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Vom Leben in der „Zwischenzeit“ – Ostdeutsche Jugend nach 1989

Im Dokument warwick.ac.uk/lib-publications (Seite 173-200)

5. 1 Einführung

Im November 1990 trafen Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern zusammen, um sich auf der Fachkonferenz über die „Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Kindheit und Jugend in Ost- und Westdeutschland und in Europa“ auszutauschen. Die Unterschiede und Gemeinsam-keiten der Lebensphasen Kindheit und Jugend sollten hier erstmals „blockübergreifend“ bespro-chen werden. Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer herrschte Neugier vor, denn zuvor war ein freier Austausch von Forschungsergebnissen nicht möglich gewesen. Während man hier mit den restriktiven Zugangsmöglichkeiten zur westlichen Forschungsliteratur kämpfe, litt man dort unter der selektiven Publikationspraxis der DDR-Führung. Zudem hatte es die Jugendsoziologie in der DDR besonders schwer, da entsprechende empirische Daten nur auszugsweise veröffent-licht oder aus politischen Gründen geheim gehalten wurden. Auch bestimmte Fragestellungen waren aus ideologischen Gründen mehr als unerwünscht. Ziel der Tagung war es deshalb, sich gegenseitig über den jeweiligen Erkenntnisstand zu informieren, gemeinsame Forschungsper-spektiven zu entwickeln und „politische Handlungsnotwendigkeiten“ aufzuzeigen. Aufgrund des „beschleunigten Entwicklung des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses“ fiel das erste Zwischenfazit in der Einleitung des Tagungsbandes entsprechend verhalten aus:

Bedauerlicherweise hat sich inzwischen die in der Vorbereitungsphase [der Tagung, P. D.] formulierte Be-fürchtung bestätigt, daß mit der erreichten politischen Einigung Deutschlands die Probleme beim Aufwach-sen vieler Kinder und Jugendlicher [vor allem aus Ostdeutschland, P. D.] erst richtig anfangen.680

Befürchtet wurde, dass der alte Ost-West-Gegensatz bestehen bleiben oder sich gar vertiefen würde, denn schon 1990 zeichnete sich eine „Regionalisierung von sozialen Ungleichheiten“

und eine „Polarisierung von kindlichen Lebenslagen und Konfliktpotentialen“ ab, die es zu ver-hindern galt, so die WissenschaftlerInnen. Das Ansinnen, sich so kurz nach dem Fall der Mauer über das Thema Jugend auszutauschen und über wissenschaftliche Kooperationen zu sprechen, sind ein Hinweis darauf, wie wichtig das Thema „Jugend“ 1990 in Ost- und Westdeutschland war. Man sah sich unmittelbar mit einem Problem konfrontiert, auf das man reagieren wollte.

Der Tagungsband selbst vergleicht demnach Lebensläufe und -bedingungen, „familiare Le-bensformen“ und Mentalitäten von Kindern und Jugendlichen sowie den jeweiligen For-schungsstand. Die Beiträge zeichnen ein vielfältiges und ambivalentes Bild. So verweist der Artikel der westdeutschen Wissenschaftler Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker auf die

                                                                                                               

680 Peter Büchner und Heinz-Hermann Krüger, ‚Zur Einführung: Kinder- und Jugendforschung hüben und drüben.

Versuch einer ersten Bestandsaufnahme’, in Aufwachsen hüben und drüben. Deutsch-deutsche Kindheit und Ju-gend vor und nach der Vereinigung, hg. von Peter Büchner und Heinz-Hermann Krüger (Opladen: Leske + Bud-rich, 1991), S. 7-17 (S. 8).

West-Asymmetrie und die unterschiedlich stark vorangeschrittene Modernisierung der Gesell-schaft und damit auch des Konzepts „Jugend“:

Während Modernisierung von Jugend im westeuropäischen Fall bedeutet, daß sich Lebensweisen und Le-bensperspektiven der Jüngeren auf breiter Front und aufgrund der Tätigkeit ganz unterschiedlicher Großor-ganisationen in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren umwandeln, konzentriert sich das osteuropäische Jugendmodell – unter den Prämissen direktiver Wirtschaftsförderung und Ideologievermittlung – selektiv auf die Umwandlung von Bildungs- und Ausbildungslaufbahnen nachwachsender Generationen. Nachran-gig und retardierend werden demgegenüber die Modernisierung der privaten und öffentlichen Lebensberei-che von Jugend behandelt.681

Der Artikel von Walter Friedrichs, dem langjährigen Leiter des Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung, schließt positiv: „Daß die künftige Lebenswelt der jungen Leute und der Be-völkerung insgesamt in Ost- und Westdeutschland zu einer weiteren Annäherung der Mentalitä-ten führen wird, daran kann kein Zweifel bestehen.“682 In diesem Zusammenhang spielt die Westorientierung der Kinder und Jugendlichen in der DDR eine besondere Rolle, die vor allem auf die Nutzung westlicher Medien zurückgeht. Das konstatierten die AutorInnen einer umfang-reichen Freizeit- und Kulturstudie des das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung Cordu-la Günther, Ute Karig und Bernd Lindner, die ebenfalls ihre Ergebnisse in dem Tagungsband veröffentlichen. Sie weisen in ihrem Beitrag darauf hin, dass diese Konvergenzen nun zu Paral-lelen in der Mediennutzung und der kulturellen Orientierung der Jugendlichen im vereinten Deutschland führen.683

Das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) wurde 1966 als Pendant zum Deutschen Ju-gendinstitut (München) in Leipzig gegründet und nach der Wiedervereinigung 1990 abgewi-ckelt. Die Forschung sollte der DDR-Jugendpolitik empirische Erkenntnisse über Lebensum-stände, Verhaltensweisen, Mentalitäten sowie kulturelle Einstellungen und Vorlieben der ost-deutschen Jugend liefern.684 Zwischen 1987 und 1989 hatte das ZIJ gemeinsam mit der Univer-sität Leipzig und der Pädagogischen Hochschule Zwickau die Sächsische Längsschnittstudie ins Leben gerufen. In fast jährlichem Rhythmus wird seitdem eine identische Gruppe von damals 14- bis 16-jährigen Jugendlichen zum Wandel politischer Grundeinstellungen,

                                                                                                               

681 Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker, ‚Vom Kind zum Jugendlichen. Statuspassagen von Schülerinnen und Schülern in Ost und West’, in Aufwachsen hüben und drüben, hg. von Büchner und Krüger, S. 33-56 (S. 35).

„Wir gehen davon aus, daß die zeitlichen, materiellen und symbolischen Ressourcen, die den Jüngeren zur Ver-fügung stehen, um ein jugendspezifisches Leben zu entfalten, im erweiterten Bildungsmoratorium umfangreicher sind als im selektiven Bildungsmoratorium.“ (Behnken und Zinnecker, Statuspassagen, S. 40). Weiterhin ver-weise das „Selektive Bildungsmoratorium“ der osteuropäischen Staaten und damit auch der DDR auf eine „stan-dardisierte Normalbiographie“, während das „erweiterte Bildungsmoratorium“ mehr dem Modell der „individua-lisierten Normalbiographie“ entspreche. Diese Beobachtungen basieren auf einer Befragung von Jugendlichen von 1990. Vgl. Behnken und Zinnecker, Statuspassagen, S. 47.

682 Walter Friedrich, ‚Zum Wandel der Mentalität ostdeutscher Jugendlicher seit den 70er Jahren’, in Aufwachsen hüben und drüben, hg. von Büchner und Krüger, S. 225-34 (S. 223).

683 Cordula Günther, Ute Karig, Bernd Lindner, ‚Wendezeit – Kulturwende? Zum Wandel von Freizeitverhalten und kulturellen Lebensstilen bei Heranwachsenden in Ostdeutschland’, in Aufwachsen hüben und drüben, hg. von Büchner und Krüger, S. 187-202.

684 Zur Geschichte des Instituts vgl. Walter Friedrich (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung Leipzig 1966-1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse (Berlin: Edition Ost, 1999).

tungen, Lebensorientierungen und der Bindung an die DDR und an das sozialistische Gesell-schaftssystem befragt. Seit 1990 liegt der Schwerpunkt der systemübergreifenden Studie auf der sozialwissenschaftlichen Erforschung des Erlebens der Wiedervereinigung.685

Vor dem Hintergrund der krisenhaften Entwicklung der DDR im Verlaufe der 1980er Jahre zeigen die Ergebnisse der Studie vor der Wiedervereinigung deutlich die zunehmende Enttäu-schung der Panelmitglieder über den Sozialismus. Von der marxistisch-leninistischen Weltan-schauung waren die Jugendlichen von Jahr zu Jahr weniger überzeugt, auch an der Politik der SED wurde deutliche Kritik geäußert. Dennoch glaubten die Jugendlichen, eine sichere Zukunft in der DDR zu haben. Nach 1990 bewerteten die Jugendlichen die Wiedervereinigung zunächst positiv. Doch einige Jahre später verbreiteten sich Zweifel daran, ob die Ziele der „friedlichen Revolution“ wirklich erreicht worden waren.686 Für das Jahr 2007 verzeichnete die Studie einen Rückgang in der Zustimmung zu der Frage, ob überhaupt zusammengehörte was zusammen-wachsen sollte – die Zustimmung zur Wirtschaftsordnung und dem sozialen und politischen System sowie das Vertrauen in die politischen Parteien der Bundesrepublik war gesunken. Auch der Wille der StudienteilnehmerInnen zur gesellschaftlichen Partizipation war nach der Jahr-hundertwende gesunken. 687 Im Ergebnis hieß es: „Angst vor der Zukunft in dieser Gesellschaft wurde zu einem Grundgefühl auch dieser jungen Leute.“688

Die Grundlage dieser Bewertung lag auch in den Erfahrungen der unmittelbaren Nach-Wendezeit. Welche Erfahrungen Jugendliche in dieser Zeit gemacht haben, damit beschäftigen sich die hier analysierten Beiträge des DS Kultur, RIAS und DLF. Neben dem wissenschaftli-chen Austausch, beispielweise auf der Tagung der JugendforscherInnen aus Ost und West, fin-det im Sprechen über „die Jugend“ auch eine Annäherung der beiden Gesellschaften statt. In der Diskussion um das als brisant empfundene Thema geht es auch um den Kern und den Wandel des jeweils eigenen Selbstbildes der Gesellschaften. Während die Transformation in Ost-deutschland die Jugendlichen besonders hart trifft und DS Kultur hierüber berichtet, sieht man (die ostdeutsche) „Jugend“ auch in Westdeutschland zunehmend als prekäre Lebensphase; so wird „Jugend“ in DLF, DS Kultur und RIAS fast ausschließlich als problembelastetes Thema diskutiert. Das Kapitel fragt daher: Wie wird „Jugend“ zwischen 1989-1994 in den Sendern charakterisiert, und welchen Veränderungen ist dieses Bild unterworfen? Mit welchen Problem-lagen sieht man „die Jugend“ konfrontiert und wie ordnet man diese ein? Zudem steht im Zent-rum der Analyse die Art und Weise, wie die von den AutorInnen der Beiträge intendierten

                                                                                                               

685 Vgl. die Webpräsenz der ‚Sächsischen Längsschnittstudie’ <http://www.wiedervereinigung.de/sls/index.html>

[Stand 22.05.2018].

686 Vgl. die Ergebnisse der ‚Sächsischen Langzeitstudie’ bis 2006

<http://www.wiedervereinigung.de/sls/pageID_3301889.html> [Stand 22.05.2018].

687 Peter Förster, ‚Zur Sächsischen Längsschnittstudie und zur Untersuchungspopulation’, in Einheitslust und Ein-heitsfrust. Junge Ostdeutsche auf dem Weg vom DDR- zum Bundesbürger. Eine sozialwissenschaftliche Längs-schnittstudie v. 1987-2006, hg. von Hendrik Berth, Peter Förster, Elmar Brähler, Yve Stöbel-Richter (Gießen:

Psychosozial-Verlag, 2007), S. 15-24. (insbesondere S. 15-7) sowie die Webpräsenz der ‚Sächsischen Längs-schnittstudie’ <http://www.wiedervereinigung.de/sls/index.html> [Stand 22.05.2018].

688 Ergebnisse der ‚Sächsischen Längsschnittstudie’ bis 2006

<http://www.wiedervereinigung.de/sls/pageID_3301889.html> [Stand 22.05.2018].

terpretationen der Gegenwart mit den medienspezifischen Stilmitteln des Radios vermittelt wer-den. So lässt beispielweise ein fast einstündiges Feature sehr viel mehr Raum für künstlerische Interpretationen des Gegenstandes als ein 25 Minuten langer Hintergrundbericht, der dennoch subjektive Deutungen zulassen kann. Demgegenüber lässt eine Diskussionssendung den direk-ten Austausch von Meinungen zu. Daher ist zu fragen: Um welches Genre handelt es sich? Wie sind die Beiträge strukturiert und mit welchen konkreten gestalterischen Mitteln wird gearbei-tet?

Dafür werden Beiträge aus den Beständen des Deutschlandradios und des Deutschen Rund-funkarchivs (DRA) untersucht, die unter dem Schlagwort „Jugend“ und „Jugendliche“ in der HFDB (Hörfunkdatenbank)689 hinterlegt sind. Unter den beiden Schlagwörtern finden sich für alle Sender insgesamt mehr als 400 („Jugend“ rund 300 zu „Jugendliche“ etwa 120). Neben kürzeren Beiträgen für beispielweise Nachrichtensendungen oder Magazine sind das längere Hintergrundsendungen, Reportagen, oder Diskussionssendungen. Der Anteil an längeren Hin-tergrundsendungen ist in diesem Kontext jedoch erheblich höher, da sich das Thema „Ju-gend/Jugendliche“ – anders als „Ausländerfeindlichkeit“ – in der Regel nicht nur im Kontext von konkreten Ereignissen besprochen wurde.

Vielmehr griffen die Beiträge gewissermaßen über den „Umweg“ der Erfahrungen und Er-lebnisse von Jugendlichen den rapiden gesellschaftlichen Wandel in Ostdeutschland infolge der Wiedervereinigung auf. Aufgrund der besonderen Archivsituation690 des Deutschlandradios und seiner Vorgängerinstitutionen kann keine Aussage darüber getroffen werden, ob es im Laufe des Untersuchungszeitraums eine Häufung der Berichterstattung zu diesem Themenkomplex gab. Fest steht jedoch, dass spätestens ab 1991 in den dokumentierten Sendungen zum Thema

„Jugend“/„Jugendlichkeit“ durchgängig und bei allen drei Sendern auf die sich zuspitzende Situation in Ostdeutschland rekurriert wurde. Dabei gab es ab 1992 zunehmend Schnittstellen zum Thema Ausländerfeindlichkeit und Gewalt, da insbesondere junge Menschen zu TäterIn-nen wurden.691 Der DS Kultur produzierte zudem viele Lebenshilfesendungen, die Eltern und Jugendlichen praktische Hilfe bei der Transformation boten.692

                                                                                                               

689 Vgl. die Ausführungen hierzu in Kapitel 1.

690 Vgl. die Erläuterung der Archivsituation in Kapitel 1.

691 Vgl. Vera Szöllösi [DLF], ‚Interview mit Prof. Hans-Dieter Schwind, Vorsitzender der Anti-Gewaltkommission der Bundesregierung’, Informationen am Morgen, 07.04.1993 [HFDB-Zugang: X224023]. Gode Japs [DLF],

‚Jugend und Gewalt’, Zur Diskussion – Zeitfragen im Gespräch, 01.02.1991 [HFDB-Zugang: DZ348145]. Klaus Farin [DLF], ‚Jugend und Gewalt – die Täter werden immer jünger’, Hintergrund Politik, 06.01.1993 [HFDB-Zugang: DZ149155]. Detlef Berentzen [DLF], ‚Jugend ’94 – Gewaltig und konsumgeil?’, Hintergrund Politik, 04.04.1994 [HFDB-Zugang: DZ150887]. Erika Berthold, Claus Rehfeld, C. Skinitzky [DS Kultur], ‚Glatzköpfe – Phantom und Realität – Skinheads aus der Berliner Weitlingstraße’, Unbekannter Sendeplatz, 04.07.1992 [HFDB-Zugang: DZ268330].Unbekannter Autor, Krieg in den Städten. Unbekannter Autor [DS Kultur], ‚Jugend und Gewalt – Die Rolle der Medien’, Kontrovers zum Thema, 21.01.1993 [HFDB-Zugang: DZ27210].

692 Vgl. Regia Hein [DS Kultur], ‚Wie weiter mit der Jugendhilfe? Gesprächsrunde über die Umgestaltung der Ju-gendhilfe in Berlin und in den neuen Bundesländern nach der Vereinigung’, Kontrovers zum Thema, 05.11.1990 [HFDB-Zugang: 2014984]. Peter Liebers und Marion Tetzner [DS Kultur], ‚Auf dem Weg in die süchtige Gesell-schaft? Diskussionsrunde mit Mitarbeitern des Berliner Sozialwesens’, Kontrovers zum Thema, 05.11.1991 [HFDB-Zugang: 2011179]. Sabine Henning [DS Kultur], ‚ Studiodiskussion über die Lehrstellensituation in den neuen Bundesländern’, Kontrovers zum Thema, 25.07.1991 [HFDB-Zugang: 2019606]. Sabine Henning [DS Kultur], ‚Die Nöte der Wendekinder oder Kindheit ist ein Lebensmuster’, Kontrovers zum Thema, 30.03.1991 [HFDB-Zugang: 2018089].

Unter den 400 Beiträgen und Sendungen, die unter den entsprechenden Schlagwörtern hin-terlegt sind, gibt es viele, die nur peripher dem hier fokussierten Thema – dem Sprechen über Jugendliche und deren Lebenszusammenhänge – assoziiert sind. Nach einer ersten Sondierung wurden die Beiträge systematisch abgehört, die einen hohen Informationsgehalt in Bezug auf das Denken über Jugend und dessen Wandel haben. Nach dieser Sondierung wurden 44 Beiträ-ge und SendunBeiträ-gen Beiträ-gemäß ihrer Repräsentativität für die identifizierten Argumentationen in die Analyse einbezogen: Deutschlandfunk (24 Beiträge), DS Kultur (13 Beiträge), Stimme der DDR (bis 1990, 1 Beitrag), RIAS (5 Beiträge), Deutschlandradio Berlin (ab 1994, 1 Beitrag). Es gilt wie in Kapitel 3, dass die Beiträge und Sendungen unterschiedlich lang sind und verschiedenen Genres angehören. Für den Deutschlandfunk wurden ganze Hintergrundsendungen aus den Rei-hen Themen der Zeit (wochentags, etwa 20 Minuten), Hintergrund Politik (wochentags 18.40 Uhr, etwa 20 Minuten) oder der Gesprächssendung Zur Diskussion (wochentags ab 19.15 Uhr, etwa 45 Minuten) und das Interview der Woche (sonntags ab 11.05, etwa 25 Minuten) oder das Tagebuch (wochentags 17.50 Uhr, etwa 10 Minuten) und Kultur am Sonntag (sonntags ab 9.30 Uhr, rund 25 Minuten) untersucht. Zudem wurden auch einzelne Beiträge aus Sendungen aus den Informationen am Morgen (wochentags, 5.10-8.00 Uhr), den Informationen am Abend (wo-chentags, 18.10-18.30Uhr) oder dem Zur Diskussion. Ost-West-Magazin (donnerstags aus der wochentags gesendeten Sendung Zur Diskussion, 19.15-20.00 Uhr) von jeweils rund 5-12 Mi-nuten analysiert. In den Beständen finden sich für den RIAS nur wenige Sendungen unter den genannten Schlagworten. Darunter ist die Diskussionssendung RIAS Runde (etwa 60 Minu-ten693), der Spätreport (hier ein Beitrag von rund 3.30 Minuten) sowie die Literatursendung Literatur auf Eins – Das Politische Buch (hier rund 55 Minuten). Für DS Kultur werden vor-nehmlich Hintergrundsendungen untersucht, der Großteil sind Diskussionssendungen auf dem Programmplatz Kontrovers zum Thema (Montag-Samstag ab 10.00 Uhr, etwa 60 Minuten).

Darunter sind auch Sendungen, die keine Eigenproduktionen sind, sondern Mitschnitte von Veranstaltungen. Die Tonqualität ist daher nicht gut und die in der HFDB dokumentierten Dis-kutandInnen sind den jeweiligen Stimmen aufgrund einer fehlenden Vorstellung während der Aufzeichnung nicht immer eindeutig zuzuordnen. Darüber hinaus werden Sendungen und Bei-träge der folgenden Programmplätze untersucht: Länderreport (wochentags, ab 1935, rund 25 Minuten), Feature (montags, ab 15.35 Uhr, rund 50 Minuten), Viertel nach zehn (wochentags ab 22.15 Uhr, etwa 45 Minuten) sowie Aus Politik und Gesellschaft (wochentags, 17.33-18.00 Uhr). Weiterhin wird jeweils eine Sendung eines der Vorgängersender des DS Kultur, der Stimme der DDR (von 1988), und des „vereinigten“ Berliner Programms Deutschlandradio Berlin (von 1994) einbezogen. Obwohl die Rolle der Stimme der DDR als Vorgängerinstitution des DS Kultur in dieser Arbeit nicht näher thematisiert wird, so ist hier die untersuchte Sendung doch symptomatisch für die Sicht der DDR auf Jugendliche und deren Rolle in der Gesellschaft.

                                                                                                               

693 Da ich für den entsprechenden Zeitraum kein Programmschema einsehen konnte, können zu den Sendeplätzen keine Angaben gemacht werden.

Sie dient als Kontrastfolie für das sich wandelnde Konzept von Jugend nach dem Ende der DDR. Für dieses Kapitel wurden zunächst die in der HFDB hinterlegten Sendungen und Beiträ-ge auf wiederkehrende Argumentationen betrachtet. Weiterhin wurden repräsentative oder be-sonders hervorstechende Programme entweder teilweise oder im Ganzen transkribiert und einer näheren Analyse unterzogen. Das Kapitel untersucht drei Hintergrundsendungen bzw. Features besonders intensiv, da sie repräsentativ für die sich häufenden Argumentationslinien sind. Zwei der drei Beiträge stammen aus dem Jahr 1992. Dieser Fokus ergibt sich nicht aus einer Häufung der Sendungen zum Thema „Jugend“ in diesem Jahr, sondern aus der Repräsentativität der Bei-träge für die hier untersuchten Argumentationslinien. Die ausgewählten Features bedürfen auch deshalb einer umfangreichen Untersuchung, da sie explizite aber vor allem reiche implizite In-halte über die gesprochenen Texte sowie ihre Struktur und Gestaltung vermitteln. Die gestalten-den Elemente mischen sich auf besondere Art und Weise mit gestalten-den unmittelbar vermittelten Aus-sagen; die Darstellung in diesem Kapitel trägt dieser komplexen Verwobenheit der Deutungs-ebenen Rechnung. Die Beiträge wurden ausgewählt, da sie eine genaue, qualitative Analyse der Sprache und Argumentation im Kontext von vollständig überlieferten Sendungen ermöglichen.

5. 2 Jugendliche in Ost- und Westdeutschland

Um die Veränderungen des Bildes von Jugend in der Nach-Wendezeit einordnen zu können, muss zunächst geklärt werden wie in Ost und West über Jugend gedacht wurde. Wie schaften „Jugend“ verstehen, lässt Rückschlüsse über ihr Selbstbild zu. Beide deutsche Gesell-schaften brachen nach 1945 mit dem nationalsozialistischen Konzept von Jugend. Dennoch vereinnahmte auch die DDR die Jugend und schuf mithilfe ihrer Jugendorganisationen ein rigi-des System von begrenzter Lebensdauer. In der frühen DDR wurde die Jugend als zentrale ge-sellschaftspolitische Größe konstruiert, und auch später sollten die Jugendlichen die „sozialisti-sche Gesellschaft“ aktiv mitgestalten. In der Bundesrepublik hingegen verbanden sich im Zuge der Pluralisierung der Gesellschaft die Ideen der Individualisierung mit denen der Kommerziali-sierung, was zur Herausbildung spezifischer jugendlicher Subkulturen führte.694

Jugend ist keine anthropologische Konstante, die es in allen Gesellschaften und Zeiten gege-ben hat695, sondern ein vergängliches, veränderbares gesellschaftliches Konstrukt und ist daher schwer zu definieren. Allerdings wird sie immer in Abgrenzung zur Lebenswelt von Kindern und Erwachsenen als eine Phase des Übergangs konstruiert.696 In der Soziologie fasst man den Begriff beispielsweise als Lebenslage bzw. begrenzte Lebensphase und untersucht sie im

                                                                                                               

694 Vgl. Bernd Lindner, ‚„Bau auf, Freie Deutsche Jugend“ – und was dann? Kriterien für ein Modell der Jugendge-nerationen in der DDR’, in Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, hg. von Elisabeth Müller-Luckner und Jürgen Reulecke (München: Oldenbourg Verlag, 2003), S. 187-215 (S. 187-8).

695 Bodo Mrotzek, ‚Ein Jahrhundert der Jugend?’, in Das Zeitalter vermessen. Historische Signaturen des 20. Jahr-hunderts, hg. von Martin Sabrow (Göttingen: Wallstein Verlag, 2016), S. 199-218 (S. 200).

696 Wilfried Speitkamp, Jugend in der Neuzeit, Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Göttingen: Vanden-hoek & Ruprecht, 1998), S. 8.

blick auf die gesellschaftlichen Bedingungen des Heranwachsens. Zudem untersucht man die spezifischen Einstellungen, Praktiken und Problemlagen von Jugendlichen.697 Da diese Konstel-lationen historisch veränderbar sind, ist auch das Konzept von Jugend sowie seine Deutung durch Gesellschaft und Wissenschaft wandelbar.698 So sind die Formen der Abgrenzung (recht-liche, sozialstrukturelle, politische, ökonomische, kulturelle, soziale und hinsichtlich der Sexua-lität) sowie der Zeitpunkt für das Ende von Jugend dynamisch. Im 20. Jahrhundert wird die Jugend als eine durchaus widersprüchliche Lebensphase der freien Persönlichkeitsentwicklung verstanden, in der Jugendliche einerseits Qualifizierungszwängen unterliegen und andererseits nicht über die gleichen Rechte verfügen wie Erwachsene.699 In westlichen Gesellschaften wird Jugend im 20. Jahrhundert als „Problem“, als zu „erziehende Größe“, als „Moratorium“, als

„Ergebnis der Verhältnisse“, als „Entwicklungsaufgabe“, als „Motor für gesellschaftlichen Pro-gress und Kreativität“ oder als „labile Phase der Identitätsbildung“ gedeutet.700 In jedem Falle wird Jugend im 20. Jahrhundert in Ost und West als transitorische Phase verstanden, die durch eine intensive Identitätssuche gekennzeichnet ist. Die Form und Dauer der Jugend sind somit abhängig von der konkreten historischen Konstellation.701

Neben beispielweise der Soziologie und der Psychologie hat sich auch die Geschichtswis-senschaft mit der unterschiedlichen Deutung und Indienstnahme des Konzeptes in konkreten historischen Kontexten beschäftigt und somit dessen Veränderbarkeit untersucht. Barbara Strombolis geht davon aus, dass der „Mythos Jugend“ im 20. Jahrhundert bereits in der Weima-rer Republik im Sinne der politischen Erneuerung von Gegnern – aber auch Befürwortern – der neuen Demokratie politisch genutzt wurde: „Argumente wurden in politischen Kampf ersetzt durch das pauschale Werturteil, zur Jugend zu gehören und somit auf der ‚richtigen’ Seite zu stehen oder als alt und dem Untergang geweiht abgestempelt zu werden.“702 Der Jugend wurde damit eine verändernde Kraft zu gesprochen, denn ihr gehörte die Zukunft, und von ihr war das nationale Schicksal und die soziale wie wirtschaftliche Zukunft abhängig. Während dies für die

Neben beispielweise der Soziologie und der Psychologie hat sich auch die Geschichtswis-senschaft mit der unterschiedlichen Deutung und Indienstnahme des Konzeptes in konkreten historischen Kontexten beschäftigt und somit dessen Veränderbarkeit untersucht. Barbara Strombolis geht davon aus, dass der „Mythos Jugend“ im 20. Jahrhundert bereits in der Weima-rer Republik im Sinne der politischen Erneuerung von Gegnern – aber auch Befürwortern – der neuen Demokratie politisch genutzt wurde: „Argumente wurden in politischen Kampf ersetzt durch das pauschale Werturteil, zur Jugend zu gehören und somit auf der ‚richtigen’ Seite zu stehen oder als alt und dem Untergang geweiht abgestempelt zu werden.“702 Der Jugend wurde damit eine verändernde Kraft zu gesprochen, denn ihr gehörte die Zukunft, und von ihr war das nationale Schicksal und die soziale wie wirtschaftliche Zukunft abhängig. Während dies für die

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