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Nach der Fusion – Begegnungen vor Ort ab 1994

Im Dokument warwick.ac.uk/lib-publications (Seite 85-130)

3. 1 Einführung

Ende 1993, kurz nach Weihnachten, zogen die MitarbeiterInnen des DS Kultur nach langen Verhandlungen und politischem Tauziehen in einer kurzfristigen und daher „chaotischen Akti-on“ in das RIAS-Funkhaus an den Hans Rosenthal-Platz.394 Um das Aufeinandertreffen der Mit-arbeiterInnen des RIAS und des DS Kultur am Standort Berlin vorzubereiten, gab es im Vorfeld einen freiwilligen „Redakteursaustausch“395 im Zuge dessen RIAS-Redakteure im DS Kultur hospitierten und umgekehrt. Einige waren offen und neugierig aufeinander, andere zeigten sich wenig begeistert. Einige RIAS-RedakteurInnen trafen sich zudem in selbstorganisierten Knei-pengesprächen mit den zukünftigen KollegInnen, was im RIAS-internen „Kampf um Selbstbe-hauptung“ nicht nur positiv gesehen wurde und mitunter in die Betitelung jener KollegInnen als

„Verräter“ und „Kollaborateure“ mündete.396 Ende November 1993 kommentierte die Süddeut-sche Zeitung:

Die Stimmung in den Rundfunkhäusern kann einen in diesen Tagen manchmal schon ein bisschen an alte Zeiten erinnern, die Zeiten des Kalten Krieges, in denen der RIAS, „Der Feindsender Nummer 1“, der DDR über Mauer und Stacheldraht hinweg Westpropaganda schickte und das damalige DDR-Radio mit stram-mem Ideologie-Funk dagegen hielt.397

Kurz vor dem Ende des Radios im Amerikanischen Sektor waren seine MitarbeiterInnen nach wie vor skeptisch gegenüber der Veränderung und der Zusammenarbeit mit – so meinten einige – „zwanghaft-autoritären“ und „Demokratie-unwilligen“ DS Kultur-Leuten.398 Doch auch einige DS Kultur-RedakteurInnen ereiferten sich über das „08/15-Programm“ des RIAS, das ihrer Auf-fassung nach mit „Schmierfinken-Artikeln“ verteidigt werde.399 Hinsichtlich des DLF konsta-tierte der SZ-Autor Michael Grill hingegen:

Der DLF veröffentlichte vor wenigen Tagen ungerührt sein neues Programmschema für Januar und läßt auch ansonsten keine Gelegenheit aus, so zu tun, als ginge ihn das Deutschlandradio gar nichts an. (...) Ob in Köln oder Berlin, niemand in den Funkhäusern mag das Deutschlandradio.400

                                                                                                               

394 Vgl. Albrecht Hinze, ‚Ein Produkt der deutschen Un-Einheit. Von Schwierigkeiten beim Zusammenwachsen von Deutschlandfunk, RIAS und DS-Kultur zum neuen Deutschlandradio’, Süddeutsche Zeitung, 24.01.1994.

395 Interview Drück.

396 Vgl. Hinze, Produkt der Un-Einheit.

397 Michael Grill, ‚Das Radio der Einheit, das Radio der Zwietracht’, Süddeutsche Zeitung, 27.11.1993.

398 Der Kulturchef Manfred Rexin gab mit Blick auf die Entwicklung der Fusion zu Protokoll: „Trotzdem denken Viele hier, das hat der RIAS alles nicht verdient.“ Und auch Helmut Drück warf ein: „Wir wissen schon lange, daß wir uns in der Zeit der Abwicklung befinden. Aber viele haben bis heute nicht verstanden, warum ihre Arbeit davon betroffen ist.“ Grill, Zwietracht.

399 Vgl. ebd.

400 Grill, Zwietracht.

Ein zentraler Streitpunkt am Standort Berlin war die Programmgestaltung. Im zuständigen Pro-grammausschuss hatte man sich vor Sendestart nur auf die Zweiteilung und damit eine vorerst täglich alternierende Zuständigkeit des RIAS bzw. DS Kultur einigen können. Während in Köln alles beim Alten blieb, prallten in Berlin Programmphilosophien aufeinander, die unterschiedli-cher nicht hätten sein können: „Begleitprogramm“ vs. „Einschaltradio“. Das führte zur einer vielkritisierten Übergangslösung, bei der nach dem 1. Januar 1994 die ehemaligen Mitarbeite-rInnen des RIAS das Programm zwischen 2.30-14.30 Uhr verantworteten, während zwischen 14.30 und 2.30 Uhr die ehemaligen DS Kultur-MitarbeiterInnen übernahmen. Das zusammen-gewürfelte Programm galt vielen ZuhörerInnen als „akustische Zumutung“. Die ZuhörerInnen von RIAS und DS Kultur waren dementsprechend empört, dass „ihr“ Programm aufgegeben wurde. Das Übergangsprogramm wurde als „akustisches Mahnmal für die Probleme der Verei-nigung“401 bezeichnet, manche kommentierten gar: „Wenn es denn noch eines Beweises für die innere Mauer bedurft hätte, die sich durch Deutschland zieht, so ist sie hier zu finden.“402 Doch an den Programmstrecken von ehemals RIAS und DS Kultur hingen nicht nur HörerInnen, son-dern auch MitarbeiterInnen. Die interne Debatte um die Programmgestaltung verweist auf ge-gensätzliche Vorstellungen über dessen Zuschnitt und Prägung. Albrecht Hinze kommentierte in der Süddeutschen Zeitung im Januar 1994:

Die RIAS-Redakteure machen keinen Hehl daraus, was sie von dem rigoros anspruchsvollen, dabei etwas behäbigen, handwerklich einfachen, sprachlich altertümelnden und Einschaltquoten ignorierenden DS-Kultur-Programm halten: wenig, gelinde gesagt. Die DS-Kultur-Redakteure, derzeit zwar etwas verschüch-tert und zurückhaltend, lassen freilich an ihrer Verachtung etwa für massengeschmäcklerische Dudelfunk-Magazine des RIAS ebenfalls keinen Zweifel.403

Erst ab dem Herbst 1994 versuchte die neue Führungsriege unter der Programmchefin Gerda Hollunder, ein gut strukturiertes und aufeinander abgestimmtes Programm aufzubauen.404 Der vereinte Sender sollte nun auch ein vereintes Programm erhalten.405 Dem „bewährten Einschalt-programm“ aus Köln wurde dazu ein „anspruchsvolles BegleitEinschalt-programm“ zur Seite gestellt.406 Die hier kurz skizzierten Debatten reflektieren die Emotionalität, mit der die Fusion insbesonde-re in Berlin ablief. Die beidseitigen Vorbehalte wainsbesonde-ren von der Geschichte der ideologischen Abgrenzung vor 1989 stark geprägt. Die beiden Deutschlandradio-Redakteure Friedbert Meurer (Köln) und Matthias Thiel (Berlin) sprechen von der Zeit der Fusion als Eingemeindung des

„Klassenfeindes“.407 Diese Vorbehalte lösten sich nach und nach in der persönlichen Begegnung

                                                                                                               

401 Michael Bitala, ‚Schluß mit der akustischen Zumutung! Beim zwangsvereinigten „Deutschlandradio Berlin“

tüftelt man an einem hörbaren Programm’, Süddeutsche Zeitung, 27.09.1994.

402 Wilfried Geldner, ‚Ein Fenster kaum noch geöffnet’, Süddeutsche Zeitung, 04.03.1994.

403 Hinze, Produkt der Un-Einheit.

404 Vgl. Ohne Autor, ‚Führungsriege komplett’, Süddeutsche Zeitung, 21.03.1994.

405 Vgl. Bitala, Akustische Zumutung.

406 Vgl. Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD), ARD-Jahrbuch 1995 (Hamburg: Nomos, 1996), S. 81.

407 Interview Thiel und [Interview]: Marcus Heumann, 28.01.2016.

auf den Fluren des Berliner Funkhaues am Hans-Rosenthal-Platz auf.

Die Begegnungen vor Ort in Berlin und auch in Köln zeigen die Wiedervereinigung im Kleinen. Sie offenbaren, wie sich Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaften einander an-genähert und ein alltägliches Miteinander angeeignet haben. Diese teilweise konfliktreichen Prozesse bilden sich jedoch in internem Schriftgut, so überhaupt vorhanden408, oder in Pressear-tikeln Dritter nicht ab, sondern können nur über Gespräche mit den damals betroffenen Mitar-beiterInnen aufgespürt werden. Obwohl diese Erfahrungen mehr als 25 Jahre später nicht mehr unmittelbar zugänglich sind, können die aus der zeitlichen Distanz geführten Interviews die beim Fusionsprozess auftretenden Probleme, Konflikte und Emotionen aus der subjektiven Per-spektive der unmittelbar Betroffenen wiedergeben.

Vor dem Hintergrund der schwierigen Verhandlungsphase im Vorfeld der Gründung des Deutschlandradios ist das Kapitel an der Begegnung und der Zusammenarbeit der betroffenen MitarbeiterInnen in der neuen Institution interessiert. Personen, die vor der Gründung des Deutschlandradios zum 1. Januar 1994 aus den Vorgängerinstitutionen ausgeschieden sind, wurden daher nicht miteinbezogen. Eine Berücksichtigung dieses Personenkreises würde das Spektrum von Reaktionen auf die Vereinigung der Sender vergrößern. Doch wären ihre Eindrü-cke immer nur partiell, auf einen bestimmten Abschnitt oder Eindruck der Geschichte der Sen-der bezogen, und würden ein Ungleichgewicht in die Perspektive dieser Studie und ihrer Analy-se der AushandlungsprozesAnaly-se im Vorfeld der Gründung des Deutschlandradio in seinen ver-schiedenen Phasen bringen. An den hier untersuchten Prozessen der Begegnungen vor Ort wa-ren sie nach ihrem Ausscheiden nicht mehr beteiligt. Darüber hinaus gab es datenschutzrechtli-che und ethisdatenschutzrechtli-che Bedenken, die „Verlierer“ des Einigungsprozesses zu lokalisieren und nach ihren empfundenen Niederlagen zu befragen. Diese Perspektive hätte zudem methodologische Konsequenzen gehabt, denn es hätte ergebnisoffene und neutral formulierte Fragen nach per-sönlichen Erfahrungen, die die anderen Interviews prägten, unmöglich gemacht.

Es wurden daher sechs Interviews mit MitarbeiterInnen geführt, die diese frühe, stürmische Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt haben. Die semi-strukturiert geführten Gespräche offenbaren die spezifischen Blickwinkel auf die Geschehnisse und die Erinnerungen der folgen-den Personen: Helmut Drück (RIAS), Marcus Heumann (DLF), Monika Künzel (DS Kultur), Friedbert Meurer (DLF), Claus Rehfeld (DS Kultur) und Matthias Thiel (RIAS).

Es wurden demnach je zwei Personen aus DS Kultur, RIAS und Deutschlandfunk interviewt.

Fünf davon waren 1989 am Anfang ihrer Karriere, während Helmut Drück wenige Jahre nach der Fusion in Pension ging und als Einziger der hier Interviewten zum Zeitpunkt des Interviews nicht mehr Mitarbeiter des Deutschlandradios war. Drück war als RIAS-Intendant und Monika Künzel als Chefredakteurin des DS Kultur intensiv in die Verhandlungen vor 1994 eingebun-den. Beide konnten über die machtpolitischen Dimensionen des Verhandlungsprozesses Aus-kunft geben. Die vier weiteren Interviewees waren im Programm tätig und berichteten über den

                                                                                                               

408 Vgl. die Ausführungen zur Archivsituation der drei Sender in der Einleitung.

Alltag in der Situation des Übergangs und von den Begegnungen vor Ort. In methodischer Hin-sicht folgt das Kapitel dem zentralen Ansatz der Oral History, die Lynn Abrams in ihrem Buch Oral History Theory wie folgt zusammenfasst:

at the heart of this book is the belief that practice and analysis cannot be separated; that the process of interviewing cannot be disaggregated from the outcome (the oral history narrative and the interpretation of that narrative).409

Auch in der vorliegenden Arbeit schafft die Fragepraxis des semi-strukturierten Interviews be-reits einen Rahmen, innerhalb dessen die Interviewees antworten. Alle GesprächspartnerInnen sind zu einem spezifischen Thema und ebenso spezifischen Zeitraum mit dem Ziel befragt wor-den, trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und vielfältigen Erinnerungen eine grundlegende Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Dennoch sind Interviews besondere Quellen, denn Erinne-rungen sind subjektiv und selten faktisch korrekt; sie verändern sich im Zusammenspiel mit den seither gemachten Erfahrungen und müssen dementsprechend analysiert und interpretiert wer-den.410 Die jeweiligen Schilderungen betrachten die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart:

In other words, whilst oral history produces useful evidential material in the form of description and factual information, the oral history narrative itself has considerable significance in that it is a way by which people articulate subjective experiences about the past through the prism of the present. Ron Grele puts it like this:

„Interviews tell us not just what happened but what people thought happened and how they have internal-ised and interpreted what happened”. The personal testimony produced in the interview mediates between personal memory and the social world.411

Die den Interviews eingeschriebenen Narrative412 sind zudem Ausdruck und Produkt einer spe-zifischen Kultur und enthalten damit „the dimensions of memory, ideology and subconscious desires“.413 In den Interviews finden sich eine Vielzahl unterschiedlicher „Schichten der Bedeu-tung“, denn auch die Gesprächsdynamik und die interessengeleitete Fragepraxis der Interviewe-rin haben Einfluss auf das Gesagte. Neben den Narrationen der Interviewees müssen daher die Positionalität der Interviewerin und ihre „unconscious biases“ reflektiert werden.414 Da die In-terviewerin Ende der 1980er Jahre in Westdeutschland geboren wurde, ist sie keine Zeitzeugin.

Aufgrund ihres familiären Hintergrundes und der akademischen Prägung an einer westdeut-schen Universität durch ausschließlich westdeutsche HochschulleherInnen kann ihre Perspekti-ve als eine westdeutsche beschrieben werden. Die Fragepraxis ist somit von ihrem Standpunkt

                                                                                                               

409 Abrams, Oral History, S. 3.

410 Vgl. ebd. S. 6.

411 Ebd. S. 7.

412 Mit „Narrativ“ ist hier die Art und Weise gemeint, wie Menschen Geschichten nutzen, um die Welt zu interpre-tieren, „(...) in other words narrative is a form which is used to ‚translate knowing into telling’.“ Ebd. S. 21.

413 Luisa Passerini zitiert nach Abrams, Oral History, S. 6-7.

414 Vgl. ebd. S. 18.

abhängig: sie ergibt sich einerseits aus dem wissenschaftlichen Interesse, das sich von dem per-sönlichen Erleben unterscheidet, und andererseits aus anderen weniger bewussten Faktoren, wie die generationelle Zugehörigkeit, Gender, politische Einstellung, Familien- und Bildungshinter-grund, Vorlieben etc. Diese Positionalität wird im Text mit der Verwendung der selbstreflexi-ven Ich-Perspektive gekennzeichnet, sie folgt aus dem ethnographischen Ansatz nach Georgina Born415, der die Abstraktion von der subjektiven Beobachterperspektive und die damit einherge-hende – vermeintliche – Objektivierung verhindern will.

Die in einem Interview enthaltenen Narrative oszillieren zwischen persönlicher Erinnerung und Sozialwelt; d. h. obwohl sie in hohem Maße subjektiv sind, bleiben sie immer an kollektive Deutungen und gesellschaftliche Diskurse rückgebunden. Daher ist es das Ziel dieses Kapitels, Aussagen über die Deutung der Vergangenheit zu machen, die über das Individuum hinausge-hen. Im Sinne der ethnographisch informierten Diskusanalyse416 gehe ich davon aus, das dama-lige Handeln und gegenwärtige Erinnern abhängig von der Sozialwelt sind, die die Erzählenden prägt und geprägt hat.417 Die ethnographische Diskursanalyse fragt in ihrer interpretativen For-schung danach, wie Individuen als Konstrukteure der Gesellschaft die Wirklichkeit verstehen und welche Zusammenhänge mit der bereits vor-interpretierten Sozialwelt jeweils relevant sind.418 Es soll in diesem Kapitel nicht darum gehen, welche Erinnerungen „richtig“ und welche

„falsch“ sind. Vielmehr möchte ich den Blick für die Diversität und Komplexität der Erinnerun-gen an die Zeit der Fusion zum Deutschlandradio im Speziellen und der Wiedervereinigung im Allgemeinen öffnen.

Das Kapitel nutzt die Idee der ethnographischen Diskursanalyse eines Zusammenhangs zwi-schen Allgemeinem und Besonderem, um spezifische Deutungsmuster419 innerhalb der Inter-views herauszuarbeiten. Bei der qualitativen Analyse der InterInter-views kristallisierten sich fünf wiederkehrende Themen heraus, die sich am Erkenntnisinteresse der Arbeit orientieren. Aus der unterschiedlichen Deutung durch die Interviewees ergeben sich thematische Deutungsmuster:

• Ablauf der Fusion und Arbeitsplatzunsicherheit

• Arbeitspraktiken und Herangehensweisen an Inhalte

• Ost-West-Asymmetrie

• Anpassungsfähigkeit

                                                                                                               

415 Vgl. Born, Uncertain Vision.

416 Eine präzise Definition der ethnographischen Diskursanalyse und Abgrenzung von der „klassischen“ Diskursana-lyse bieten Macgilchrist und Van Hout, Ethnographic Discourse Analysis, S. 3ff.

417 Vgl. Rixta Wundrak, Die chinesische Community in Bukarest. Eine rekonstruktive, diskursanalytische Fallstudie über Immigration und Transnationalismus (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010), S. 20.

418 „Sozialwelt“ meint hier das Zusammenspiel aus beteiligten Gesellschaftsmitgliedern, den historischen und kultu-rellen Strukturen sowie die Möglichkeiten und Handlungsspielräume, die sich den Menschen bieten oder die ihnen verschlossen bleiben. Vgl. Wundrak, Chinesische Community, S. 20.

419 Wundrak definiert „Deutungsmuster“ als 1. diskursiv (kollektiv) als auch im Handeln von Individuen konstruiert, 2. nicht auf die soziale Ebene begrenzt, sondern in kleinräumlichen Milieus, alltäglichen und institutionellen so-wie globalen Prozessen nachweisbar und 3. historisch tradiert und wandelbar. Demnach sind „Deutungsmuster“

kollektiv typisierende Sinninhalte von normativem Charakter, die nicht ständig dem Bewusstsein zugänglich sind. Vgl. Wundrak, Chinesische Community, S. 45.

• Temporale Metaphern

Die Interviews wurden diesen Deutungsmustern gemäß ausgewertet. Die Auswahl der Intervie-wees ist durch Sender-interne Vermittlung sowie Hinweise der IntervieIntervie-wees selbst entstanden und ist damit nicht zuletzt das Ergebnis von Zufällen. Über die Untersuchung der Erfahrungen der InterviewpartnerInnen, die deren Subjektivität reflektiert, können Erkenntnisse über die retrospektiven Deutungen der Transformationsphase bis zur Gründung des Deutschlandradios gewonnen werden, die über die Individuen hinaus gehen. Die „Wiedervereinigung im Kleinen“

– der Fusion von RIAS, DLF und DS Kultur – kann so an die „Wiedervereinigung im Großen“

rückgebunden werden.

Den Interviewees ist im Vorfeld des Gesprächs eine kurze Projektbeschreibung und ein gro-ber, allgemein gehaltener Fragenkatalog zugegangen, an dem sich das spätere Gespräch orien-tiert hat.420 So konnte eine grundlegende Vergleichbarkeit sichergestellt werden. Allerdings haben die Interviewees in verschiedenen Sendern und somit in spezifischen Kontexten gearbei-tet, weshalb einige Fragen individualisiert wurden. Alle Interviews haben sich mit den folgen-den Themenkomplexen beschäftigt: dem Werdegang (Ausbildung, Position im Sender im Zeit-raum meiner Analyse); dem jeweiligen Sender, in dem sie gearbeitet haben, und der Situation darin (Arbeitsweisen, Berichterstattung, programmatische Neuausrichtung nach 1989, Verhält-nis der Sender untereinander) vor der Fusion; den in den Programmen behandelten Themen (Zielgruppe, Veränderungen der Inhalte im Zeitablauf, Veränderung der Perspektive aufgrund der politischen Veränderungen, Deutungs-Konflikte zwischen den KollegInnen aus Ost und West); Alltag nach der Fusion (Zusammenarbeit, Konflikte, Stimmungen, Veränderungen der Arbeitsweisen).

Die Interviews dauerten zwischen 60 und 90 Minuten und wurden mit teilweise zeitlicher Distanz voneinander sowie parallel zur Recherche im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) und der Abteilung Dokumentation im Kölner Sender durchgeführt. Mit Ausnahme der Gespräche mit Helmut Drück und Friedbert Meurer, die ich für das Interview jeweils zu Hause getroffen habe, fanden die Gespräche in den Funkhäusern in Köln bzw. in Berlin statt. Einige Fragen sind daher aus vorherigen Gesprächen entstanden oder beziehen sich auf Untersuchungsergebnisse und Tendenzen aus den Archivrecherchen. Die vorgegebene Fragestruktur hat somit bestimmte Aspekte beleuchtet, die mir interessant und wichtig erschienen, während andere ausgeblendet wurden – die Interviews sind daher auf das Erkenntnisinteresse des Gesamtprojektes hin zuge-spitzt. Insgesamt lag der Fokus der Befragung auf den Erfahrungen von Differenz in der „Kon-frontation“ mit dem „Anderen“ nach 1989.

Hinsichtlich der „Wiedervereinigung im Kleinen“ befanden sich alle MitarbeiterInnen der drei Sender ab 1989 einerseits in einem Schwellenzustand mit unklaren Zukunftsaussichten.

Andererseits stellte sich schnell heraus, dass sich für den westdeutschen Deutschlandfunk in

                                                                                                               

420 Siehe Anhang.

Bezug auf sein Programm und seine Strukturen – bis auf die geplante Fusion selbst – wenig bis nichts ändern würde. Bei den MitarbeiterInnen von RIAS und DS Kultur war das Bewusstsein für den Übergang ungleich stärker ausgeprägt, denn ab 1990 stand fest, dass die jeweiligen Sen-der nicht weiter bestehen würden. Ihr Alltag war von Unsicherheit geprägt, da nicht alle Mitar-beiterInnen von der neuen Körperschaft übernommen wurden. In der strukturellen Entwicklung der Vorgängersender hin zum Deutschlandradio entwickelten die Konflikte eine dynamisieren-de Kraft, zugleich zeigen sie die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen dynamisieren-den Sendynamisieren-dern und ihr unterschiedliches symbolisches Kapital nach der Wende. Daher frage ich, wie die Mitarbei-terInnen der Sender den Verhandlungs- und Fusionsprozess erlebten. Wie funktionierte die

„Wiedervereinigung im Kleinen“? Welche Konflikte gab es auf der persönlichen Ebene? Wie verhielten sich die Interviewees in der konkreten Begegnung vor Ort mit den neuen KollegInnen aus Ost und West? Wie kontextualisierten sie jeweils die oben eingeführten Deutungsmuster?

Welche Schlussfolgerungen können aus der Analyse der Interviews für die „Wiedervereinigung im Großen“ gezogen werden?

3. 2 Ankommen in der „neuen Zeit“ – Analyse der Interviews

Im Folgenden werden die einzelnen Interviews entsprechend der oben beschriebenen Deu-tungsmuster analysiert. Nicht bei jedem Interviewee kommen alle DeuDeu-tungsmuster vor, und bei einigen überschneiden sie sich in besonderem Maße. Daher orientiert sich das Kapitel nicht an einer themengebundenen Darstellung, wie sie in der Oral History oft bevorzugt wird, sondern es nimmt eine ethnographische Perspektive ein421: Die interviewten Personen kommen in den je spezifischen Kontext zu Wort, zugleich wird jedes Deutungsmuster aus der individuellen Sicht der Person aufgegriffen. Die Interviews dienen als Informationsquelle und werden zudem als symbolischer Text interpretiert.

3. 2. 1 Helmut Drück (RIAS)

Der promivierte Jurist Dr. Helmut Drück (*1932) ging 1965 zum WDR nach Köln, wo er zu-nächst Referent für Sonderaufgaben in der Intendanz und später Referent in der Fernsehdirekti-on war. VFernsehdirekti-on 1972 bis 1980 leitete er die WDR-Intendanz, bevor das Mitglied der FDP-Medienkommission Leiter der Hauptabteilung Sendeleitung und Zentrale Aufgaben Fernsehen wurde. 1988 wurde Drück stellvertretender Fernsehprogrammdirektor beim WDR und im Jahr darauf berief man ihn zum Intendanten von RIAS Berlin, am 1. Januar 1990 trat er sein neues

                                                                                                               

421 Vgl. Borne, Uncertain Vision.

Amt an. Mit der Gründung des Deutschlandradios schied er zum 31. Dezember 1993 aus dem Dienst.422

Ablauf der Fusion und Arbeitsplatzunsicherheit

Helmut Drück kam erst im Januar 1990 zum RIAS, zuvor war er Fernsehprogrammdirektor beim WDR. In der Erzählung Helmut Drücks ist die Zeit des Übergangs 1990-1994 geprägt von (rundfunk)politischen Zwängen, die seine Handlungsspielräume als Intendant eines etablierten Senders maßgeblich einschränken. In einer Mischung aus der Euphorie des Wandels bei zu-nehmender Arbeitsplatzunsicherheit und internen Friktionen kam es für Drück zu Dynamiken, die die Führung des RIAS nicht mehr zu kontrollieren vermochte.

Für den RIAS muss man sehen, dass alle drei Programme423, die betroffen waren, sich dann klar wurden,

Für den RIAS muss man sehen, dass alle drei Programme423, die betroffen waren, sich dann klar wurden,

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