• Keine Ergebnisse gefunden

1. Die Einheit von Himmel-Mensch-Erde als Ordnung der Welt und architektonische Ordnung

1.1. Kosmische Einheit als allgemeine Orientierung der Architektur

Die Lehre von der Einheit zwischen Himmel, Mensch und Erde ist die Wurzel des Konfuzianismus und Taoismus. Das Buch der Wandlung kodiert diese Dreifaltigkeit55 durch die drei Striche des Pa Gua: der obere Strich symbolisiert den Himmel; der untere Strich stellt die Erde dar; in der Mitte befindet sich der Mensch.

Die Einheit zwischen Mensch und Kosmos wird durch die Vorstellung begründet, dass das menschliche Herz einem Spiegel gleicht, welcher Himmel und Erde reflektiert.

Über Himmel und Erde an sich kann der Mensch nichts wissen.56 Auch der Spiegel selbst ist autonom gegen menschliche Eingriffe und Wahrnehmung.57 Was aber als Welt oder Universum bezeichnet wird, meint weder Herz noch Himmel oder Erde, sondern nur die Bilder im Spiegel als Zusammenspiel aller drei Komponenten.58 Das Einzige, was der Mensch tun kann und soll, ist, den Spiegel rein zu halten, damit die Bilder deutlich erscheinen.

Entsprechend der obigen Philosophie besteht die künstlerische Begabung des Architekten in der Fähigkeit, das Herz rein zu halten und seine Bilder in baulichen Formen auszudrücken. Bilder, die unmittelbar im Herzen entstehen, gelten als reiner und echter als die Wahrnehmungen der Sinnesorgane. Die höchste Kunst der Architektur basiert auf Intuition und Einsicht.59 Kinder oder „primitive" Menschen haben ein relativ reines Herz, deshalb ist ihre Kunst originell und kraftvoll.60 Das Herz eines normalen zivilisierten Erwachsenen wird dagegen bedeckt von Detailwissen und Sitten, von Bestrebungen und Zwängen. Selbst im Traum oder in neurotischen Zuständen wird die Intuition vom Bewußtsein unterdrückt.61 Viele glauben, intuitive Kunst zu machen, weil sie dabei gar nichts gedacht haben, dennoch bleiben sie nur die

55 Es gibt in der Tat große Ähnlichkeit zwischen der östlichen Lehre und der christlichen Terminologie.

56 Vgl. Forke, A. (1927), S.62

57 „Das Tao im Herzen ist hell wie das Tageslicht. Obwohl der Tag mal hell mal dunkel, mal bedeckt mal heiter ist, abertausend Formen der Erscheinung, doch die Helligkeit an sich ist nie mehr oder weniger.“ Wang Yang Ming, Yu Lu, zitiert nach Tran Trong Kim (1992), S. 595

58 „Man kann Himmel-Mensch-Erde nicht trennen, um den Ursprung der Dinge zu erforschen.“ Shao Kang Jie (1995), S. 68

59 Ähnliche Auffassungen haben im modernen Westen zum Surrealismus geführt.

60 Kinder und Urvölker haben deshalb bekanntermaßen moderne „Primitivisten“ begeistert.

29

Sklaven ihrer eigenen Vorurteile und ihres eigenen Bewußtseins. Die Verwendung von Rauschmitteln, um das Bewußtsein zu lähmen, mit der Hoffnung, in das Unterbewußtsein oder Unbewußte herabzutauchen, wird in der östlichen Philosophie als zwecklos erachtet, denn damit wird nichts anderes getan, als eine noch dickere Staubschicht auf dem ohnehin verstaubten Spiegel zu tragen. Der einzige Weg zur echten Kunst sei eine Kontrolle des Bewußtseins durch einen wachsamen und kritischen Geist. Alle Hauptrichtungen des östlichen Denkens bieten Wege an, um das eigene Herz zu reinigen.62

Die Einheit von Mensch, Himmel und Erde besagt, dass sich jeder Mensch schon bei kleinsten Tätigkeiten oder Unterlassungen im kosmischen Geist aufgehen lassen kann.63 Architektur hat kosmologischen Rang und erhebt einen idealen Anspruch auf Wahrheit, Güte und Schönheit.64 Bereits im Detail ist die praktische Seite der Architektur untrennbar mit ideologischem Inhalt verknüpft. Gung Sun Zhou fragte: „Die Wahrheit ist wohl hoch und schön, aber sie erscheint so unerreichbar, als ob man in den Himmel steigen müßte. Wäre es nicht besser, man ließe die Leute erst das, was sie fertig bringen können, tun und feuerte sie dann von Tag zu Tag an?“ Meng Zi erwidert: „Ein Handwerksmeister schafft nicht wegen eines ungeschickten Gesellen Lot und Richtlinie ab. Ein guter Schießmeister ändert nicht wegen eines ungeschickten Schützen die Regel des Bogenspannens.“65 Deshalb lehrte Lu Shang Shan die Schüler, dass es das Wichtigste in der Lehre sei, sich große und edle Ziele zu setzen.

Als einer der drei untrennbaren Schöpfer (Himmel-Mensch-Erde) hat der Mensch nicht nur eine kosmische Fähigkeit, sondern auch eine kosmopolitische Pflicht. Konfuzius sagt: „Der Mensch soll die Mängel des Himmels und der Erde ergänzen, reparieren, so daß überall Vollkommenheit herrscht...“66 Traditionelle östliche Architektur war bekannt für ihre harmonische Anpassung an die natürliche Landschaft.67 Diese

61 Vgl. Sigmund Freud.

62 „Die Bildung dient uns zu nichts anderem als nur dazu, unser verloren gegangenes Herz zu suchen.“ Wilhelm R.

(1982), S. 168

63 Shao Kang Jie (1995), S. 68

64 Die Lehre umfaßt alle Bereiche des Lebens und Universums. Wilhelm R. (1990b), IV, 15

65 Wilhelm R. (1982), S . 195

66 Phan Boi Chau, (1996), S. 214

67 vgl. Nguyen Cao Luyen (1994), S. 5ff. Boerschmann, E. (1923); Knapp, R. G. (1992); Doczi, G. (1987);

Lippmann, H. Ch. (1993); Lu Wang (1997); Pham, Duc Duong (1997), S. 44, Needham, J. (1956, 1959,1971);

Chuan Wen Sun (1982), S. 81ff. nachzulesen auch bei Siren, O. (1950); Pevsner, N. (1944)

30

Harmonie wurde oft mit dem passiven Erdaberglauben der Naturvölker erklärt.68 Sicherlich hatte diese Form von Erdverehrung in der östlichen Architektur eine Rolle gespielt,69 doch so naturhaft ist der Osten nicht mehr. Der Meinung, dass das Wesentliche an Feng Shui die Kunst der Wohnortwahl sei, muss widersprochen werden.

Wenn eine Lage nicht günstig ist, kann sie verbessert werden. Menschen können z. B.

Wasserflächen schaffen, Hügel und Erhebungen herstellen oder den Kurs der Flüsse umändern, so dass sie nutzbar werden.70 Gerade in der Verbesserung unvollkommener Lagen besteht die hohe Aufgabe des Feng Shui und der Architektur. Dabei darf der Mensch aber nicht vergessen, dass er ein endogener Faktor im System ist, weshalb er die direkten Folgen seiner Taten trägt. Er soll die Welt vervollkommnen und nicht zum eigenen Vorteil versklaven.71

Für den Konfuzianismus bedeutet die mittlere Position des Menschen in der Trinität, dass das Tao des Menschen der goldene Mittelweg ist.72

Die erste Konsequenz für die Architektur ist, dass sie eine Ausgeglichenheit auf allen Ebenen anstreben soll, nämlich zwischen Geist und Stoff, zwischen Kunst und Technik, Form und Inhalt, Innen und Außen, Ruhe und Bewegung usw.

Die zweite Konsequenz finden wir in folgendem Wort des Konfuzius: „The path is not far from man. When men try to pursue a course, which is far from the common indications of consciousness, this course cannot be considered THE PATH“73 Wahre Architektur ist für „normale Menschen“. Experten sollen dank ihres Wissens die Architektur jedem normalen Menschen näherbringen,74 anstatt exzentrische Sekten zu bilden und extravagante Bauwerke zu schaffen, die nur von Eingeweihten verstanden werden.75 Das Volk ist in der Lage, über das Wesentliche an der Architektur zu urteilen,

68Analoge Verehrungen der Mutter Erde trifft man bei vielen Naturvölkern der Welt. Mitchell, J. (1979), S. 10

69 Wang Yu De (1996b), S. 48ff.

70 vgl. Chu Quang Tru (1996), S. 98

71Derek, W. (1995), S. 33

72 Das ist die wesentlichste Lehre im Buch Zhong Yong des Konfuzianismus. Aber auch der Buddhismus und Taoismus entfernen sich nicht von diesem obersten Grundsatz.

73 Legge, J. (2000), S.364

74 Für Le Corbusier ist diese normale Menschlichkeit erreicht, wenn die Architektur von der Liebe durchdrungen ist.

(Feststellung 1929) Walter Benjamin schrieb im Passagenwerk, dass die Masse vom Kunstwerk etwas Wärmendes verlangt.

75 Dagegen wird die westliche Architektur oft als eine Sache der Elite verstanden: „Architektur ist nicht Befriedigung der Bedürfnisse der Mittelmäßigen, ist nicht Umgebung für kleinliches Glück der Massen. Architektur wird gemacht von denen, die auf der höchsten Stufe der Kultur und Zivilisation, an der Spitze der Entwicklung ihrer Epoche stehen.

Architektur ist eine Angelegenheit der Eliten.“ Hollein, H. (1975)

31

ohne selbst Architekt zu sein, wie jeder Mensch gut klingende Musik und wohlschmeckendes Essen genießen kann, ohne komponieren oder kochen zu können.76 Eine dritte Lehre lautet, dass die Architektur des „einfachen Volks“ wahre Architektur sei. Das Volk kann zwar die höchste Lehre nicht begründen und verstehen, es kann aber durch Glauben und Handeln auch wahre Architektur schaffen.77 Ethik, Sitte und Bräuche treten an die Stelle der Philosophie und erfüllen unausgesprochen dieselbe Funktion. Hinter normaler Folklore steckt das Außerordentliche. In den volkstümlichen Bauten, in diesen „versteinerten Büchern“, kann die Tradition abgelesen werden.78 Diese Häuser sind als Kristallisation der Jahrtausende originell in der Form, rational in puncto Funktion und überdies den Lebensgewohnheiten angepaßt.79

Für den Taoismus ist weniger die Stellung des Menschen in der Dreifaltigkeit wichtig als die Untrennbarkeit der drei Teile. Das Tao des Menschen ist demnach dasselbe wie das Tao der Erde und des Himmels, weshalb gilt: „dem Himmel entsprechend ist Tao, der Erde angepaßt ist Tugend, wie alles in der Natur Handelnde gerecht ist.“80 Diese Ideologie von Nachfolgen, Nachgeben, Anpassen etc. wird oft als eine Besonderheit des Ostens im Gegensatz zur Mentalität von Beherrschung und Überwältigung des Westens erklärt.81

Nachfolgen ist allerdings nicht gleich Imitieren. Die Macht des Menschen als einer der drei gleichberechtigten universalen Schöpfer besteht nicht im Kopieren der Natur, sondern im Verständnis ihrer Gesetzmäßigkeiten, um so eigene Schöpfungen hervorzubringen.82 Um diesen Ansatz deutlich zu machen, sei Konfuzius zitiert: „dem Himmel zuvorkommend, muß der Himmel nachgeben; dem Himmel nachfolgend, ist es auch eine himmlische Tat.“83

76 Wilhelm R. (1982), S. 164

77 Wilhelm R. (1990b), VIII, 9

78 Der Begriff stammt aus Victor Hugos Roman Notre-Dame.

79 Jedes einfache Haus ist ein Palast, wie Le Corbusier es zutreffend charakterisiert hat.

80 Wilhelm R. (1986b), Kapitel XII

81 Hannes Meyer formuliert dagegen seinen Entwurf des Völkerbundpalasts: „Dieses Gebäude sucht keinen künstlichen gartenkünstlerischen Anschluß an die Parklandschaft seiner Umgebung. Als erdachtes Menschenwerk steht es in berechtigtem Gegensatz zur Natur.„ vgl. Kruft, H.W. (1995), S. 446

82 Lovejoy, A.O. (1955). S. 124

83 Phan Boi Chau (1996)

32