• Keine Ergebnisse gefunden

Kuzmin als Prosaschriftsteller

Im Dokument Michail Kuzmin (Seite 179-182)

IV. Lebensbeschreibungen in Kuzmins ,stilisierter' Prosa

1.1. Kuzmin als Prosaschriftsteller

Steht die W iederentdeckung Kuzm ins als L yrike r noch in den literaturwissenschaft- liehen Anfängen, so hat sie fü r Kuzm in als Erzähler noch gar nicht begonnen. Dies kann nicht allein m it dem schlechten R uf, den der E rstling K ry l'ja seinem A utor ver- schaffte, erklärt werden, sondem ist in Verbindung m it der Stellung der erzählenden Prosa in der russischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu sehen. Der russi- sehe Symbolismus ebenso wie der Postsymbolismus drückte sich fast ausschließlich in der Versdichtung aus; die Prosa war sozusagen eine sekundäre Gattung, in der al- lenfalls theoretische Aufsätze geschrieben wurden. Eine sym bolistische Prosa ent- steht erst gegen Ende der symbolistischen Epoche m it den Romanen Sologubs, B iju - sovs und Belyjs, bei den Postsymbolisten setzt sich die erzählende Prosa als vo ll- wertige Alternative zur D ichtung erst zu Beginn der 20er Jahre durch.1

In Kuzmins W erk steht die Prosa von Anfang an gleichrangig neben seiner Vers- dichtung, in der Z eit von etwa 1912-1916 überwiegt sie sogar quantitativ. Daher mag Boris Êjchenbaums bekannter Ausspruch von 1920

Проза Кузмина еще не вошла в обиход - тем интереснее говорить о ней.2

zunächst überraschen, doch ist zu beachten, daß nur der geringere T e il der Prosa in Ausgaben und Zeitschriften erschien, die der 'hohen K u ltu r1 zuzurechnen sind. Der Großteil der Prosa erschien in zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen von minderer literarischer Bedeutung, die bis zur O ktoberrevolution in Petersburg bestanden. Von 1 Das wachsende Interesse an der Prosa zu Beginn der 20er Jahre dokumentieren Boris Êjchenbaums Prognosen einer baldigen Vormachtstellung der Prosa über die Poesie (vgl. etwa B. ÉJCHENBAUM:

0 literature. M. 1987, S. 500 und Kuzmins Repliken darauf in seinem Aufsatz "Pamasskie zarośli".

In: Zavtra 1. Berlin 1923, S. 115, 122) und der Zusammenschluß der "Serapionovy brat'ja", über die Kuzmin in seinem "Pis'mo iz Pekina" (in: Abraksas [2]. Pg. 1922, S. 58) schreibt. In dieser Zeit be- ginnen auch postsymbolistische Dichter, Prosa zu schreiben. So Osip Mandcl'štam, der 1922 seinen Artikel "Konec romana" veröffentlichte (O . Ma n d e l’St a m: Slovo i kul'lura. M . 1987, S. 285) ; Bo- ris Pasternaks erste "povest"' "Apellesova čerta" entstand bereits 1915, wurde aber erst 1918 veröf- fentlicht.

2 B.M. ÉJCHENBAUM: "O proze Kuzmina". In: De r s.: О literature. Rabotv raznvch let. M. 1987, S. 348.

169

Kuzm ins Prosa wurde durch die L ite ra tu rkritik aber nur das wahrgenommen, was in den 'großen' Zeitschriften herausgekommen und dann in den drei "Skorpion"-Bän- den versammelt war. Boris Pasternak etwa sah diese Bände überhaupt als Synonym zur Kuzminschen Prosa.3 Interessanterweise wurde auch Kuzmins neunbändige Werkausgabe, die 1914-1918 erschien und die neben sieben Bänden Prosa nur zwei Gedichtbände enthält, von denen der eine sogar bereits veröffentlicht war, kaum be- achtet. Für diese Ausgabe g ilt das gleiche wie fü r die Publikationsorte der meisten Erzählungen Kuzmins dieser Jahre: Der Verlag der Ausgabe, "Izdatel'stvo M .I.

Semenova", war der Hausverlag der Erfolgsschriftstellerin Elena Nagrodskaja m it einem äußerst gemischten Verlagsprogramm, das die Romane der Nagrodskaja, die Almanache Peterburgskie večera, englische und französische Romane fü r ein breites Lesepublikum, aber auch eine "B iblioteka filosofov-m aterialistov" und eine W erk- ausgabe Henri Bergsons umfaßte.4 M it dem oben dargelegten Umbruch in Kuzmins literarischer Biographie ist demnach auch sein wenigstens teilw eiser Rückzug aus der hohen Literatur festzustellen, den er in dem anonymen Aufsatz "Razdum'ja i ne- doumen'ja Petra Otšel'nika" erläuterte.5 Das Pseudonym "O tšel'nik" m arkiert in die- sem Sinne programmatisch eine Außenseiterposition. Im selben Jahr 1914 spricht Kuzm in von einem allgemeinen Auszug der Literaten "ins Publikum".6 Dies ist je - doch nicht nur als literatursoziologisches Faktum, das allerdings fü r die 10er Jahre in der russischen Literatur charakteristisch ist7, zu verstehen, sondem es rekurriert a u f Kuzmins prinzipielle Zw eifel an einer allgem eingültigen elitären K u ltu r, denen er schon vor seinem literarischen Debüt in einem B rie f an G eorgij Č ičerin Ausdruck verlieh:

Конечно, нельзя не видеть того, что есть движение мысли X IX в., что Данте, Вольтер и Ницше - этапы, что в России два направления, но нельзя не видеть, что в действительности это одна мильонная всего

170

3 So teilte Pasternak Kuzmin in der Widmung seiner Izbrannye stichi (M . 1926) mit, er habe dessen

"dreibändige Prosa" nochmals gelesen; zitiert bei N.A. BOGOMOLOV: "Pis'mo B. Pastemaka Ju. Jur- кипи", ln: Voprosy literatury 1981.7, S. 227.

4 Siche die Verlagsanzeigen in Petrogradskie večera. Kn. tret'ja. Pg. 1914.

5 "Razdum'ja i nedoumen'ja Petra OtSel'nika". In: Petrogradskie večera. Kn. tret'ja. Pg. 1914, S. 213-217.

6 M. Kuzmtn: "Kak ja čital doklad v «Brodjačej sobakę»", a.a.O.; siehe oben Kap. 1.3.2.

7 Die massenhafte Produktion von Erzählungen fur Zeitschriften und Zeitungen ist natürlich auch darin begründet, daß Kuzmin damit seinen Lebensunterhalt verdiente. Doch ist diese Erklärung nicht hinreichend, denn in den 20er Jahren, als er durch die Vollendung seiner fragmentarischen R0- mane seine schwierige finanzielle Situation hätte verbessern können, hört Kuzmin fast ganz auf, Prosa zu schreiben. Vgl. die Briefe an den Verleger Ja.N. Bloch, der beständig Prosa bei Kuzmin be- stellte, in meiner Publikation "«VerCus' как obodrannaja belka v kölese»...", a.a.0.

общества (т.к. к нему как и к X X в. принадлежит все живущее в дан•

ное время и опять скажу, что мнение наставницы с Охты равноправно и в равной мере Х Х ого века как и того же Ницше) и из этой мильон- ной не одна десятая ли искренна?8

Dieses Verhältnis zur großen K u ltu r kennzeichnet überhaupt Kuzmins Verhalten sein ganzes Leben hindurch. Auch als er im Zentrum des Petersburger Sym bolis- mus, in V jač. Ivanovs Bašnja, lebte, bezog er doch nur das H interzim m er dieser Zentrale der elitären Hochlcultur.9 Im A pollon, der die Nachfolge der sym bolisti- sehen Zeitschriften antrat, übernahm er die etwas abseits stehende R ubrik der Prosa.

In der eigenen kritischen Prosa, besonders der 20er Jahre, propagierte er die 'kleine' Kunst, das Singspiel, die Operette, das Puppentheater etc. Seine Prosa, angefangen m it dem Skandal der K ry l'ja , war von Anfang an das Genre, das bei der K ritik a u f größeren W iderstand stieß als die Versdichtung oder die D ram atik.10 Doch auch hier verstanden die symbolistischen Theoretiker manches im Sinne eigener V orstellun- gen, was bei Kuzm in bereits Vorbote postsymbolistischer Verfahren ist. Über die diametral verschiedenen Standpunkte von Ivanov und Kuzm in zum Thema der H o- mosexualität und die daraus folgenden unterschiedlichen Auffassungen von der Pro- sa siehe oben, Kap. 1.3.1.11 D ie Nichtbeachtung der Erzählungen und Romane der 10er Jahre erklärt sich w ohl zum T eil durch ihre äußerliche Ä hnlichkeit m it dem Boulevardroman, der zu dieser Zeit die Prosa beherrscht. Doch wenn auch Kuzm ins K ry l'ja und Nagrodskajas Gnev D ionisa aufgrund der gemeinsamen ,homosexuellen' Thematik in einem Atem zug genannt werden können, so ist doch die Poetik der Kuzminschen Prosa als Ganzes in den B lick zu nehmen und nicht nach thematischen Blöcken in symbolistische, historische und 'zeitgenössische' Erzählungen zu d ivid ie - ren. Kuzm ins Prosa der 10er Jahre setzt insgesamt durchaus die Entw icklung der frühen Periode fo rt, nur ist hier der literatursoziologische Kontext ein anderer: Wa- ren es damals Zolotoe runo, Vesy und A pollon, wo die Erzählungen erschienen, so sind es nun Lukom or'e, Ogonek, Argus.

8 Aus einem undatierten B rie f (nicht vor 1904), zitiert nach S. TCHIMICHKIAN: "Extraits de la corre- spondance...", a.a.0., S. 170.

9 Vgl. die Beschreibungen von Kuzmins Zimmern in der Bašnja bei G. Iv a n o v: Stichotvorenija..., a.a.0., S. 360-362 und An d r e j Be l y j: Načalo veka. M. 1990, S. 355-356.

10 Das Thema der musikalischen Werke Kuzmins muß hier weitgehend ausgeklammert bleiben.

Doch deuten auch die Bemerkungen V. Karatygins zu Kuzmins Aleksandryjskie pesni ("Večera so- vremennoj m uzyki". In: Vesy 1906.3-4, S. 72-73) die schockierende Wirkung dieser Stücke an.

11 Die Interpretation der Kuzminschen Tagebücher durch Bogomolov, die w ir ebda., Kap. 1.3.1, dis- kutieren, unterliegt m.E. derselben Annahme einer scheinbaren Homonymie.

Boris Éjchenbaum, der in seinem bereits zitierten Aufsatz von zwei Linien in Kuz- mins W erk ausgeht, stellt dennoch eine konsequente Entw icklung seiner "außeror- dentlich kom plizierten" Prosa fest:

Кузмин - не эпигон. Он ищет новых путей, творчество его поэтому развивается медленно, прихотливо, делает неожиданные скачки. Весе- лый и элегантный, он вдруг становится неряшливым и туманным. Од- нако он смел и в основе своей необыкновенно устойчив.12

Im Dokument Michail Kuzmin (Seite 179-182)