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2. Yin und Yang und die Wesenseigenschaften östlicher Architektur

2.2. Weitere Anwendungen der Yin-Yang-Lehre in der fernöstlichen Architektur

2.2.1. Konstruktion und Dekoration, Inhalt und Form

Eines der seit Jahrhunderten immer wieder kontrovers diskutierten Themen der Architektur ist die Frage nach der Bedeutung von Konstruktion und Dekoration.357 Der Begriff „decor“ von Vitruv umfaßt sowohl konstruktive als auch dekorative Bereiche.358 Mit der Trennung von „Ornamentum“ als „erdichteter Schein“ und „äußere Zutat“

legte Alberti die Grundlage für spätere Verwirrungen.359 Klassizistische Schulen sehen allein in der Konstruktion den eigentlichen Sinn der Architektur. Nach Marc Antoine Laugier und Carlo Lodoli sind alle nicht konstruktiven Details überflüssig.360 Sie schlußfolgerten daraus, dass alles Konstruktive automatisch schön sei, und alles Nichtkonstruktive nicht schön sein könne.361 Diese Auffassung fand im 19. Jh. und Anfang des 20. Jh. große Akzeptanz.362 Schinkel verlangte eine Offenlegung der

353 Petzet, M. (1992)

354„Because locations are no more replicable than are history and culture, the singular buildings of prior eras could not, as artworks, be multiplied in the number, however faithfully copied.“ Davies, S. (1994), S. 47

355 Hartmann, G. (1981)

356 Switzer, S. Ichnographia Rustica, Zitiert nach Kruft, H.W. (1995), S. 295

357 Eine gute Schilderung des Auf und Ab in der Diskussion über Dekoration und Konstruktion liefert Gombrich, E.H. (1982) Kähler hat geschrieben, das, was ihm am meisten an der Debatte verwundert, sei, dass sie überhaupt stattfindet! Kähler, G. (1995) Vorwort

358 Vitruv (1996) 1. Buch, 3. Kap.

359 Alberti, L.B. (1991), S. 89

360 Bekaert, G. (1979); Kruft, H.W. (1995), S. 171

361 „Die Construktion allein, die Formen der Haupttheile, der Körper des ganzen Bauwerks führt schon zur architektonischen Schönheit und legt den Grund zu ihr.“ Stieglitz, zitiert nach Kruft, H.W. (1995), S. 333

362 Zurko, E.R. de (1957)

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Konstruktion und verurteilte jede dekorative Bedeckung als Lüge.363 Noch extremer sind Äußerungen wie die von Adolf Loos: „Decoration is a crime“364 oder von John Wellborn Root: „it is the greatest of architectural crimes to use a great column in a large building for any purpose than primarily to carry weight.“365

Dagegen wurde die dekorative Seite in den Schulen des Barock und Rokoko, der architecture parlante usw. besonders betont.366 Am Ende des 17. Jh. dominierte der äußere Schein so sehr, dass Architektur zur Bühnendekoration ausartete. Nach Piranese ist die sparsame Dosierung von dekorativen Elementen in der klassischen Architektur nur ein Zeichen der Phantasielosigkeit, während der Reichtum an dekorativen Formen und Farben den natürlichen Gesetzen entspreche.367

Die östliche Yin-Yang-Lehre vermied von jeher eine scharfe Trennung zwischen Inhalt und Form. Als Gi Dsi Tschong sagte: „Dem Edlen kommt es auf das Wesen an und sonst nichts. Was braucht er sich um die Form zu kümmern?“, erwiderte Dsi Gung:

„Die Form ist Wesen, das Wesen ist Form. Das von Haaren entblößte Fell eines Tigers und Leoparden ist wie das von Haaren entblößte Fell eines Hundes oder Schafs.“368 Ist der Inhalt gegeben, so ist die Form von selbst in Ordnung.369 Die Form gibt dem Inhalt aber den nötigen Halt, oder anders gesagt, sie macht den Inhalt überhaupt erst möglich.370 Konfuzius sagt, wer die Ritterausrüstung trägt, fühlt sich tapfer, wer die Trauerkleider trägt, fühlt sich ehrfürchtig.371 Die Stukkaturen waren einer der Hauptinhalte von Barock- oder Rokoko-Gebäuden. Proportion und Rhythmus in der Konstruktion bilden dagegen die äußere Form klassizistischer Bauten.

Der Inhalt im östlichen Sinne liegt allein im Herzen, nicht bei den Sachen. Die Architektur an sich ist - wie das Trauerkleid oder die Rüstung - die Form, sowohl in

363 „Von der Konstruktion des Bauwerkes muß alles Wesentliche sichtbar bleiben. Man schneidet sich die Gedankenreihe ab, sobald man wesentliche Theile der Konstruktion verdeckt; das überdeckende Mittel führt sogleich auf Lüge...“ Schinkel, zitiert nach Kruft, H.W. (1995), S. 342

364 Loos, A. (1995)

365 Kruft, H.W. (1995), S. 415

366 Eine ähnliche Meinung vertrat auch Wright, vgl. Wright, F.L. (1987), S. 67ff.

367 Kruft, H.W. (1995), S. 218ff.

368 Wilhelm, R. (1990), XII, 8, S. 123

369 Vgl. Wilhelm, R. (1986a)

370 Wilhelm, R. (1990), I, 12

371 Ebenda

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ihrer Konstruktion als auch in ihrer Dekoration. Nur hinsichtlich ihrer Wirkung auf das menschliche Gemüt bekommt sie ihren Inhalt. Ohne diesen Inhalt ist jede Kunst nur äußerer Schein und die Beschäftigung mit der Schönheit überhaupt oberflächlich.372 Echter Expressionismus drückt immer einen tiefsinnigen Inhalt aus. Alle große Stile in der Architekturgeschichte haben einen tieferen Inhalt, daher sind sie alle expressiv.373 Der echte Impressionismus ist dadurch gekennzeichnet, dass er mittels Formen an das Herz und den Verstand appelliert. Nun besteht die Aufgabe höherer Kunst gerade in diesem Appell. Daher ist jede große Kunst auch impressiv.

Die Hauptanforderung an die Form ist nach Konfuzius die Klarheit der Benennung.

Diese Cheng-Ming-Theorie oder Theorie des rechten Namens ist eine zentrale These konfuzianischer Ethik und Politik, denn: „Wenn der Name nicht recht ist, so kann man nicht richtig formulieren; wenn man sich aber nicht ausdrücken kann, dann scheitert jedes Vorhaben.“ 374

Für die Architektur bedeutet Cheng Ming v. a. Materialehrlichkeit. Im asiatischen Raum waren die Japaner besonders konsequent, wenn es um die Hervorhebung natürlicher Eigenschaften der Materialien ging. Im Westen ist diese Materialgerechtigkeit spätestens seit dem 19. Jh. auch verbreitet.375 Die Forderung von Violet Le Duc nach materieller Ehrlichkeit: „...que la pierre paraisse bien être de la pierre; le fer, du fer; le bois, du bois...“376, ähnelt erstaunlich dem Worte Konfuzius: „Fürst sei Fürst, Diener sei Diener, Vater sei Vater, Sohn sei Sohn.“377 Es gibt aber viele westliche Architekturtheoretiker, die eine andere Auffassung vertreten. Sir Ellis z. B. meinte, dass der Grundsatz „falscher Marmor ist ein Greuel“ ein Irrglaube ist. Er nennt dafür zwei Gründe: „Das Problem ist allein: Falsche Juwelen tendieren dazu, in nicht so guten Fassungen aufzutreten wie die echten.“ und „Natürlich wird er (der Architekt) in den meisten Fällen einen Schein von Marmor oder Bronze überhaupt nicht anstreben, sondern nur eine Anspielung auf sie, wobei er eine Art freier Darstellung sucht, die ihm

372 Mit einer ähnlichen Auffassung legte Fiedler die Fundamente für die Avantgarde in der westlichen Moderne.

Fiedler, K. (1914)

373 Worringer, W. (1994), S. 97f.

374 Wilhelm, R. (1990), XIII

375 Pevsner meinte, falsche Materialien seien unmoralisch, zitiert nach Watkin, D. (1980), S. 29

376 Violet Le Duc, Entretiens, zitiert nach Kruft, H.W. (1995), S. 325

377 Wilhelm, R. (1990), XII, 11

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eine gleichwertige Wirkung von Farbe und Oberfläche geben und die Assoziation des echten Materials in Erinnerung rufen wird. Diese spielerischen Verwendungen von Material können bezaubernd sein und sind eine legitime Erweiterung der Palette von Farben und Oberflächen.“378 Der erste Punkt entspricht dem, dass jemand trübes Wasser in Kristallgläsern als guten Wein verkauft. Der zweite Fall gleicht einem buddhistischen Mönch, der kein Fleisch essen darf. Darum kocht er Gemüse in Form von Hähnchenschenkeln, um auf das Fleisch anzuspielen.379 Im Sinne der Cheng-Ming-Lehre geht es bei der Architektur gerade um das Herz und nicht primär um den Marmor.

Die Ehrlichkeit des Materials ist nur ein Mittel, um das Herz rein zu halten. Ein guter Architekt zeichnet sich dadurch aus, dass er mit jedem ihm zur Verfügung gestellten Material umgehen kann.

Es ist damit allerdings nicht gesagt, dass jede Art von Verkleidung und Verputz der Oberfläche eine Fälschung sein muss. Ruskin beschreibt sehr zutreffend: „Es ist nichts dagegen einzuwenden, Ziegelsteine mit Tünche und die Tünche mit Fresken zu bedecken, und die Vergoldung minderwertiger Metalle ist zulässig, da der Gebrauch aus diesem Notbehelf eine Gewohnheit gemacht hat. Grundsätzlich soll man vermeiden, den Beschauer absichtlich zu täuschen, und was Täuschung ist, hängt von den Gewohnheiten ab.“ - Täuschung liegt nur in einem Fall vor: „Du verwendest etwas, das vorgibt, einen Wert zu haben, den es nicht hat, das vorgibt, einen Preis und eine Beschaffenheit zu haben, die es nicht besitzt.“ 380

Die heutigen vietnamesischen Architekten schrecken vor keiner Fälschung zurück. Ein Beispiel hierfür ist die im Jahre 1996 fertiggestellte Tempelanlage von Cu Chi:

Betonsäulen als falsche Holzsäulen; falsche Giebel, die keine Funktionen haben;

bemalte anstatt vergoldeter Ziegel; falsche Drachen aus Plastik usw.381 Was dadurch erreicht wird, ist ungewiß, doch was innerlich dabei verloren geht, liegt auf der Hand.

Eine verfälschte Architektur ist nur die Spitze des Eisbergs, aber sie symbolisiert und verherrlicht eine allgemeine Unkultur, und genau darin liegt die Gefahr. Meng Zi sagte:

378 Blomeyer, G.R., Tietze, B. (1980), S. 25

379 Diese Praxis ist keine Ausnahme, vergleiche nur die gegenwärtigen vietnamesischen Kochbücher, wo vegetarische Gerichte vorgestellt werden.

380 Zitiert nach Benevolo, L. (1994) Bd. 1, S. 222

381 Chu Quang Tru, Ngo Doan Duc (1996), S. 33ff.

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„wer einen Schritt krumm macht, um hundert Schritte gerade zu machen, der kann auch hundert Schritte krumm machen, um einen Schritt gerade zu machen.“382