nächsten oder innerhalb des Jahresver-laufs beispielsweise den Saisonwechsel markieren:

„Der Übergang von einem System von gruppen- oder gesellschaftsspezifischen Normen, Werten, Rollen und Positionen zu einem anderen findet – ebenso wie die kollektiven jahreszeitlichen Übergänge, zum Beispiel am Jahres- oder Früh-lingsanfang – nicht nur in ritualisierter Form statt, sondern impliziert auch eine liminale Phase, das heißt eine Zeit der Ausgrenzung aus dem Fluss alltäglicher Aktivitäten.“ (Pfrunder 1989: 250-351)

Vom lateinischen Wort limen, was Schwelle bedeutet, ist Turners liminality oder Liminalität abgeleitet; er bezeichnet damit den Schwellenzustand bei Übergangsri-ten, die er zuerst während seiner Forschung bei den Ndembu in Nordwestsambia beobachtete. Über den Zustand der Liminalität sagt Turner Folgendes: „Schwellen-wesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen“ (Turner 2005: 95). Ein wichtiges Merkmal dieser Schwellenphase nach Turner ist die Entwicklung von „intensive[r] Kameradschaft und Egalitarismus“ (2005: 95) unter den TeilnehmerInnen des Rituals – Statusunter-schiede verschwinden und

„[w]ir werden in solchen Riten mit einem ‚Augenblick in und außerhalb der Zeit‘, in und außerhalb der weltlichen Sozialstruktur konfrontiert, der – wie flüchtig er auch sein mag – das … Erkennen einer generalisierten sozialen Bindung offen-bart, die aufgehört hat zu bestehen und gleichzeitig erst noch in eine Vielzahl struktureller Beziehungen unterteilt werden muß.“ (Turner 2005: 96)

Die TeilnehmerInnen des Übergangsrituals stehen also außerhalb des norma-lerweise gültigen sozialen Statussystems, sie sind alle gleich und miteinander ver-bunden. Diesen Zustand des liminalen Daseins nennt Turner communitas, was latei-nisch ist und Gemeinschaft bedeutet. Communitas steht laut Turner im Gegensatz zur Struktur; mit Struktur meint er „ein mehr oder weniger ausgeprägtes Arrange-ment spezialisierter und voneinander abhängiger Institutionen sowie die institutio-nelle Organisation von Positionen und/oder Akteuren, die diese Institutionen

vo-36 raussetzen“ (2005: 159). Communitas ist die „offene Gesellschaft“, Struktur die „ge-schlossene Gesellschaft“ (Turner 2005: 110); die „Spontaneität, Unmittelbarkeit und Konkretheit von Communitas [stehen] im Gegensatz zum normengeleiteten institu-tionalisierten, abstrakten Wesen der Sozialstruktur (Turner 2005: 124). Turner be-tont jedoch, dass Communitas nur erreicht werden kann, wenn ihr Aspekte der So-zialstruktur gegenübergestellt werden (2005: 124); somit braucht jede Gesellschaft das Gleichgewicht von Communitas und Struktur (Turner 2005: 126). Turners Über-gangsrituale setzen also, genauso wie Gluckmans Rebellionsrituale, eine Gesell-schaft mit funktionierender Sozialstruktur voraus.

Als ein Merkmal von Communitas nennt Turner die „Macht der Schwachen“

(2005: 107) – als Beispiel führt er den Hofnarren an, der laut Gluckman die Funktion

„eines privilegierten Richters über die Moral“ innehabe (Turner 2005: 108). Eine Art von Schwellendasein, von Liminalität, sind also Rituale der Statusumkehrung, in deren Rahmen Menschen mit normalerweise niedriger Statusposition Autorität über die eigentlich Höhergestellten ausüben (Turner 2005: 160). Als Beispiel für solche Rituale, die die Umkehrung von Alters- und Geschlechtsrollen beinhalten, nennt Turner die Maskierung und Streiche der Kinder an Halloween (2005: 164). Er betont jedoch, dass solche Rituale den Effekt haben können, „die sozialen Definitio-nen der Gruppe umso stärker zu betoDefinitio-nen“ (2005: 164), dass sie also auch das Ge-genteil der Statusumkehrung bewirken können, nämlich die Bestätigung des Status-systems. Die „Macht der Schwachen“, die während des Zustands der Communitas herrscht, kann also nie ein dauerhafter Zustand sein; sie ist flüchtig, und die Sozial-struktur geht gestärkt aus dem Ritual heraus:

„Kognitiv betrachtet unterstreicht nichts Ordnung so sehr wie das Absurde oder Paradoxe. Emotional betrachtet befriedigt nichts so sehr wie extravagantes oder vorübergehend gestattetes unerlaubtes Verhalten. Rituale der Statusumkehrung umfassen beide Aspekte. Indem sie die Niedrigen erhöhen und die Hohen er-niedrigen, bestätigen sie das hierarchische Prinzip.“ (Turner 2005: 168)

Für Turner erklärt „[d]as komplementäre Verhältnis von Communitas und Struk-tur … das Fortbestehen der Gesellschaft überhaupt“ (Ivanov 1993: 221). Die Gesell-schaft sei bestimmt durch Spannungen zwischen widersprüchlichen Prinzipien, wel-che in rituellen und sozialen ‚Dramen‘ ausgedrückt würden, die manchmal in der Lage seien, diese Spannungen abzubauen (Ivanov 1993: 221). Laut Turner ist der

37 Zustand der Communitas, das „Gesellschaftsideal allgemeinmenschlicher Solidarität und Gleichheit“ (Ivanov 1993: 221), also die Voraussetzung dafür, dass eine schaft im Gleichgewicht bleibt und somit überhaupt existieren kann. Die Gesell-schaft besteht folglich aus einem dialektischen Prozess zwischen Communitas und Struktur und jede Communitas muss zwangsläufig zerfallen, damit etwas Neues entstehen kann (Deflem 1991: 15).

In seinem späteren Werk Body, Brain, and Culture versucht Turner zu beweisen, dass Rituale nicht nur gut und notwendig, sondern biologisch determiniert seien (Schechner 1985: 192). Er stellt hier den Grundsatz in Frage, dass menschliches Ver-halten nur das Ergebnis sozialer Konditionierung ist (Schechner 1985: 195) und ver-sucht, rituelle Handlungen in der Evolution, oder im menschlichen Hirn, zu verorten (Schechner 1985: 201). Er sieht einen Zusammenhang zwischen seinen beiden Ge-sellschaftsmodellen Struktur und Communitas und den beiden Hirnhälften: So sei die linke Hemisphäre verantwortlich für Struktur und Logik und die rechte Hirnhälf-te für das Ganze, für die Communitas – Turner ist also der Meinung, das menschli-che Gehirn umfasse sowohl den freien Willen als auch das genetisch Vorprogram-mierte (Deflem 1991: 16). Laut Richard Schechner widerspricht Turner mit dieser Position seinem vorherigen Standpunkt und sucht deshalb einen Kompromiss: „For him, the human brain is a liminal organ operating somewhere between the geneti-cally fixed and the radigeneti-cally free“ (1985: 196). Turners Aussage sei also folgende:

Menschen sind genetisch dazu bestimmt, sich von genetischen Einschränkungen zu befreien; genetisch determinierte und sozial erworbene Verhaltensmuster existie-ren ‚coadaptiv‘ im Gehirn, das heißt sie passen sich gegenseitig an (Schechner 1985:

196).

Turner kam also gegen Ende seiner Laufbahn zu dem Schluss, Ritual sei nicht nur etwas gesellschaftlich Notwendiges, diene nicht nur dem Fortbestehen der Sozial-struktur, sondern Ritual sei etwas genetisch Determiniertes, etwas Urmenschliches.

Sind Bewegung und Gefühle laut Turner zum großen Teil genetisch basiert und kog-nitive Fähigkeiten eher erlernt, so kann Ritual als Verbindung der beiden angesehen werden (Schechner 1985: 197).

Nachdem ich dargelegt habe, wie Turner Ritual definierte und worin er die Her-kunft und die Funktion von Ritualen sah, möchte ich dies nun im Zusammenhang

38 mit kulturellen Aktivitäten im Allgemeinen und der Fastnacht im Speziellen betrach-ten. Auf welche Weise haben FastnachtsforscherInnen das Fest mit Turners Ritual-konzept in Verbindung gebracht? Wie sieht Turner selbst die Fastnacht oder ähnli-che Aktivitäten im Rahmen seiner Ritualforschung? Diesen Fragen möchte ich im Folgen nachgehen.

Roberto Da Matta untersuchte Anfang der 1980er Jahre den Karneval in Rio und stellte fest, dass dieser durchaus als Beispiel für den Zustand der Communitas nach Turner dienen kann. Er beschreibt diesen Moment der Communitas wie folgt:

„The social roles of family member, resident of a neighborhood, or member of a race or an occupational or social category are sifted to leave only the pure truth:

we are all this, but only this: men and women looking for pleasure within a cer-tain style, and because of this, we are equally Brazilians.“ (Da Matta 1984: 223) Während des Karnevals verschwinden also so gut wie alle Unterschiede, die Fei-ernden werden zu einer Einheit, alle sind gleich – die Sozialstruktur wird außer Kraft gesetzt. Während die brasilianische Gesellschaft sonst vom Gegensatz pri-vat/öffentlich, Haus/Straße bestimmt wird (Da Matta 1984: 226), bewegt sich der Karneval außerhalb dieser beiden Bereiche:

„But in Carnival the laws are liminal. It is as if a special space had been created away from the house and above the street, where everyone could be without their preoccupations with their group of birth, marriage, and occupation. Being above and away from the street and the house, Carnival engenders a festival outside of the everyday social world without the individual being subjected to the fixed rules of belonging or of being somebody.” (Da Matta 1984: 227)

Kategorien, die sonst das alltägliche Leben und die Gesellschaft ordnen, zählen laut Da Matta im Karneval nicht; das Fest schafft eine Welt, in der alle gleich sind und völlig in der Communitas aufgehen. Egal zu welcher Gruppe man im ‚normalen‘

Leben gehört, während des Karnevals können Gruppen beliebig gewechselt werden und jede/r entscheidet selbst, zu welcher Gruppe er oder sie gehören möchte (Da Matta 1984: 227).

Da Mattas Darstellung des Karnevals in Rio beschreibt Turners Communitas in Reinform. Dass tatsächlich so gut wie alle sozialen Kategorien während des Karne-vals keine Rolle mehr spielen und alle Feiernden frei entscheiden können, zu wel-chen Gruppen sie gehören wollen, wage ich zu bezweifeln. Allein die Tatsache, dass eine sehr wichtige Kategorie, nämlich Gender, keineswegs durch den Karneval aus

39 der Welt geschafft wird – Da Matta spricht immerhin eindeutig von „men and wo-men looking for pleasure“ (1984: 223) – zeigt doch, dass auch während des Festes gewisse gesellschaftliche Normen aufrechterhalten werden. Männer und Frauen bleiben auch während des Karnevals Männer und Frauen; von Genderspielen oder gar Alternativen zum gängigen Genderkonzept ist keine Rede. Zwar erwähnt Da Matta durchaus das Auftreten der Praxis des Cross-dressing während des Karnevals (1984: 224), doch stellt dies nicht das vorhandene Gendersystem in Frage, denn die Männer, die im brasilianischen Karneval in Frauenkleidung auftreten, repräsentie-ren entweder die Frau als Hure oder die Frau als Heilige/die Jungfrau Maria (Da Matta 1984: 224), und bedienen sich somit lediglich schon bestehender Genderkli-schees. Dies sei hier nur kurz erwähnt, da später auf die Praxis des Cross-dressings im Kapitel zu Verkleidung noch einmal gesondert eingegangen werden soll.

William Jankowiak und Todd C. White untersuchten in den 1990er Jahren das Mardi Gras-Fest in New Orleans unter demselben Blickwinkel wie Da Matta den brasilianischen Karneval – sie wollten herausfinden, ob sich während des Festes ein Zustand der Communitas entwickelt. Jankowiak und White kamen zu einem völlig anderen Ergebnis als Da Matta. Ihr Interesse galt vor allem zwischenmenschlichen Interaktionen während des Festgeschehens auf der Straße und sie fanden heraus, dass Verbindungen zu Freunden und Partnern durch das Feiern zwar durchaus ge-festigt werden, dass jedoch eher kein Interesse daran besteht, mit Fremden zu in-teragieren: Es gab „very little interest in attending a festival with individuals from outside one’s age cohort, altering one’s sexual orientation, or reversing one’s gen-der role (e.g., women becoming sexually aggressive and men sexually timid)“ (1999:

345). Auch beobachteten sie, dass alltägliche Verhaltensregeln von Fußgängern sel-ten umgekehrt oder vernachlässigt werden, mit Ausnahme von Menschen mit Ver-kleidung (Jankowiak/White 1999: 346). Dies steht im deutlichen Gegensatz zu Da Mattas Behauptung, während des Karnevals in Rio herrsche ein Zustand reiner Communitas – in New Orleans scheinen die Feiernden auch während des Mardi Gras eher unter sich zu bleiben und keineswegs nach Belieben ihre Gruppen zu wechseln. Die Gesellschaftsordnung mit all ihren Kategorien bleibt hier bestehen und Verhaltensnormen werden weiterhin eingehalten.

40 Diese gegensätzlichen Forschungsergebnisse zeigen, dass die Fastnacht bezie-hungsweise der Karneval ein sehr vielfältiges Fest mit unterschiedlichen Erschei-nungsformen ist. Man kann Beobachtungen, die in einem Land gemacht wurden, nicht ohne Weiteres auf ein anderes Land übertragen; selbst innerhalb eines Landes kann das Fest ganz unterschiedliche Ausprägungen aufweisen, wie dies beispiels-weise in Deutschland der Fall ist, wo der rheinische Karneval, die schwäbisch-alemannische Fastnacht und Mischformen von beiden nebeneinander gefeiert wer-den.

Valeria Sterzi machte bei ihrer Untersuchung des Trinidader Karnevals ähnliche Beobachtungen wie Da Matta. Auch sie wendet Turners Ritualkonzept auf das von ihr erforschte Fest an. Hierbei macht sie sich Turners Idee des social drama zunutze:

„Carnival is a complex cultural and social phenomenon, based on the interrela-tionship of various codes …, whose actions from a pattern of symbols that dramatize shared values and beliefs, where the conjunction of ritual and play represent and exaggerate the lived social drama of individuals and communi-ties.” (2010: 16-17)

Karneval ist also laut Sterzi eine Repräsentation des sozialen Dramas, er drückt soziale Werte und Normen aus, indem er diese dramatisiert mit dem Ziel, soziale Spannungen abzubauen: „ritual … is a central way of transforming and simultane-ously maintaining the spiritual and common health of a society“ (Sterzi 2010: 17).

Karneval gehört also zu jenen Ritualen, die das soziale Gleichgewicht von Struktur und Communitas aufrechterhalten und somit das Fortbestehen der Gesellschaft überhaupt sichern. Das Moment der Communitas sieht Sterzi im Trinidader Karne-val ebenfalls ganz deutlich – es ist dies, was das Fest für sie überhaupt zum Ritual macht: „Carnival, … beside its formal aspect of an occasion for maximum social cha-os and licentious play, may be considered particularly ritualistic because it draws together many social groups who are normally kept separate“ (2010: 115). Wie Da Matta betont Sterzi hier die integrative Funktion des Karneval, der es ermöglicht, beim Feiern soziale Grenzen zu überschreiten.

Turner selbst wandte in seinem Aufsatz Liminality and the Performative Genres sein Konzept von Ritual und speziell das von Liminalität auf kulturelle performances, also Darbietungen an. Er sieht solche Darbietungen „as commentaries and critique on, or as celebrations of, different dimensions of human relatedness“ (Turner 1984:

41 19) – sie können also gesellschaftliche Kritik oder Lob enthalten. Was alle kulturel-len Darbietungen gemeinsam haben, ist der „subjunctive mood“: Sie stehen sozusa-gen im Konjunktiv, drücken also keinen tatsächlichen Sachverhalt aus, sondern Ver-langen, Möglichkeit und Hypothese. Turner nennt den Karneval neben Festival, Theater und Film explizit als Beispiel hierfür (1984: 20-21). Ein wichtiges Element ist hier wieder der Schwellenzustand während des Rituals:

„It is as though everything is switched into the subjunctive mood for a privileged period of time – the time, for example, of Mardi Gras … For a while almost any-thing goes: taboos are lifted, fantasies are enacted, the low are exalted and the mighty abased; indicative mood behavior is reversed.“ (Turner 1984: 21)

Turner führt hier also selbst eine Form des Karnevals, nämlich Mardi Gras, als Beispiel für die Liminalität an, die für ihn ein Ritual ausmacht. Im Gegensatz zu an-deren Übergangsritualen wie beispielsweise denjenigen, die er bei den Ndembu beobachtet hat, wird der Zustand der Liminalität während des Karnevals an öffentli-chen Orten gelebt: „In general, life-crisis rites stress the deep values, which are of-ten exhibited to initiands as sacred objects, while the commentary on society and its leading representatives is assigned to cyclical feasts and their public liminality“

(Turner 1984: 22). Während also manche Übergangsrituale wie Initiationsrituale die Funktion haben, tiefgreifende soziale Werte zu vermitteln, sieht Turner es eher als Ziel saisonaler Feste, zu denen auch der Karneval zählt, die Gesellschaft und diejeni-gen, die sie repräsentieren, in Frage zu stellen.

Peter Pfrunder, der sich mit der Fastnacht während der Zeit der Reformation beschäftigte, machte eine interessante Bemerkung: Ob ein Fastnachtsspiel als Ritual angesehen werden könne, meint er, hinge davon ab, welchen Nutzen man sich von einem solchen Ansatz verspricht (1989: 252). Natürlich bieten die verschiedenen Ritualkonzepte viel Interpretationsspielraum – bringt man Rituale, wie Victor Turner dies in seinen früheren Werken tat (Deflem 1991: 12), untrennbar mit Religion in Verbindung, so kann man das heutige Fastnachtsfest kaum dazuzählen, da es seine religiösen Bezüge weitgehend verloren hat. Lässt man jedoch eine weitere Band-breite des Ritualbegriffs zu, so erweist sich Turners Konzept bezogen auf die Fast-nacht als durchaus fruchtbar. Turner wird zwar vorgeworfen, dass nicht rituelles Geschehen, sondern seine persönliche religiöse Intuition die Grundlage seiner The-orie bilde (Ivanov 1993: 245) und dass seine späteren Darlegungen über Liminalität

42 und Communitas in komplexen Gesellschaften kaum empirisch verankert seien (Ivanov 1993: 245-246), doch lassen sich, wie mehrere der oben aufgeführten Un-tersuchungen gezeigt haben, durchaus Elemente von Liminalität und Communitas in der Fastnacht finden. Das Fest mag zwar nie dazu in der Lage sein, einen Zustand vollkommener Communitas, in Ivanovs Worten die „soziale Umformulierung der unendlichen schöpferischen Einheit des ‚Seins‘“ (1993: 236), hervorzubringen, doch es vermag Ansätze davon zu erschaffen. So sind beispielsweise Status- und Ge-schlechtsrollenumkehrungen durch Verkleidung an Fastnacht durchaus möglich, und in einem gewissen Rahmen und für eine begrenzte Zeit werden manche Regeln und Normen außer Kraft gesetzt und es herrschen andere Regeln, die Regeln der Fastnacht.

4.3 Recommitment und Tension Management Holidays – Die Funktion

Im Dokument Katharina Kallenborn (Seite 38-46)