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5. Analyse und Thesengenerierung zur Alltagsintegration von sozialem Protest

5.1. Die Bereiche der Alltagsintegration

5.1.2. Kultureller Alltag

,,Kultur und Protest sind im Wendland nicht mehr zu trennen.“ Mit dieser Aussage fasst Kunstpädagoge Michael Seelig (20.06.2001)153 ein besonderes Phänomen des Wendlandes zusammen. Nicht zuletzt durch die Bohrlochbesetzung von 1980 kamen zahlreiche auswärtige Atomkraftge gner mit dem Landkreis Lüchow-Dannenberg in Kontakt. Viele von ihnen siedelten ins Wendland über, darunter zahlreiche Maler, Kunsthandwerker, Musiker und Fotografen. Ein großes Angebot an günstigen Bauernhöfen und niedrige Bodenpreise ermö glichten die Umsetzung des Wunsches nach alternativem Leben, der hä ufig mit der Atomkraftgegnerschaft einherging.154 Die Mischung aus alteingesessenen und neu zugezogenen Bevölkerungsgruppen prägt auch heute noch das Bild des Wendlandes.

Von Beginn an sicherten sich die Künstler mit ihrem Schaffen die Aufrechterhaltung ihres politischen Engagements. So schrieb eine Künstlerin: ,,Um durchzuhalten in der Politik brauche ich diesen Witz, die Lust am Nebensächlichen, einen Schwebezustand zwischen Politik und Kultur“ (GÖTZ 1988: 148). Diese Verzahnung von Kultur und Protest hat sich bis heute erhalten. So hieß es im Vorfeld des Transportes 2001 in einer EJZ-Anzeige mit namentlicher Nennung von 164 Kulturschaffenden:

,,Zu unserem Alltag gehört neben handwerklicher und künstlerischer Arbeit, neben der Organisation von Ausstellungen und Kulturveranstaltungen, auch der Protest gegen die Gorlebener Atomanlagen. Weil wir das Eine wie das Andere ernst nehmen, werden wir Ende März gegen den geplanten Castortransport nach Gorleben demonstrieren. Auf Straße und Schiene. Für uns und unsere Kinder.“155

Im Frühjahr 1990 wurde zum ersten Mal das Kulturprogramm ,,Wunderpunkte“ veranstaltet.

In dieser öffentlichen Demonstration der entstandenen Alltagskultur sahen ökologische und

153 Michael Seelig betreibt im Wendland ein Bildungs- und Kulturzentrum. Seelig wird von vielen als Experte der kulturellen Entwicklung im Wendland nach 1977 gesehen. Das Zitat entnehme ich einem Gespräch mit Seelig am 20.06.2001.

154 PETERS (19.06.2001).

155 EJZ, 2.03.2001.

christliche Initiativgruppen sowie Künstler und Handwerker eine ,,Quelle neuer Kraft“

(BEAULIEU 1992: 108). Zahlreiche kulturelle Veranstaltungen wurden durchgeführt, darunter Ausstellungen, Vorführungen und Workshops. Mit den ,,Wunderpunkten“ wurde ,,der Atomwirtschaft und der Wachstumsideologie durch ein positives Bild entgege ngetreten“

(GÖTZ 1988: 147). ,,Kunst und Lebensfreude wurde zum politischen Programm erhoben.“156 Mit dieser Instrumentalisierung von Kunst und Kultur wurden zwei Ziele gleichzeitig verfolgt: Zum einen die Aufrechterhaltung der eigenen Motivation durch eine gemeinsame Veranstaltung bereits aktiver Atomkraftgegner, zum anderen die Gewinnung von Sympathisanten. Bereits 1984 hatte HERTLE157 von Widerstandsgruppen kulturelles Engagement gefordert, um Bevölkerungsschichten, die sich nicht mit Inhalten des Widerstandes auseinandergesetzt hatten, anzusprechen. Da sich die Veranstaltung ,,Wunderpunkte“ ausdrücklich an die Öffentlichkeit wandte, wurde dieser Forderung Rechnung getragen. Seit 1990 wird die Veranstaltung jährlich durchgeführt. Seit 1995 trägt sie den Namen ,,Kulturelle Landpartie“ (KLP). Viele der Befragten nannten die KLP auf die Frage nach einem besonderen Zusammenhalt der Menschen im Wendland. Deshalb muss ihr ein besonderer Stellenwert beigemessen werden. Im Lauf der Zeit entwickelte sie sich zum kulturellen Großereignis der Region mit weit über 20.000 Besuchern, viele von Ihnen von außerhalb des Wendlands. Die KLP dient als kulturelles Forum für die Verbreitung des Protestgedankens. Das Veranstaltungsprogramm ist gleichzeitig politische Schrift: So lässt BI-Sprecher Mathias Edler im Ed itorial des Programms von 2001 die als unangemessen wahrgenommenen polizeilichen Maßnahmen während des Transportes vom März Revue passieren: ,,Im Kampf gegen Atomkraft ging es nie allein um radioaktiv strahlende Zerfallsprodukte, sondern immer gleichzeitig um den Zerfall von demokratischen Grundrechten“ (EDLER 2001b: 6)

Trotz der Größe der Veranstaltung (Innerhalb von zwei Wochen finden an 64 verschiedenen Orten des Landkreises über 100 Veranstaltungen statt) gibt es kein formales Organisationsgremium. Das soziale Netzwerk von Vertretern der BI, Künstlern und anderen Gruppen ist hierauf offensichtlich nicht angewiesen. So sagte KLP-Aussteller Johann-Reimer Schulz:

156 SEELIG (20.06.2001).

157 Im Rundbrief No. 13/1984 der Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion, ,,Kurve Wustrow.“

,,Ich weiß auch nicht genau, wie das funktioniert hier. Das weiß eigentlich keiner. Da macht mal der was, dann der, dann ruft einer an. Wir sind hier so eingespielt, dass das auch blind klappt.“158

Das Zitat zeigt, wie bei der Organisation von Veranstaltungen des kulturellen Alltags Erfahrungen gesammelt und Kontakte aufrecht gehalten werden, die in der Organisation von Protesten gegen die Castortransporte genutzt werden.

Bereits kurz nach der Ankündigung des ersten Castortransportes im Frühjahr 1994 entwickelte sich zudem eine außergewöhnliche Leserbrief- und Kleinanzeigenkultur in der lokalen Elbe-Jeetzel-Zeitung,159 die bis heute kultiviert wird: Neben einzelnen Widerstandsgruppen äußern sich auch unzählige Privat- und Geschäftsleute häufig in Kleinanzeigen zum Castor-Konflikt – Befürworter ebenso wie Gegner der Gorlebener Anlagen.160 Das öffentliche Bekenntnis einzelner Personen oder Gruppen mit vollständigen Namenslisten zu den Protesten wurde zur Tradition. Bemerkenswert ist eine Kampagne der BI: Für Anzeigen wurden Zitate großer Persönlichkeiten mit dem Castor in Verbindung gebracht:161 In Anzeigen hieß es beispielsweise: ,,`Das Volk, zerreißend seine Kette, zur Eigenhilfe schrecklich greift.´ Schiller über den Castor“162 oder ,,`Wo das Mark des Volkes nicht verdorben ist, stiften Aufruhr und Unruhen keinen Schaden.´ Machiavelli über den Castor.“163 In diesem Zusammenhang entwickelte sich auch eine spezifische Sprachkultur, in der mit verklausulierten Formulierungen noch heute zu illegalen Aktionen aufgerufen wird:

So wurde beispielsweise unter dem Titel ,,eine Nacht im Gleisbett“ die Durchführung von Schienenblockaden geprobt. An anderer Stelle wurde dazu aufgerufen, ,,Biotope auf der Bahnstrecke anzulegen“ oder es wurden ,,Camps für aktive Gäste“ angekündigt, von denen aus Trecker die ,,Belastbarkeit der Transportstrecke überprüfen“ sollten.164

Es kann unterstellt werden, dass die Herstellung einer engen Verbindung der in diesem Kapitel beschriebenen (Sprach-)Kultur mit dem Protest gegen die Gorlebener Anlagen unter den wendländischen Atomkraftgegnern zweierlei Gefühle stärkt: Zum einen das Gefühl einer

158 Das Zitat stammt aus einem informellen Gespräch mit Schulz am 22.06.2001.

159 BOECKER (2001) weist auf die Bedeutung der ,,Offenheit für beide Seiten“ der EJZ für den Castor-Widerstand hin.

160 Vgl. Anlage 4.

161 Vgl. EDLER (2001a: 43).

162 EJZ, 15.06.1994.

163 Der Spiegel No. 29/1994: 58.

164 BEZIRKSREGIERUNG LÜNEBURG (2001). Die Bezirksregierung zog die o.g. Aktionen am 10.03.2001 in einer Gefahrenprognose für den bevorstehenden Transport zur Begründung von Versammlungsverboten während der Transportzeit heran.

kreativen und kulturellen Überlegenheit gegenüber Atomkraftbefürwortern. Zum and eren das Gefühl, zu einer Gemeinschaft mit kulturell und moralisch hochwertigen Normen zu gehören, in deren Licht auch die Anwendung illegaler Praktiken gegen die Castortransporte als geboten und legitim erscheint.